Formate wie «Mord auf Ex» oder «Mordlust» erreichen Millionen von Hörern. Grausame Verbrechen mit wahrem Hintergrund faszinieren. Doch es kommt auch Kritik von Opferschutzorganisationen.
Zwei Freundinnen sitzen in einem WG-Zimmer, auf dem Tisch eine offene Flasche Wein, davor ein Mikrofon. Sie erzählen wahre Kriminalfälle, diskutieren Wendungen und streifen beiläufig Alltagsthemen. Humoristische Einschübe fehlen nicht. Am Ende bleibt das Gespräch weitgehend unbearbeitet, wird mit dezent eingesetzter Musik unterlegt und auf Spotify veröffentlicht.
Jeden Montag warten Tausende auf den Upload. Sie freuen sich, wenn das Intro erklingt, und rätseln, welches reale Verbrechen Leonie Bartsch und Linn Schütze diesmal in «Mord auf Ex» erzählen.
Die Spannweite der behandelten Fälle ist gross. Sie umfasst heutige Verbrechen wie den Mord an dem CEO Brian Thompson von United Healthcare durch Luigi Mangione in New York oder historische Ereignisse wie die Ermordung von Julius Cäsar. Besonders oft stehen Serienmörder im Zentrum, in Folgen wie «Der Hillside Strangler: Panik in Los Angeles» oder «Die Pettingills: Mord ist Familiensache».
«Mord auf Ex» ist exemplarisch für ein neueres Medienphänomen: True-Crime-Podcasts, die persönliche Gespräche mit kriminalistischen Erzählungen verbinden. Sie entstehen häufig ausserhalb traditioneller Medienhäuser.
Die Zielgruppe ist jung und weiblich
Seven One Audio veröffentlichte 2022 eine Studie mit 4000 Teilnehmern zu True-Crime-Podcasts. Über 90 Prozent der Hörer sind laut der Umfrage weiblich, mehr als die Hälfte der Befragten zwischen 20 und 29 Jahre alt. Doch warum fasziniert das Genre gerade junge Frauen?
Christine Lötscher, Populärkultur-Forscherin an der Universität Zürich, erklärt: «Frauen interessieren sich, wenn sie weiblich sozialisiert wurden, für Psychologie und für gesellschaftliche Strukturen. Die Podcasts bieten ihnen einen Raum, sich mit den Abgründen der Menschen zu beschäftigen.»
Weil die Podcasts nach Social-Media-Logik erzählen, ziehen sie vor allem ein junges Publikum an.
Die Faszination des Bösen
Im Mittelpunkt der True-Crime-Podcasts stehen oft erschütternde Verbrechen: Mord, schwere Gewalttaten, Missbrauch. Dennoch oder gerade darum sind die Podcasts so populär. Christine Lötscher sagt: «Mord stellt eine radikale Störung der gesellschaftlichen Ordnung dar. Die Faszination solcher Taten erwächst aus der Auseinandersetzung damit, was einen Menschen antreibt, eine derartige Grenze zu überschreiten.»
Für die Literaturwissenschafterin liegt der Kern des Interesses an wahren Verbrechen indes woanders: «Menschen mögen Geschichten, bei denen sie mitfiebern können. True-Crime-Podcasts erlauben es, einen Fall mitzudenken, psychologische Dynamiken zu durchdringen und eigene Theorien zu entwickeln. Das Genre ist partizipativ.»
Zwischen schwarzem Humor und Alltagsdramen
Im Unterschied zu klassischen Kriminaldokumentationen lockern die neueren Podcasts schwere Themen mit Humor auf. In der «Mord auf Ex»-Episode «Das perfekte Verbrechen» geht es zum Beispiel um den kaltblütigen Mord an einem Jungen. Eine filmische Adaption des Falls erzählt die Handlung nach, tauscht aber das Opfer aus. Ermordet wird eine Frau. Leonie Bartsch kommentiert ironisch: «Dann ist alles in Ordnung. Wir sind es ja gewohnt, dass Frauen getötet werden.»
