Die Getränkekartons dieser Welt kommen aus der Schweiz: Tetra Pak hat das Produkt erfunden, aber SIG holt auf. Hinter den Kulissen profitiert dennoch nur eine Familie.
Zwei oder drei Exemplare stehen in fast jedem Kühlschrank. Ob mit Milch oder mit Saft befüllt, vor allem beim Frühstück dürfen sie nicht fehlen: Getränkekartons.
Für jeden Erdenbürger 35 Stück
Der Absatz ist riesig. Nimmt man die öffentlich verfügbaren Angaben der vier dominierenden Hersteller zum Massstab, werden von den Getränkekartons jährlich ungefähr 280 Milliarden Stück produziert. Das reicht, um theoretisch jeden Erdenbürger mit 35 solcher Verpackungen zu versorgen.
Weil die Hersteller sie in einem technisch anspruchsvollen Verfahren sterilisieren, ermöglichen die Kartons eine keimfreie Umgebung. Dadurch lassen sich Fruchtsäfte, Fertigsuppen, Saucen oder UHT-Milch problemlos während zwölf Monaten bei Raumtemperatur lagern. Das macht die Getränkekartons weltweit populär, in nördlichen genauso wie in südlichen Ländern.
Zugleich teilen sich nur zwei Anbieter den Grossteil des Markts: Tetra Pak und SIG. Beide haben ihren Sitz in der Schweiz und sind bekannt dafür, hart um Kunden weltweit zu ringen. Nach dem Modell von Druckerherstellern stellen sie nicht nur das Verbrauchsmaterial, in ihrem Fall die leeren Kartons, sondern auch die Maschinen her, die für das Abfüllen der Verpackungen benötigt werden.
Erst waren die Verpackungen pyramidenförmig
Tetra Pak ist der jüngere der zwei Konzerne. Er gilt dennoch als unbestrittener Pionier in der Branche. Die ursprünglich schwedische Firma, die heute zum schweizerisch-schwedischen Industriekonglomerat Tetra Laval gehört und den Sitz in Lausanne hat, entwickelte die ersten Getränkekartons mitsamt der ersten Maschine für deren Abfüllung in den 1940er Jahren.
Die damaligen Verpackungen waren – als sogenannte Tetraeder – pyramidenförmig. Vor allem für Kaffeerahm waren sie in der Schweiz noch lange im Gebrauch. Die erste Abfüllanlage von Tetra Pak wurde 1952 bei einer schwedischen Molkerei installiert. Kurz darauf folgten die ersten Lieferungen von Maschinen an Kunden in weiteren europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich und der Schweiz.
Den weltweiten Durchbruch feierte Tetra Pak in den 1960er Jahren mit den bis heute gebräuchlichen quaderförmigen Getränkekartons, bekannt auch als Tetra-Brik-Verpackungen. Dazu gesellte sich die neu entwickelte Fähigkeit, sie unter aseptischen Bedingungen abzufüllen. 1960 wurde in Mexiko die erste Produktionsstätte ausserhalb Schwedens eröffnet. 1962 expandierte das Unternehmen in die USA. Schritt für Schritt eroberte Tetra Pak bis Ende der 1970er Jahre den Weltmarkt. Heute ist der Konzern in über 160 Ländern aktiv.
Spätzünder SIG
SIG ist im Vergleich ein Spätzünder. Zwar wurde das Unternehmen, damals noch als Schweizerische Waggon-Fabrik, bereits 1853 in Neuhausen am Rheinfall gegründet, doch begann es erst ab 1989, sich mit der Verpackung von flüssigen Lebensmitteln zu beschäftigen. Der Auslöser war die Übernahme des deutschen Unternehmens PKL Pack- und Klebstoffwerke Linnich.
2000 erfolgte der strategische Entscheid, sich ganz auf Getränkekartons zu konzentrieren. Nachdem sich SIG Anfang der 1990er Jahre bereits vollständig aus der Schienenfahrzeugindustrie zurückgezogen hatte, wurden nun schrittweise auch die Geschäfte mit Verpackungsmaschinen für Trockengüter und mit Abfüllanlagen für PET-Flaschen veräussert.
Der heutige Konzernchef Samuel Sigrist trat als junger Betriebswirtschafter 2005 ins Unternehmen ein und erinnert sich noch gut, wie SIG damals grösstenteils auf Europa ausgerichtet war. Gegen vier Fünftel der damaligen Abnehmer von SIG-Getränkekartons seien europäische Lebensmittelhersteller gewesen, sagt er. Inzwischen ist SIG geografisch deutlich breiter aufgestellt. Laut dem Unternehmen stammen je rund 30 Prozent des Umsatzes aus Europa, Asien sowie aus Nord- und Südamerika. Die restlichen 10 Prozent entfallen auf Geschäfte mit Kunden im Nahen Osten.
