Der Regisseur Tobias Kratzer will in Hamburg die Oper neu erfinden.
Der Meistbeschäftigte seiner Zunft: Opernregisseur Tobias Kratzer.
Matthias Baus
Er spielt immer noch gern mit dem «grossen Baukasten». So nennt er sein Metier, mit einem saftigen Schuss Selbstironie. Tobias Kratzer, fünfundvierzig, wurde soeben zum wiederholten Male zum «Opernregisseur des Jahres» gekürt. Er ist der Angesagteste, der Meistbeschäftigte seiner Zunft, spätestens seit er 2019 in Bayreuth debütierte mit einer «Tannhäuser»-Lesart, die aus dem Stand zum Kult wurde.
Kratzer ist und bleibt aber trotz alledem ewiger Nachwuchs. Was daran liegt, dass man in den darstellenden Künsten, insbesondere auf den Chefetagen der Regisseure, Choreografen und Dirigenten, sehr gut zu altern pflegt. Man geht hier noch als Wunderkind durch, wenn man die Hälfte des Lebens schon hinter sich hat.
Einen «fabelhaften Opern-Boy» nennt ihn denn auch die in Hamburg weltberühmte «Schellfischposten»-Muse und Sängerin Ina Müller, als sie Tobias Kratzer am Wochenende auf die Bühne bittet zum «Housewarming Concert» der Hamburgischen Staatsoper. Es ist dies der festliche Auftakt zur Saisoneröffnung. Ein spektakuläres Konzert, wie ein Kessel Buntes! Mit, unter anderem, einem sprechenden Pferd, dem meisterhaft kunstpfeifenden Bauchredner und Puppenspieler Nikolaus Habjan, der phantastisch bluesstarken britischen Dragqueen Le Gateau Chocolat und allerhand lustigen Kalauern.
Oper kommt in dieser dröhnenden Kurzweiligkeit kaum vor. Dafür wird viel über Oper geredet und davon, wie man diese als elitär verrufene, vierhundert Jahre alte Gattung neu erfinden, fetzig öffnen und verjüngen könne, damit endlich wieder die Auslastung steige. Am Ende komme es, sagt Ina Müller, darauf an, dass die Musik sie ins Sonnengeflecht treffe.
Schlafen und Weinen
Tobias Kratzer, der neue Intendant, in seiner ersten Festanstellung, hat dazu ein ehrgeiziges Programm entworfen. Er will das Rad an der Hamburgischen Staatsoper noch einmal ganz neu erfinden. Mit ihm gemeinsam tritt der beinahe gleichaltrige israelische Dirigent Omer Meir Wellber sein Amt als Generalmusikdirektor an. Er kommt von der Volksoper Wien. Die Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg hatten zuvor noch nie mit ihm gearbeitet.
Wellber dirigierte und spielte zum «Housewarming» Akkordeon und Keyboard. Er brachte das Publikum dazu, zwei berühmte Takte aus Mozarts «Figaro» mitzusingen. Überhaupt erwies er sich als ein fabelhaft Talkshow-reifer Zeitgenosse. Schon in ihren PR-Auftritten, die sich in den letzten Monaten häuften, hatten Wellber und Kratzer einander wechselseitig dröhnend auf die Schultern geklopft, mit einem so aberwitzig entwaffnenden Selbstbewusstsein, dass man sie am liebsten vor ihren eigenen Erfolgsprognosen in Schutz nehmen wollte.
Auf das Konzert folgte anderntags als Eröffnungspremiere eine echte Spielplan-Rarität. Kratzer inszenierte, ausnahmsweise mit dem eher kleinen Baukasten: auf kahler, grauer, weithin leerer Bühne, aufgemöbelt nur durch Videos, sparsames Lichtdesign und das Durchbrechen der sogenannten vierten Wand. Eine Kamera auf der Bühne filmte ins Publikum. Einzelne Aufnahmen von verstreut dort untergebrachten Statisten wurden in Grossaufnahme auf die Bühne projiziert: eine Frau, die unter Protest den Ausgang suchte, ein Herr im Tiefschlaf sowie ein älterer Herr, dem die Tränen liefen.