Typisch für die Podcasts sind neben Humor auch Plaudereien. Bei «Mord auf Ex» etwa erzählen die Moderatorinnen auch von Reiseabenteuern, kulinarischen Experimenten und den kleinen Dramen ihres WG-Alltags. Über die Jahre zeichnet sich dabei sogar eine Liebesgeschichte ab: Eine der Moderatorinnen hat sich mit dem Mitbewohner der anderen liiert.
Die Hinterlassenen sind ahnungslos
So beliebt das Genre ist: Es gibt auch Kritik. Vor allem der Weisse Ring, eine deutsche Opferschutzorganisation, bemängelt, dass die Formate die Perspektiven der Opfer und ihrer Angehörigen zu wenig berücksichtigten.
In der Kritik geht es auch um Hinterbliebene der Opfer. Die meisten True-Crime-Formate nehmen laut dem Weissen Ring keinen Kontakt zu Betroffenen auf. Angehörige werden oft überrascht, wenn über Fälle berichtet wird, manchmal Jahre oder Jahrzehnte nachdem ein Verbrechen passiert ist.
Die Podcaster wählen besonders gerne ältere Fälle, weil sie sich bei der Recherche meist auf Sekundärquellen stützen. Also Zeitungsartikel, Bücher oder Interviews. Dadurch wird die Arbeit der Podcaster einfacher, da Informationen schon grosszügig verfügbar sind.
In seltenen Fällen kann es aber auch anders sein: Angehörige, Opfer oder gar Verurteilte wenden sich selbst an die True-Crime-Podcaster. Sie wollen Aufmerksamkeit für ihren Fall erzeugen. So geschah es zum Beispiel im «Mord auf Ex»-Spin-off «Die Nachbarn», bei dem ein Doppelmord in der deutschen Kleinstadt Babenhausen auf Anstoss des Verurteilten und seiner Familie nochmals neu beleuchtet wird.
Der Versuch, erträglich über Verbrechen zu sprechen
Die True-Crime-Formate bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Information und Unterhaltung. Die Produzenten wissen um das Spannungsfeld. So erinnert der populäre Podcast «Mordlust» bereits im Intro daran, dass es in den Episoden um reale Verbrechen und die Schicksale echter Menschen geht.
Der Einsatz von Humor wird im Format als «comic relief» bezeichnet, eine Ausdrucksform, die es ermöglichen soll, besonders schwierige Themen besser zu ertragen.
Die Opferperspektive im Zentrum
Christine Lötscher betont in Bezug auf die Diskussion um die Legitimität von True-Crime-Podcasts, dass diese vor allem die Sicht der Betroffenen in den Fokus rücken sollten. «Es ist zentral, dass sich die Podcast-Macher überlegen, wie viel Raum den Opfern und den Tätern gegeben wird. Die Ethik liegt in der Erzählweise.»
Dass Formate explizit auf den «comic relief» hinweisen und Humor einbeziehen, wertet Lötscher positiv. Es zeige, dass sich die Podcaster der heiklen Balance bewusst seien, die das Erzählen über Verbrechen erfordert. «Wir leben in einer Welt voller Widersprüche. Auch das Erzählen über brutale Verbrechen kann Reiz besitzen. Es muss aber eine klare Grenze gezogen werden: Verantwortungsvolle Formate schützen Opfer, ohne Täter zu glorifizieren.»
Die Grenzen setzen in den Podcasts nicht nur die Produzenten. Die neuen True-Crime-Formate leben auch von Social Media: Zuhörer kommentieren, kritisieren, liefern Ideen und werden so zu Mitautoren der Erzählung.
Die auf den ersten Blick banal wirkenden Podcasts verwandeln sich dadurch in Plattformen, auf denen gesellschaftliche Normen verhandelt werden: Wie geht eine Gesellschaft mit Tätern um, wie mit Opfern? Es entsteht ein Nachdenken über Recht und Gesetz. Gerade in Bereichen wie der Cyberkriminalität, wo sich Verbrechen schneller entwickeln, als der Gesetzgeber reagieren kann, werden die Gedanken und Inputs junger Communitys besonders wertvoll.

									 
					





