Japanische Unternehmen sind aktionärsfreundlicher geworden. Doch Investoren, welche die Börse in Tokio hochjubeln, blenden Risiken aus. Die Gefahr, dass es zu einer scharfen Korrektur kommt, wächst.
Es ist ein erstaunlicher Gesinnungswandel. Bis vor kurzem wollten Investoren kaum mehr etwas von Japan wissen. Das Land galt mit seiner alternden Bevölkerung als verkrustet, als nicht mehr zeitgemäss, abgehängt von technologischen Trends, die ihren Ursprung zunehmend im Silicon Valley oder in chinesischen Küstenmetropolen haben.
Der englische Begriff «value trap» machte die Runde. Er lässt sich nicht einfach ins Deutsche übersetzen, meint aber sinngemäss: Achtung, Japan stellt Anlegern eine Falle und lässt sie bloss Geld verlieren.
Ergraute Häupter und kaum Frauen
In ihrer Meinung wurden die Skeptiker durch archaisch anmutende Praktiken in der Unternehmensführung bestärkt: scheinbar überall ergraute Häupter in den Managements und Verwaltungsräten, kaum Frauen und schon gar keine Ausländer. Und statt überschüssiges Geld in neue Geschäfte zu investieren oder es Aktionären als Dividenden zukommen zu lassen, parkierten es viele japanische Firmen lieber bei Banken, wo sie dafür nicht einmal Zins bekamen.
Doch auf einmal schwärmen Anlageprofis von Japan. Für viel Aufsehen sorgte der letztjährige Besuch des legendären amerikanischen Investors Warren Buffett in Tokio. Trotz seinem hohen Alter von 92 liess er es sich nicht nehmen, im April die Spitzen der führenden japanischen Handelshäuser zu treffen. Buffett hatte bei diesen Unternehmen zuvor namhafte Positionen aufzubauen begonnen.
Im Windschatten von Blackrock und Buffett
Mit Larry Fink hat Japan unter Investoren einen weiteren prominenten Fürsprecher gefunden. Der Chef des weltgrössten Vermögensverwalters Blackrock weilte im vergangenen Oktober in Tokio. Dabei erklärte er enthusiastisch, Japan durchlaufe eine Reihe von ausserordentlichen wirtschaftlichen Veränderungen, die ihn zuversichtlich stimmten.
Anleger sind als Herdentiere bekannt. Bauen Schwergewichte wie Blackrock oder Buffett in einem Markt Positionen auf, ermuntert dies zahlreiche Investoren, es ihnen gleichzutun. So erstaunt es nicht, dass inzwischen auch zahlreiche Schweizer Vermögensverwalter des Lobes voll sind über Japan. Auch deutsche Investmentfonds sind auffallend oft von japanischen Anlagen angetan.
Wie stark die Begeisterung für Japan geworden ist, lässt sich am Nikkei 225 ablesen. Das Börsenbarometer ist allein seit Anfang dieses Jahres um fast 11 Prozent gestiegen. Am Freitag überstieg der Index zeitweise die Marke von 37 000 Punkten. Im vergangenen Jahr hatte er fast 30 Prozent zugelegt.
Die Hausse hat ein derartiges Ausmass angenommen, dass ein Ereignis in Griffweite rückt, das Anleger zuvor jahrzehntelang für nicht mehr möglich gehalten hatten: Der Nikkei könnte ein neues Allzeithoch erreichen.
Erinnerungen an «Bubble Economy» werden wach
Der bisherige Rekordstand liegt bei fast 39 000 Punkten und datiert von Ende 1989. Der japanische Aktienmarkt erklomm damals innerhalb von wenigen Jahren immer neue Höhen, wobei sich die Notierungen der Dividendenpapiere weitgehend im Gleichschritt mit den japanischen Landpreisen bewegten. In Japan bildete sich eine Spekulationsblase – die berühmt-berüchtigte «Bubble Economy».
Doch ab 1990 war es mit der Herrlichkeit vorbei. Als Erstes platzte die Blase am Aktienmarkt. Bereits im August 1990 war der Nikkei auf die Hälfte seines Allzeithochs abgestürzt, und es folgte nicht nur für die Börse, sondern für grosse Teile der Wirtschaft des Landes eine lange Durststrecke. Die Neunzigerjahre, die von starken Korrekturen auch am Immobilienmarkt, Firmenpleiten und einer lähmenden Deflation geprägt waren, werden nicht ohne Grund als «verlorenes Jahrzehnt Japans» bezeichnet.
Nach diesem Schreckenserlebnis sagten sich viele Investoren verständlicherweise: «Nie mehr japanische Aktien.» Zwar setzte der Nikkei temporär immer wieder zu einer Aufwärtsbewegung an, und unverdrossene Anleger sagten sich, nun sei das Schlimmste vorüber. Doch im Grunde steckte der Markt bis Anfang dieses Jahrzehnts in einer dreissigjährigen Seitwärtsbewegung.
Leistungsfähige Chipindustrie
Zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 wurde wie fast alle Aktienmärkte auch der japanische kurzzeitig nochmals nach unten gerissen. Doch die Erholung, die seither den Markt begleitet hat, ist spektakulär: Der Nikkei hat sich in knapp vier Jahren mehr als verdoppelt.
