Sein Fall sorgte international für Schlagzeilen: 2017 bezichtigte ein ehemaliger Schüler den bekannten Pädagogen der sexuellen Übergriffe. Nun legt Jegge seine Sicht der Dinge dar.
Schon im ersten Absatz stellt Jegge klar, dass er nichts beschönigen möchte: «In wesentlichen Teilen stimmen die Vorwürfe», schreibt er in einem Text, den er im Internet veröffentlicht hat. «Für Leid, das durch mein Verhalten entstanden ist, möchte ich ganz herzlich um Entschuldigung bitten.»
Vor acht Jahren veröffentlichte Markus Zangger, ein ehemaliger Schüler Jegges, das Buch «Jürg Jegges dunkle Seite. Die Übergriffe des Musterpädagogen». Der Fall beschäftigte die Öffentlichkeit wochenlang. Hunderte Zeitungsartikel setzten sich mit dem Fall auseinander, im Fernsehen gab es Diskussionssendungen, die Reformpädagogik, als deren Vorreiter Jegge in der Schweiz galt, wurde generell unter Verdacht gestellt.
Jegge gab kurz darauf mehreren Zeitungen Interviews, alle an einem einzigen Tag. Seither blieb er still. Er zog sich zurück und schrieb ein Buch, in dem er den Fall aus seiner Sicht aufarbeitete. Das habe geholfen, «mit meinen Gedanken und Gefühlen irgendwie klarzukommen», schreibt er. Trotz intensiver Suche fand er keinen Verlag, der das Manuskript «Öffentliches Erregnis» publizieren wollte.
Dies erstaunt wenig. Sex mit Kindern und Jugendlichen gehört heute zu den wenigen Themen, bei denen sich Anhänger aller politischen Lager und Ideologien einig sind: Es gilt als das Verabscheuungswürdigste überhaupt. Da gibt es keine Grautöne, kein Abwägen, keine mildernden Umstände. Selbst Mörder haben in unserer Gesellschaft ein höheres Ansehen als Kinderschänder.
Jegge hat das Buch nun online gestellt, zur freien Verfügung. Es ist nicht nur eine Selbstbetrachtung eines Pädagogen, der sich durch sein Verhalten zur öffentlichen Unperson gemacht hat, sondern auch eine Gesellschafts- und Medienanalyse. Die naheliegendste Kritik nimmt er zu Beginn gleich selber auf. «Da will sich doch bloss einer rechtfertigen», schreibt er. «Ja, ganz genau. In entwickelten Gesellschaften ist Rechtfertigung ein Recht.»
Durch alle Maschen gefallen
In den 1970er Jahren war Jegge ein umtriebiger Sonderschullehrer, der sich jenen Jugendlichen widmete, die in der regulären Schule durch alle Maschen gefallen waren. Sein Engagement ging weit über das Berufliche hinaus. Die vernachlässigten Kinder waren sein Leben, er kümmerte sich auch in der Freizeit um sie, half ihnen finanziell, wenn sie in Not waren – aus eigener Tasche. Bei acht Jugendlichen war die Nähe nicht nur aufs Emotionale beschränkt, sie wurde auch körperlich.
Mit Markus Zangger, dem Autor von «Jürg Jegges dunkle Seite», begann das sexuelle Verhältnis in der Oberstufe und hielt, bis Zangger 27 war, also weit über die Ausbildung hinaus. Danach seien sie freundschaftlich verbunden geblieben. «Wenn wir uns im Auto begegneten, winkten wir uns gegenseitig zu. Wenn wir uns im Dorf zufällig trafen, blieben wir stehen und plauderten», heisst es im Buch.
Irgendwann habe sich das geändert, Zangger habe nicht mehr gegrüsst und bei Begegnungen den Kopf weggedreht. Im Juli 2015 erhielt Jegge einen Brief eines Juristen, der sich als Anwalt Zanggers und eines anderen ehemaligen Schülers vorstellte. Seine Mandanten verlangten ein nachträgliches Honorar von je 20 000 Franken, da Jegge 1976 einen Text von ihnen in seinem Bestseller «Dummheit ist lernbar» abgedruckt habe, hiess es darin. Zudem hätten sie als Opfer jahrelanger sexueller Übergriffe Anspruch auf eine Genugtuung von je 30 000 Franken. «Ich bitte Sie um Überweisung mit beiliegendem Einzahlungsschein auf mein Klientenkonto innert 30 Tagen», schrieb der Anwalt.