Es soll auch im Publikum sitzende Animateure und Claqueure gegeben haben, die später den Schlussapplaus ankurbelten. Warum auch nicht? Das ist schliesslich ein uraltes Opernritual, ebenso wie das Schlafen oder Weinen.
Schade nur, dass es dafür keinen echten Grund gab. Im Orchestergraben wurde an diesem Premierenabend auf Sicherheit schnurgerade durchdirigiert. Wellmer liess die Bläser nicht blühen, er liess die Streicher nicht singen. Es fehlte an Farben, Swing und dynamisch differenziertem Furor. Die Chöre indes tönten machtvoll.
Busse und Reue
Robert Schumanns Spätwerk «Das Paradies und die Peri» ist ein wunderliches Machwerk mit starken Verdichtungen. Letztmals war das Stück konzertant im November letzten Jahres am Theater an der Wien gezeigt worden, wie man überhaupt szenische Aufführungen dazu immer noch mit der Lupe suchen muss. Es handelt sich um eine Erlösungsparabel, in der es um Busse und Reue geht, ähnlich wie im wenig später uraufgeführten «Tannhäuser» Richard Wagners.
Vera-Lotte Boecker und Ivan Borodulin in Robert Schumanns Spätwerk «Das Paradies und die Peri».
Monika Rittershaus
Nur dass Letzteres ein sprühend ehrgeiziges Frühwerk ist, das mit der Operntradition kokettiert. Schumann dagegen wollte keine Oper komponieren, vielmehr, wie er im Mai 1843 an den Freund Kossmaly schrieb «. . . beynahe ein neues Genre für den Concertsaal». Ein Experiment also, teils Chorsymphonie, teils Liederfolge, teils Oratorium. Ein Tenor-Evangelist (lyrisch leuchtend: Kai Kluge) übernimmt die Gelenkstücke des Narrativs. Ein Wächter des Paradieses (mit schöner Durchschlagskraft: der Countertenor Ivan Borodulin) erläutert die Gesetze des Himmels. Aus dem Vokalquartett, das die Sache kommentiert, ragt die Altstimme von Annika Schlicht farbenreich wollüstig hervor.
Für die Haupt- und Titelrolle indes ist eine koloraturfähige Primadonna gefragt, was Vera-Lotte Boecker zart und schön sowie mit bewundernswürdiger Bühnenpräsenz erfüllte. Sie steht als besagte orientalische Peri im Mittelpunkt: ein gefallener Engel, der in den Himmel zurückfinden will und dafür auf der Erde nur noch den richtigen Schlüssel finden muss.
Dass die drei Schlüssel, die sie ausprobiert (Blut, Seufzer, Träne), in dieser Inszenierung als Metaphern stehen für drei Probleme, mit denen sich die Menschheit derzeit gerade herumschlägt, war dem Programmbuch zu entnehmen: Krieg, Pandemie und Klimakrise. Szenisch teilte sich das mit in nur halbwegs geglückten Bildern. Dass spielende Kinder, eingesperrt in einen Käfig, von eindringendem Gas getötet werden, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Regieunfall.
Wie entspannt, wie klug und witzig Tobias Kratzer mit dem Genre Oper umgehen kann, das zeigte er später in seiner Neuinszenierung der Kinderoper «Die Gänsemagd» der Komponistin Iris ter Schiphorst. Alle Kinder sangen mit, als gackernde Gänse. Das sprechende Pferd spielte auch tot noch eine Hauptrolle. Herrliche Schreck- und Glückssekunden spielten sich ab, in malerisch rauschendem Ambiente, im kleinen Haus. Die Erwachsenen, nebenan im grossen Haus, hatten sich dagegen tags zuvor zum Affen machen lassen. Man hatte sich einfach zu viel vorgenommen.

									 
					