Wie kann es sein, dass japanische Aktien auf einmal derart gefragt sind? Wie immer sind ausgefuchste Anlageprofis mit Erklärungen schnell zur Stelle. So heisst es, Japan sei doch schon lange ein Land findiger Ingenieure und Techniker, die sich besonders auf die Herstellung von Elektronikprodukten verstehen würden. Und wenn sich die westliche Welt zunehmend von China abwende oder gar mit einem Krieg in Taiwan zu rechnen sei, könnten japanische Chipfabriken in die Bresche springen.
Gerne führen Marktbeobachter, welche die Hausse weiter zu befeuern versuchen, auch ins Feld, Japan habe bei der Unternehmensführung Fortschritte erzielt. Das Bild der sklerotischen Japan AG stimme je länger, desto weniger.
Erfreulicherweise haben manche japanische Firmen tatsächlich ihre allzu konservative Bilanzpolitik zu überdenken begonnen. Statt Liquidität zu horten, schütten sie ihren Anteilseignern nun verstärkt Dividenden aus oder kaufen Aktien zurück. In den Managements sind vermehrt jüngere Kräfte aufgetaucht.
Aktivistische Investoren machen Druck
Seit einigen Jahren versuchen zudem aktivistische Investoren und Private-Equity-Fonds, in Japan ihren Einfluss zu mehren. Solche Aktionäre sind in Firmenleitungen unbeliebt, weil sie unbequeme Forderungen stellen. Doch für die japanische Unternehmenswelt, die notwendige Veränderungen lange Zeit verschleppt hat, sind sie ein Segen.
Dennoch liegt am japanischen Aktienmarkt noch immer manches im Argen. Bedenklich ist, dass trotz allen Kursgewinnen rund die Hälfte aller kotierten Unternehmen weiterhin unter Buchwert gehandelt werden. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Markt ihnen nicht zutraut, einen Mehrwert für die Aktionäre zu erwirtschaften.
Ein wichtiges Korrektiv in jedem Markt sind kritische Beobachter. Doch anders als vor allem in den USA gibt es in Japan vergleichsweise wenige Analysten, die im Auftrag von Banken und Investmenthäusern die Kapitalallokation, die Strategie oder den Führungsstil von kotierten Firmen öffentlichkeitswirksam hinterfragen. Generell mangelt es an Spezialisten, die den japanischen Markt detailliert kennen. Fondsmanager, die Aktien aus Japan jahrelang ignorierten, müssen Teams mit der entsprechenden Expertise nun erst aufbauen.
Der SMI und der DAX sind günstiger als der Nikkei
All das birgt das Risiko, dass Japan oberflächlich betrachtet wird und Unzulänglichkeiten bei Firmen zu spät oder gar nicht auf dem Radar von Investoren auftauchen. Zugleich sollten Anleger wegen der Euphorie, die dem japanischen Aktienmarkt zunehmend entgegengebracht wird, eher kritischer werden.
Ein Warnsignal ist, dass der Markt anders als noch vor zwei, drei Jahren nicht mehr als günstig eingestuft werden kann. Eine gute Messgrösse dafür ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis, das die Unternehmensgewinne ins Verhältnis zur Marktbewertung setzt. Es erreicht laut der Datenbank Bloomberg beim Nikkei inzwischen stolze 30, während es für den SMI 14, für den DAX 13 und für den amerikanischen Leitindex S&P 500 22 beträgt.
Je dünner die Luft am japanischen Aktienmarkt wird, desto stärker sollten Investoren Risiken berücksichtigen. Nicht zu unterschätzen sind die Gefahren, die vor allem für die vielen Exportfirmen des Landes wie Toyota, Honda oder Sony von den Wechselkursen ausgehen. Kritische Stimmen, die der Hausse in Tokio nicht trauen, erklären schon länger, der japanische Aktienmarkt habe in erster Linie von der Schwäche des Yen profitiert. Sollte es in nächster Zeit in die andere Richtung gehen und sich der Yen vor allem gegenüber dem Dollar aufwerten, würde das wohl Kursverluste auf breiter Front auslösen.
Strukturelle Herausforderungen
Vor allem Investoren mit einer längerfristigen Optik dürfen aber auch die strukturellen Herausforderungen Japans nicht ausser acht lassen. Ein grosses Problem ist der Bevölkerungsschwund. Weil Jahr für Jahr mehr Japaner sterben als geboren werden und Zuwanderer nicht gern gesehen werden, verliert das Land mittlerweile nicht nur über eine halbe Millionen Konsumenten pro Jahr. Es fehlen ihm zunehmend auch helle Köpfe in den Zwanzigern oder Dreissigern. Ingenieure, Informatikerinnen, Chemiker oder Physiker sind in diesem Alter am produktivsten.
Der Erfindungsreichtum Japans nimmt denn auch bereits ab, wie die Statistiken internationaler Patentorganisationen schonungslos offenbaren. Das Land, das früher in den meisten Fachgebieten zur Spitzengruppe zählte, fällt zurück. Für japanische Firmen, die ihren Erfolg auf den Weltmärkten zumeist Innovationen zu verdanken haben, ist das ein schlechtes Omen.
So gesehen haben auch die Kritiker Japans reichlich Argumente. Ohnehin könnte am japanischen Aktienmarkt langsam die Stunde der Leerverkäufer schlagen, die lieber auf fallende Kurse setzen. Anleger, die noch immer vom Comeback Japans schwärmen, werden es nicht gerne hören, aber diese Hausse ist schon gefährlich weit fortgeschritten.