Sowohl die Buchveröffentlichung als auch die sexuellen Kontakte, die in diesem Anwaltsbrief zum ersten Mal überhaupt zur Sprache gebracht wurden, lagen fast vierzig Jahre zurück. Die Fälle waren längst verjährt, für die Veröffentlichung der Schülertexte in seinem Buch hatte Jegge zudem die Einwilligung der Autoren eingeholt. Juristisch hatte er nichts zu befürchten, die Geldforderung wies er nach Rücksprache mit einer Anwältin zurück.
Dann kam der Moment, der Jegges Leben veränderte. «Dienstag, 4. April 2017, gegen halb zehn Uhr. Das Telefon. ‹Guten Tag Herr Jegge, hier ist Hugo Stamm. Ich habe gemeinsam mit Markus Zangger ein Buch über dessen Leben geschrieben, darin kommen Sie prominent vor. In einer halben Stunde wird es an einer Pressekonferenz im Zürcher Volkshaus vorgestellt›», heisst es im Buch.
Zerstörte Lebensleistung
Jegge beschreibt ausführlich das Mediengewitter, das auf ihn herabprasselte. Und die vielen Fehler, die Journalisten in ihrem Eifer verbreiteten und sich dann gegenseitig abschrieben.
Dass er fortan als Kinderschänder galt, der kaum mehr auf die Strasse konnte, dass sich enge Freunde von ihm abwandten, scheint für ihn nicht einmal das Schlimmste gewesen zu sein. Im Buch tönt es, als nehme er dies stoisch auf sich – als Konsequenz für Handlungen, die er heute als Fehler betrachtet. Was ihn viel mehr zu stören scheint: dass seine Lebensleistung, sein Einsatz für benachteiligte Kinder, die Gründung der Stiftung Märtplatz im Zürcher Unterland, wo Jugendliche mit sozialen Schwierigkeiten eine Berufsausbildung machen konnten, plötzlich nichts mehr wert war.
Für Fachleute und Journalisten war der einst vielgelobte pädagogische Ansatz Jegges plötzlich nur noch Lug und Trug: Es sei nur darum gegangen, wehrlose Jugendliche in ein Abhängigkeitsverhältnis zu versetzen, um sie dann ausnützen zu können. Mehrmals verweist Jegge im Buch auf die für damalige Verhältnisse hohe Erfolgsquote des Märtplatzes: Viele Jugendliche, denen niemand eine Zukunft gegeben habe, hätten nachher erfolgreich einen Beruf ergriffen und seien auf eigenen Beinen gestanden.
Fast schon belustigt zeigt sich Jegge über jene Erziehungswissenschafter, die die Empörung zum Anlass nahmen, in einem Buch unter dem Titel «Ist Dummheit lernbar?» Jegges Pädagogik zu dekonstruieren. Die PH-Dozentin Petra Moser analysiert darin zum Beispiel die Bilder in Jegges Buch «Die Krümmung der Gurke» (2006), das mit Fotos von Gurken illustriert war. Sie sieht darin «implizite Botschaften der von Jegge verschwiegenen bzw. ausgesparten Wunschbilder als Pädophiler». Bei der Interpretation zeigte sie viel Phantasie: «Nimmt man allerdings hinzu, dass der obere Teil der Gurke keine Noppen aufweist, liegt die Assoziation der Eichel eines noch kindlichen Geschlechtsteils zumindest nahe.» Was sie wohl nicht wusste: Die Fotos stammten von Lehrlingen, die im Märtplatz eine Fotografen-Ausbildung absolvierten – Jegge hatte ihnen für die Bebilderung des Buchs freie Hand gelassen.
Linke Intellektuelle postulierten Sex mit Kindern
Eine Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft, in der zahlreiche ehemalige Schüler befragt wurden, konnte Jegge keine Übergriffe in den zurückliegenden dreissig Jahren nachweisen, deshalb kam es zu keiner Anklage. Die Zeit, in der der Pädagoge körperlichen Kontakt mit Schülern hatte und dies gar als Teil einer «Therapie» betrachtete, beschränkte sich auf die 1970er und 1980er Jahre. Er sei davon schon lange abgekommen, schreibt er. «Die Idee, dass es möglich sei, mit Kindern ‹auf Augenhöhe› zu verkehren, halte ich heute für völlig falsch. (. . .) Auch wenn diese Idee damals von vielen Eltern, Lehrern und sonstigen Erzieherinnen ebenfalls geteilt wurde, die sich als fortschrittlich verstanden.»
