Die Zeit der grossen Sprachdebatten zwischen der deutschen und der französischen Schweiz ist vorbei. Das könnte als Zeichen einer bedenklichen Gleichgültigkeit gewertet werden.
Es ist ruhig geworden um die Beziehungen zwischen den Schweizer Sprachengruppen. Sogar in der einst aufmüpfigen Romandie herrscht die grosse Stille nach dem Sturm. Selbst das Schlagwort «Röstigraben», einst ein fester Bestandteil des welschen Wortschatzes, ist in der Westschweiz derzeit kaum mehr zu hören.
Wie anders war das doch vor nicht allzu langer Zeit! Ende des letzten Jahrhunderts und selbst zu Beginn der 2000er Jahre standen Diskussionen über das Verhältnis zwischen den Sprachregionen in der welschen Öffentlichkeit auf der Tagesordnung. Man erinnere sich an einschlägige Buchtitel und Schlagzeilen, die damals für Aufsehen sorgten: etwa «La Romandie dominée», oder schärfer noch: «Grüezi viol» – ein zweifelhaftes Wortspiel, das den deutschschweizerischen Gruss «Grüezi wohl» abwandelt («viol» bedeutet auf Französisch Vergewaltigung).
Damals wurde der eidgenössische Sprachenfrieden in welschen Medien und Podien regelmässig hinterfragt, der Bundesstaat als Kerker der diskriminierten Sprachminderheiten dargestellt. Nach eidgenössischen Abstimmungen war noch und noch von einem Sprachengraben die Rede. Weil Anfang der 2000er Jahre mehrere Deutschschweizer Kantone über den obligatorischen Französischunterricht in der Primarschule abstimmten, malte man westlich der Saane gar das Menetekel einer «guerre des langues» an die Wand. Unter dem alarmierenden Buchtitel «Vier Sprachen, ein Zerfall» prophezeite ein bekannter Westschweizer Publizist bereits den Zerfall der helvetischen Willensnation.
Kapitulation vor der Globalisierung?
Dieses Getöse scheint vorbei. Der Zerfall ist nicht eingetreten, den unterdrückten Sprachminderheiten geht es nicht schlecht. Die Rede vom Sprachenkrieg entpuppte sich nicht nur als Verhältnisblödsinn, sondern wirkt zu einer Zeit, da in der Ukraine, in Gaza und in vielen Teilen der Welt reale Kriege geführt werden, abgrundtief geschmacklos.
Der Schweizer Viersprachenstaat ist offensichtlich nicht am Ende, sein Auseinanderfallen höchstens ein Thema für Komik und Klamauk. Der derzeitige Publikumserfolg der Filmkomödie «Bon Schuur Ticino», der auch in der welschen Schweiz ein Kassenschlager zu werden verheisst, zeigt, dass die Schweizer gern über ihren Sprachenwirrwarr lachen – und dass die Rede vom Untergang der mehrsprachigen Schweiz eben zum Lachen ist.
Dies bedeutet freilich keineswegs, dass wir in der besten aller möglichen mehrsprachigen Welten lebten. Man sieht zwar nicht den grossen Zerfall, aber kleine Zerbröckelungserscheinungen. Und vor allem gibt es Herausforderungen, auf welche die Schweiz eine Antwort finden muss, wenn sie ihrem Ruf als vorbildliches Mehrsprachenland – und den hat sie nach wie vor in vielen Teilen der Welt – gerecht werden will.
Eine dieser Herausforderungen wurde kürzlich in einem Hintergrundartikel dieser Zeitung thematisiert («Englisch wird zur zweiten Landessprache», NZZ vom 5. Februar). Neue Statistiken bestätigen, was man seit langem vermuten konnte, dass nämlich im Schweizer Alltag immer häufiger Englisch gesprochen wird. Englisch ist offenbar in den aussenorientierten Teilen der Schweiz mit einem starken Finanzplatz – also vor allem in Zug, Basel-Stadt, Genf und Zürich – bereits die zweitwichtigste Umgangssprache. In Kultur, Schulen, Unternehmen verdrängt sie zwar nicht so sehr die örtliche Landessprache, aber sie schränkt den ohnehin schon bescheidenen Gebrauch der anderen Landessprachen noch mehr ein.
In dieser Entwicklung sehen nicht wenige Verteidiger der Landessprachen eine Gefahr für die viersprachige Schweiz. Wenn Englisch zu einer Art zweiter Landessprache werde, sei dies das Ende der «idée suisse» und eine Kapitulation vor der Globalisierung, hört man immer wieder.
