Albert Serra hat mit der Kamera das Ritual des Stierkampfs festgehalten. «Tardes de soledad» ist aber weniger eine Dokumentation als eine filmische Beschwörung.
Ein schnaubender Bulle scharrt im Halbdunkel mit den Hufen. Die Muskeln seines schweren Körpers sind angespannt. Glänzender Speichel trieft aus seinem Maul. Er wirkt zugleich bedrohlich und verloren. Die Kamera ist ganz nah am Tier und schaut in dessen rot unterlaufene Augen.
Der Stier wird sterben, so viel ist klar, das ist Teil des Spektakels. Und doch könnte auch derjenige sterben, der ihm entgegentritt. Ein Schnitt zeigt ihn, es ist der Matador. Er sitzt in einem Auto und wird zur Arena gebracht. Das Duell steht bevor. In dieser Unsicherheit beginnt Albert Serras unzureichend als Stierkampf-Dokumentation bezeichneter Film «Tardes de soledad». Mehr als um eine Dokumentation handelt es sich um eine hypnotisch-sinnliche Beschwörung der archaischen, umstrittenen Faszination der «Corrida».
In langen Einstellungen folgt Serra dem Star-Torero Andrés Roca Rey in sechs verschiedene Kämpfe, was dem üblichen Ablauf einer Stierkampf-Austragung entspricht. Er zeigt ihn in herrlich schillernden Kostümen sowie in wilden Fratzen und exaltierten Posen angesichts der hilflos in die Muleta, seinen roten Umhang, laufenden Stiere.
Bewegungen, Farben, Gesichter
Gleich zweimal begeht der junge Mann einen Fehler und wird gefährlich zu Boden geworfen. Er bleibt unverletzt, so «wie alle Grossen», wie ihm sein Team in endlosen Huldigungen («Deine Hoden sind grösser als die Arena! Die Menschen lieben dich!») auf den Autofahrten vom Stadion zum Hotel versichert. Es gibt keinen Kommentar, keine Einordnung und auch keinen Versuch, dem Protagonisten psychologisch näherzukommen. Es gibt nur Bewegungen, Farben, Gesichter und ein schwer zu begreifendes Gemisch aus körperlichen Reaktionen, zu denen sich der Zuschauer in ein Verhältnis bringen muss.
Es ist schwer, die Bilder verblutender Stiere zu ertragen, aber Serra ist ein brillanter Verführer, der nie das zeigt, was man erwartet. Er findet stattdessen ein ästhetisch-sinnliches Potenzial genau dort, wo andere ein moralisches Unbehagen verspüren. Die Provokation ist kalkuliert. In Spanien ist der Stierkampf ein Politikum. Serra tritt indes den Beweis an, dass sich das Kino solchen Diskursen weitgehend entziehen kann.
Handelt es sich bei «Tardes de soledad» um blosses L’art pour l’art? Es ist ein schmaler Grat. Manchmal wünschte man sich mehr Haltung seitens des Filmemachers. Serra aber will erst sehen und dann urteilen. Das unterscheidet ihn vom Gros des zeitgenössischen Kinos. Bei ihm erstrahlt das Filmbild jenseits von Richtig und Falsch, jenseits von Gut und Böse.
Über mehrere Jahre und bei insgesamt vierzehn Kämpfen liess Serra unterschiedliche Kamerateams bei Stierkämpfen drehen. Ein ausgeklügeltes System aus Ansteckmikrofonen ermöglichte es, auch die Dialoge zwischen den Kämpfern mitzuverfolgen; die Reaktionen des Publikums werden dabei in den Hintergrund gedrängt.
Schule der Ambivalenz
Der Film fokussiert auf die titelgebende Einsamkeit zwischen Kämpfer und Stier, diesen Moment, der die Tauromachie ausmacht und den man mit dem dazugehörigen Pathos als das Angesicht des Todes bezeichnen könnte. Im Lauf des Films versteht man tatsächlich, was es bedeutet, dem Bullen tänzelnd den Rücken zuzukehren. Und selbst wenn man sich dagegen wehrt, kommt man nicht umhin, die Eleganz und den Mut dieser Praxis zu bewundern.
«Tardes de soledad» ist eine Schule der Ambivalenz. Man sieht die Lächerlichkeit und die Würde, das Grauen und die Schönheit. Manchmal schlittert der Film haarscharf an purem Ästhetizismus vorbei, etwa wenn die im Stierkörper steckenden Banderillas – Spiesse mit Widerhaken – in einer langen Nahaufnahme gefilmt werden. Meist aber schafft der originelle Schnitt auch kritische Distanz.
Serra verändert den Bildausschnitt, kombiniert unterschiedliche Kämpfe, trennt Ton und Bild. Er zeigt die körperliche Arbeit des Stierkämpfers, die Unwegsamkeit und die Absurditäten. Bis zu einem gewissen Grad raubt er dem Spektakel seine Erhabenheit. Vor allem die Nahaufnahmen der auf dem sandigen Arenaboden dahinsiechenden Tiere haben es in sich. Sie zeigen die Unsauberkeit des stets Perfektion suggerierenden Rituals.
Wahrheit der Illusion
Trotzdem fördert der Film nach und nach auch ein Verständnis für die spirituelle Ebene des Stierkampfes. In einer längeren Sequenz zeigt Serra, wie Rey in einem Hotelzimmer mit dem charakteristischen «Traje de luces» («Lichteranzug») angekleidet wird. Seide und glänzende Perlen werden angelegt, alles hauteng, so dass keine Falten den Eindruck von Vollkommenheit stören. Das Geschlecht zeichnet sich unter der weissen Unterhose ab. Ein Helfer hebt Rey an, zieht an den Hosen und am Jackett.
Das erotisch aufgeladene Fetischbild verrät viel über Serras ästhetischen Zugang, es wird erstaunlicherweise zugleich aber auch den analogen Mechanismen des Stierkampfs und des Kinos gerecht: Beide lieben die Illusion und bezeichnen sie als Wahrheit. Selten lag alles Widersprüchliche so nah beieinander wie in diesem Film. Aber diese Nähe leuchtet einem ein in «Tardes de soledad».
Der Film ist ab Donnerstag in einzelnen Kinos in Zürich und Bern zu sehen.