Jegge stellt seine Taten in Zusammenhang mit dem damaligen Zeitgeist, der sexuellen Befreiung im Zuge der 68er-Bewegung, als es darum ging, die rigiden Moralvorstellungen niederzureissen. Damals war das Konkubinat mancherorts noch immer verboten, Homosexuelle mussten sich verstecken. In links-akademischen Kreisen gab es eine gar nicht so kleine Gruppe, die auch Sex mit Kindern «enttabuisieren» wollte. In Frankreich unterschrieben 1977 Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre, Jacques Derrida, Roland Barthes, Michel Foucault und Simone de Beauvoir eine Petition gegen ein Gesetz, das Sex mit Kindern unter 15 Jahren strafbar machte. In linken Zeitungen erschienen Plädoyers für die Pädophilie. Noch 1990 forderte in der Schweiz eine Expertenkommission, das Schutzalter bei 10 oder 12 Jahren festzusetzen – es reiche, den Schutz vor sexuellen Handlungen auf noch nicht geschlechtsreife Kinder zu beschränken.
Jegge zitiert auch aus der Dissertation des inzwischen pensionierten Strafrechtsprofessors Martin Killias zum Thema «Jugend und Strafrecht» aus dem Jahr 1978. Darin heisst es: «[Es] weisen verschiedene Untersuchungen darauf hin, dass Kinder zumindest bei gewaltlosen und nicht inzestuösen sexuellen Erfahrungen keine oder wenigstens keine langfristigen psychischen Schäden erleiden.» Schädlich für die Kinder seien in erster Linie die Dramatisierung und die Befragung in Strafverfahren. Killias listet zahlreiche Studien auf, die dies aufzeigen sollen. Sein Fazit: «Trotz diesen relativ eindeutigen Forschungsergebnissen hält die Öffentlichkeit hartnäckig am Glauben an die Schädlichkeit ‹verfrühter› sexueller Erfahrungen fest.»
Jegge schreibt, dass «es keineswegs nur ein paar Verwirrte waren, die so dachten» – und dass sich die Studienlage bis heute nicht massgeblich verändert habe. Die starke Betonung dieses Umstands weist darauf hin, dass er trotz allen Entschuldigungen wohl nicht davon ausgeht, grossen Schaden angerichtet zu haben. Im Buch ist auch ein Brief von einem der betroffenen acht Schüler abgedruckt, der die Übergriffe Jegges relativiert, mit Zangger hart ins Gericht geht und den Pädagogen, dem er viel zu verdanken habe, in Schutz nimmt.
Ein Ausdruck von Lustfeindlichkeit?
In einem längeren Kapitel befasst sich Jegge mit der gesellschaftlichen Veränderung ab Mitte der 1990er Jahre. Nach einer Zeit der Offenheit und des Aufbruchs habe eine konservative, ja prüde Gegenbewegung eingesetzt. Grund dafür seien der zunehmende ökonomische Druck und das Wettbewerbsdenken, das zu Konformismus führe. Hierzu zitiert er den Philosophen Robert Pfaller: «Objekte und Praktiken wie Alkohol trinken, Rauchen, Fleisch essen, schwarzer Humor, Sexualität, die bis dahin glamourös, elegant und grossartig lustvoll erschienen, werden seither plötzlich als eklig, gefährlich oder politisch fragwürdig wahrgenommen.» Oder den Psychiater und Sozialwissenschafter Volkmar Sigusch: «Ganz offensichtlich wird Sexualität heute nicht mehr als die grosse Metapher der Lust und des Glücks überschätzt und positiv mystifiziert, sondern negativ als Quelle und Tatort von Unfreiheit, Ungleichheit und Aggression diskursiviert.» Die Analyse ist durchaus interessant, im Zusammenhang mit seinem Fall aber auch irritierend – suggeriert doch der Autor damit, dass weniger seine Taten das Problem sind als der Zeitgeist, der sich gewandelt hat.
Jegge erklärt aber auch, wie er die schwierigen Monate durchgestanden hat, als er als Unhold der Nation am Pranger stand, unzählige Drohungen erhielt und durch die vielen Medienberichte überall erkannt wurde. Vier Punkte seien entscheidend gewesen, dass er nicht zerbrochen sei: Dass einige Menschen in seinem Umfeld ohne Wenn und Aber zu ihm standen. Dass er einen Rückzugsort ausserhalb der Schweiz hatte. Dass er dieses Buch schreiben konnte. Und: «Zu meinem Glück habe ich mich selber nie wirklich gehasst, trotz all meinen Fehlern.»
Jürg Jegges Buch «Öffentliches Erregnis» ist abrufbar unter www.forvm.contextxxi.org.