Man kann diese Mahnungen nachvollziehen. Es wirkt in der Tat paradox und reichlich schräg, dass immer mehr Schweizer, obwohl sie in ihrer Schulzeit während vieler Jahre eine andere Landessprache unterrichtet erhielten, immer mehr auf Englisch ausweichen. Da mag man sich ja in der Tat auch fragen, ob das viele Geld, das hierzulande in den Unterricht der Landessprachen gesteckt wird, gut angelegt ist.
Bei genauerer Betrachtung lässt sich indessen eine andere Schlussfolgerung ziehen. Zuerst einmal ist die verbesserte Kenntnis der globalen Sprache Englisch grundsätzlich eine gute Sache, und zwar nicht nur für die Schweizer individuell, sondern auch für das Land als Ganzes. Sie verbessert die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und – dies ist ein neuer und bisher wenig thematisierter Aspekt – sogar die militärische Verteidigungsbereitschaft: Eine verstärkte militärische Zusammenarbeit der Schweiz mit befreundeten Staaten (Stichwort «Interoperabilität») setzt die Fähigkeit voraus, sich mit den anderen zu verständigen. Und das kann nur auf Englisch sein.
Der Gebrauch des Englischen muss auch nicht schlecht sein für die Verständigung zwischen den Sprachregionen: Es ist immer noch besser, wenn sich die Schweizer auf Englisch verständigen, statt sich in einer Landessprache anzuschweigen. Vor allem aber muss der Gebrauch des Englischen keineswegs auf Kosten anderer Sprachen gehen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Schweizer, weil sie Englisch sprechen, automatisch die anderen Landessprachen vergessen.
Verbreitung des Englischen ist allein noch keine Bedrohung
In der Schweiz ist es ja immer so, dass grundsätzlich alle Jungen, die die öffentlichen Schulen durchlaufen, obligatorisch Englisch plus eine andere Landessprache lernen, zumindest ansatzweise. An diesem Prinzip wurde bisher auf politischer Ebene nicht gerüttelt. Doch kann nicht wegdiskutiert werden, dass der Siegeszug des Englischen die Legitimität des Unterrichts einer zweiten Landessprache in den öffentlichen Schulen unterhöhlt. Seit Jahren ist vor allem in Teilen der Deutschschweiz der Ruf nach einer Reduzierung oder gar nach der Abschaffung dieses Obligatoriums zu vernehmen.
Die politischen Institutionen auf Kantons- und Bundesebene haben sich diesem Ruf bisher erfreulicherweise verschlossen. Wenn nämlich in Zukunft das Prinzip gälte, die Schweizer müssten neben ihrer Ortssprache nur noch Englisch einigermassen beherrschen, so hiesse dies, dass die Schweiz ihre Ressource Mehrsprachigkeit sträflich vernachlässigte. Denn die Beherrschung einer Ortssprache plus Englisch wird in Zukunft weltweit das Minimum dessen darstellen, was die Menschen als sprachlichen Rucksack mitbringen müssen. Erst mit drei Sprachen kann man hoffen, zu den kommunikativ besser Ausgerüsteten zu gehören.
Fazit: Die Verbreitung des Englischen an sich ist noch keine Bedrohung der mehrsprachigen «Willensnation Schweiz»; erst die (falschen) Schlussfolgerungen, die man daraus ziehen könnte und die teilweise auch gezogen werden, könnten zu einer Gefahr werden. Wenn Deutschschweizer und Romands (um die sprachlich vorbildlichen Italienischschweizer und Rätoromanen muss man sich keine Sorgen machen) immer besser und immer häufiger Englisch sprechen: à la bonne heure! Darüber darf man sich freuen. Aber falls sie in Zukunft neben ihrer Muttersprache nur noch Englisch sprechen sollten, dann wäre es fatal.
Es wäre deshalb gut, wenn eine Stärkung des Fremdsprachenunterrichts in Bund und Kantonen wieder vermehrt auf die politische Agenda gesetzt würde. Die jetzige Ruhe an der «Sprachenfront» mag zwar komfortabel wirken, sie könnte aber auch als Zeichen einer bedenklichen Indifferenz gegenüber Sprachenfragen gewertet werden.
Aber vielleicht ist diese Ruhe ohnehin nur eine vorübergehende. Es könnte ja bei der eidgenössischen Abstimmung vom 3. März über die Ausschüttung einer 13. AHV-Rente zu einem schönen Sprachengraben kommen, mit einer befürwortenden welschen Mehrheit und einem gesamtschweizerischen Nein. In der Romandie dürfte man in diesem Fall mit schrillen Stimmen rechnen. Das wäre dann nicht mehr die Stille nach dem Sturm, sondern der Sturm nach der Stille.