Am Samstagabend fand in Moskau der Intervision Song Contest statt. Eine russische Trotzreaktion auf den Ausschluss vom Eurovision Song Contest. Und ein Abend, an dem Russland beinahe ein Coup gelungen wäre.
Am Samstag gab es westlich von Moskau eine Art Déjà-vu. Sängerinnen und Sänger aus 22 verschiedenen Nationen traten in einer grossen, glitzernden Show auf – opulente Bühnendekors und aufwendige Kostüme inklusive.
Klingt nach dem Eurovision Song Contest (ESC), wie er im Frühjahr in Basel stattfand? Tatsächlich handelt es sich aber um den Intervision Song Contest (ISC), den es bereits zu Sowjetzeiten als Alternative zum ESC gegeben hatte. Im Februar hat Putin ihn per Dekret wiederbelebt. Ein Wettbewerb wie eine russische Trotzreaktion auf die Tatsache, dass Russland seit seinem Angriff auf die Ukraine 2022 vom ESC ausgeschlossen ist.
Als Sieg bezeichnete es Russlands Teilnehmer Shaman, dass so viele Künstler aus Katar, Saudiarabien oder China nach Moskau gekommen seien. Spannender als diejenigen, die auftraten, war allerdings der eine, ganz besonders gross angekündigte Act, der an diesem Abend fehlte.
Was hat er mit Michael Jackson zu tun?
Am 11. Juni verkündete die russische Nachrichtenagentur Tass: «Tatsächlich – die Vereinigten Staaten haben ihre Teilnahme an der Intervision bestätigt.» Im August folgte mit viel Medienecho die Bekanntgabe des amerikanischen Teilnehmers: Brandon Howard.
In den USA dagegen blieb es still. Dort ist es bereits zehn Jahre her, dass es der zwischen Chicago und Los Angeles aufgewachsene Brandon Howard (44) in die Schlagzeilen schaffte. Und zwar mit einem Gerücht, das in den vergangenen Wochen auch in Russland wieder kräftig angeheizt wurde: Howard soll Michael Jacksons Sohn sein.
Er gleicht dem jungen Michael Jackson tatsächlich. Vielleicht nichts aufs Haar, aber doch immerhin auf die Frisur, die Howard minuziös beim «King of Pop» abgeschaut hat. In zahlreichen Bildern und Videoclips ist ausserdem zu sehen, wie der Sänger und Musikproduzent die Ähnlichkeit mit entsprechender Kleidung, dem Tragen einer Sonnenbrille zu fast jeder Gelegenheit und typischen Jackson-Tanzbewegungen unterstreicht.
2015 wollte es Alki David, der Inhaber der Plattform Film On, dann genau wissen. Er behauptete an einer eigens dafür einberufenen Pressekonferenz, er habe Howards DNA mit jener eines vermutlich Jackson gehörenden Zahns verglichen, der bei einer Auktion versteigert worden war. Das Ergebnis: 99,9 Prozent Übereinstimmung.
Die Aufregung war gross und wuchs nur noch, als bekanntwurde, dass das Dokument gefälscht war. Howard selbst schwieg lange vornehm und erklärte nur einmal in einem auf Facebook veröffentlichten Video: «Ich habe nie gesagt, dass ich Michael Jacksons Sohn bin.» Es stimme zwar, dass er einen DNA-Test habe machen lassen, «aber der hatte nichts mit alldem zu tun».
Das goldene Ticket für Moskau
Wer sich Howards Internetauftritt anschaut, sieht einen Musiker, der sich Mühe gibt, im Gespräch zu bleiben. Da sind viele Posts von kleineren Veranstaltungen, viele Markierungen von nicht allzu bekannten Kollegen. Noch immer viele Bilder und Clips auch, in denen Howard das Jacksonhafte an sich selbst unterstreicht.
Richtig gross allerdings haben ihn die Gerüchte von damals nicht gemacht. Auf Spotify hat Howard monatlich etwa 150 Hörer. Als er im Sommer als Gast an der Street Parade in Zürich war, bekam sein Post dazu auf Instagram 118 Likes. Vielleicht hat die Einladung aus Moskau darum für einen Augenblick ausgesehen wie ein goldenes Ticket fürs Scheinwerferlicht.
Am Ende schien Howard die Sache dann aber doch zu heiss zu sein. Mit einer Videobotschaft meldete er sich am 17. September «aus unvorhergesehenen familiären Gründen» kurzfristig vom Wettbewerb ab.
