«The Handmaid’s Tale», Atwoods berühmteste und auch sehr erfolgreich verfilmte Dystopie, landete in der Provinz Alberta auf einer Verbotsliste für Schulen. Die Autorin kontert nun mit einer sarkastischen Kurzgeschichte.
Während einer Lesung vor einigen Jahren erzählte die 85-jährige kanadische Autorin Margaret Atwood eine Anekdote aus längst vergangenen Zeiten. Als sie in Harvard englische Literatur- und Sprachwissenschaften studierte, waren die Bücher zur modernen Dichtung in der Lamont-Bibliothek untergebracht – ein Raum, zu dem Frauen damals keinen Zutritt hatten.
Atwood weiss also, wie es sich anfühlt, wenn man in der eigenen Bildungsinstitution nicht auf alle Bücher zugreifen kann, die man braucht. Als nun in der kanadischen Provinz Alberta ein Bücherbann beschlossen wurde, machte sie das wütend. Und als die Provinzhauptstadt Edmonton pflichtbewusst die Liste der etwa zweihundert verbotenen Bücher publizierte, riss bei Atwood der Geduldsfaden: Neben George Orwells «1984» oder Aldous Huxleys «Brave New World» steht auch «The Handmaid’s Tale» auf der Liste.
«Sorry Kids»
Statt die Faust im Sack zu machen, drückte Atwood ihr Befremden in einer bösen Kurzgeschichte aus. «Sorry Kids», schrieb sie über die auf Twitter publizierte Geschichte, «eure Bildungsministerin hält euch für dumme Babys». Aus diesem Grund liefere sie nun ein literarisches Werk, das für Schulen in Alberta geeignet sei.
Es ist die Geschichte von John und Mary, zwei «sehr, sehr braven Kindern», die nie in der Nase bohrten und keine Pickel bekamen. John und Mary heiraten und bekommen fünf Kinder – natürlich, «ohne jemals Sex zu haben». Denn genau das, «explizit sexueller Inhalt», ist das Kriterium, das Bücher auf die schwarze Liste bringt. Davor sollen Schülerinnen und Schüler vom Kindergartenalter bis in die zwölfte Stufe bewahrt werden, also bis zum Abschlussjahr der Highschool, wenn die meisten siebzehn oder achtzehn Jahre alt sind.
Here’s a piece of literature by me, suitable for seventeen-year-olds in Alberta schools, unlike — we are told — The Handmaid’s Tale. (Sorry, kids; your Minister of Education thinks you are stupid babies.)
John and Mary were both very, very good children. They never picked…
— Margaret E Atwood (@MargaretAtwood) August 31, 2025
Nach Atwoods Tweet äusserte sich Danielle Smith, amtierende Premierministerin von Alberta, und sagte, Edmonton sei zu weit gegangen: Einen kanadischen Klassiker wie «The Handmaid’s Tale» wolle man natürlich nicht verbieten. Tatsächlich entspricht der Roman allerdings exakt den beanstandeten Kriterien: Er entwirft eine postamerikanische, religiöse Gesellschaft, die Frauen zwecks Kinderzeugung systematisch vergewaltigt und versklavt. Von Sex zu reden, ist bei einer Vergewaltigung falsch. Aber der erzwungene Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau wird von Atwood explizit beschrieben.
Eigentlich geht es wohl nicht um Sex
Welche Bücher sie mit dem Verbot tatsächlich meine, habe die Regierung laut mehreren kanadischen Medien mit den von ihr genannten Beispielen ziemlich klargemacht: Es habe sich dabei ausschliesslich um Bücher gehandelt, die Themen wie Homo- oder Transsexualität behandeln. Einvernehmlicher Sex in diesem Kontext scheint laut Smith problematischer als eine Vergewaltigung.
Atwoods Geschichte geht noch weiter. John und Mary leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage, das nie kommt, denn «wer möchte sich schon mit Tod und Leichen und so beschäftigen»? Während John und Mary gemeinsam eine lustlose Ewigkeit leben, «wurde ‹The Handmaid’s Tale› Wirklichkeit und Danielle Smith fand sich mit einem schönen neuen blauen Kleid, aber ohne Arbeit wieder. Ende.» Mit dem blauen Kleid spielt Atwood auf die Frauen der einflussreichen Männer in ihrer Dystopie an, die einst selbst Karrieren, Einfluss, ja sogar Macht besassen, bevor sie durch die neue Ordnung alles verloren und zu Haushälterinnen degradiert wurden.
Als Atwood damals bei der Lesung gefragt wurde, wie sie so ruhig von ihrer Zeit in Oxford und dem Frauenverbot an der Bibliothek erzählen könne, antwortete die Autorin: «Weil ich alt bin.» Alt genug für Gelassenheit – aber nie zu alt, um die liberalen Freiheitsrechte zu verteidigen.