Ersatz und Ausfall in letzter Minute
Ersetzt wurde Howard durch die australische Sängerin Vassy, mit bürgerlichem Namen Vasiliki Karagiorgos. Die Musikerin mit griechischen Wurzeln und einem erst wenige Jahre alten amerikanischen Pass arbeitete in der Vergangenheit unter anderem mit David Guetta und ist Botschafterin für die NOH8-Kampagne, die sich für LGBTQ+-Rechte und mehr Gleichberechtigung einsetzt.
Die Informationen zur NOH8-Kampagne allerdings verschwanden von Vassys Wikipedia-Seite, als ihre Teilnahme als Kandidatin für die USA am russischen Musikwettbewerb bekanntwurde. Sie passten wohl zu wenig zu dem von Aussenminister Lawrow genannten «alternativen Ansatz zur Bewahrung von Traditionen, nationaler Kultur und religiösen, spirituellen und moralischen Werten» und seiner Aussage, es werde beim ISC «keine Perversionen und Verhöhnungen der menschlichen Natur» geben.
Mitten in der Show, nur Augenblicke vor dem amerikanischen Auftritt, verkündeten die Intervision-Moderatoren dann aber: Vassy ist nicht da. Es wird keinen Auftritt von Amerika in Moskau geben. Grund dafür sei der «beispiellose politische Druck der australischen Regierung».
Die Nachrichtenagentur AP hat vergeblich versucht, mit der australischen Regierung und der Künstlerin zu sprechen. Auch in den sozialen Netzwerken hat Vassy bisher nicht Stellung bezogen. Einzig die Information zu ihrem Engagement für eine faire Behandlung aller Geschlechter und Lebensentwürfe ist auf Wikipedia wieder aufgetaucht.
«Putin ist ein guter Gangster»
Die Organisatoren von Intervision schrieben, man bedauere, dass die Künstlerin nicht habe auftreten können, betonten jedoch, «dass die Vereinigten Staaten weiterhin vollwertiger Teilnehmer von Intervision sind und in der internationalen Jury durch den legendären Sänger von Deep Purple vertreten sein werden».
Tatsächlich: Laut verschiedenen Medien sass der amerikanische Rockmusiker Joe Lynn Turner am Samstagabend im Jurysessel. 1990 sang er für Deep Purple das Album «Slaves and Masters» ein und ging mit der Band auf Tour, wurde danach allerdings durch seinen Vorgänger Ian Gillan ersetzt.
Erst gut zwei Jahrzehnte später bekam Turner erneut etwas mehr mediale Aufmerksamkeit: 2015 unterstützte er bei einer Pressekonferenz auf der Krim Russland – mit Putin-Pin am Revers. In diesem Juli doppelte Turner in einem russischen Podcast nach: Putin möge «ein Gangster sein, aber er ist ein guter Gangster». Amerika dagegen habe «seinen Weg verloren. Wir haben Gott verloren.»
Turner, der mit der weissrussischen Anwältin Maja Kosyrewa verheiratet ist, scheint mittlerweile auch in Russland zu leben. Im Podcast antwortet er auf die Frage, ob er sich in Russland noch immer wie ein Ausländer vorkomme: «Ich fühle mich sehr zu Hause.»
Die Sache mit den USA
So offiziell, wie die amerikanische Teilnahme in Russland vermarktet wurde, war sie also ziemlich sicher nicht. Im Regelwerk des Intervision Song Contest steht denn auch, dass die Teilnahme eines Landes nicht zwingend durch dessen nationale Rundfunkanstalt oder gar die Regierung organisiert oder bestätigt werden müsse. Stattdessen dürfen auch juristische Personen, Organisationen aller Art und Privatpersonen eine offizielle Delegation aufstellen und für ihr Land antreten. Ein kleiner Coup wäre ein amerikanischer Auftritt in Moskau dennoch gewesen.
Zum Sieger in Moskau wurde schliesslich der Vietnamese Duc Phuc (28) mit seinem Titel «Phu Dong, der himmlische König». Auf Platz zwei und drei folgten Kirgistan und Katar. Russland hatte sich als Gastgeberland aus dem Rennen genommen. Im kommenden Jahr soll der Intervision Song Contest in Saudiarabien stattfinden. Nicht in der Heimat des Siegers also, sondern dort, wo mehr Geld vorhanden ist.