Tetra Pak ist als Teil eines privat gehaltenen Unternehmens deutlich zurückhaltender bei der Herausgabe von Geschäftsinformationen als die börsenkotierte Firma SIG. Auf Anfrage erklärt der Konzern, über eine ähnliche geografische Verteilung des Umsatzes zu verfügen wie sein Hauptkonkurrent.
Hauptgeschäft noch immer mit Molkereien
Der Aufbau einer globalen Präsenz war für SIG kein Spaziergang. «Tetra Pak war schon überall, als wir vor zwanzig Jahren unsere Internationalisierungsstrategie begannen», sagt Sigrist. SIG musste denn auch Land für Land Kontakte zu regionalen Molkereibetrieben oder Abfüllern von Fruchtsäften knüpfen. Mittlerweile bedient das Unternehmen Kunden in über 100 Ländern. Rund 70 Prozent von ihnen sind in der Herstellung von Milch- oder von Milchersatzprodukten wie Hafer- und Sojamilch tätig. Das Geschäft mit Anbietern von Säften umfasst 20 Prozent. Fast identisch sieht die Verteilung bei Tetra Pak aus.
In den vergangenen Jahren entwickelte sich SIG auffallend dynamischer als Tetra Pak. Gemessen am Umsatz, der 2022 bei 12,5 Milliarden Euro lag, ist Tetra Pak zwar noch immer mehr als viermal grösser als SIG. Der Neuhauser Konzern wies vorletztes Jahr einen Konzernerlös von 2,8 Milliarden Euro aus. Die Verkäufe von Tetra Pak waren indes zwischen 2017 und 2022 im Durchschnitt um weniger als 2 Prozent pro Jahr gestiegen.
SIG erwirtschaftete im selben Zeitraum ein jährliches Wachstum von 6 Prozent. Nicht berücksichtigt sind dabei die Geschäfte der neuen Tochterfirma Scholle IPN, die erst Anfang Juni 2022 zum Konzern stiess und als Hersteller von sogenannten Bag-in-Box-Lösungen eine andere Art von Verpackungen für flüssige Lebensmittel anbietet.
Sind Anlagen von Tetra Pak weniger flexibel?
Bei SIG hat man eine Reihe von Erklärungen dafür, weshalb man in den vergangenen Jahren mit höherer Geschwindigkeit als Tetra Pak vorangekommen ist. Der Konzern verweist darauf, mit seinen Abfüllanlagen Kunden eine höhere Flexibilität bei der Grösse der Verpackungen sowie bei deren Inhalt anzubieten.
So liessen sich die Anlagen von SIG schneller umrüsten als jene von Tetra Pak, wenn der Kunde auf eine andere Verpackungsgrösse wechseln wolle. Auch seien die eigenen Maschinen besser geeignet für flüssige Lebensmittel, die wie Joghurtdrinks feste Bestandteile zum Beispiel in Form von Fruchtstückchen enthielten und die sich vor allem in Asien grosser Beliebtheit erfreuten.
Auf diese angeblichen Vorzüge der SIG-Abfüllanlagen angesprochen, nimmt Tetra Pak keine Stellung. Auch sind dem Unternehmen keine Angaben über seinen Marktanteil zu entlocken. Laut SIG kontrolliert Tetra Pak nach wie vor 65 Prozent des Gesamtmarkts. Selber komme man auf 25 Prozent. Die übrigen Anteile entfallen vor allem auf den chinesischen Anbieter Greatview Aseptic Packaging und die norwegische Firma Elopak.
An dieser Verteilung scheint sich in den vergangenen Jahren wenig geändert zu haben. So erklärt man bei SIG zwar, in Europa Tetra Pak derart Kunden abspenstig gemacht zu haben, dass es dem Konkurrenten weh tue. Doch profitierte Tetra Pak offenbar weiterhin von der steigenden Nachfrage nach Getränkekartons. Normalerweise wächst sie um 3 bis 4 Prozent pro Jahr. Mit anderen Worten: Was der Konzern in Europa verlor, konnte er kraft seiner überragenden globalen Marktposition mit zusätzlichen Geschäften in anderen Regionen überkompensieren.
Konsumenten sparen auch bei Getränken
Im laufenden Jahr müssen beide Hauptanbieter mit einem verschärften Wettbewerb rechnen. Das hat damit zu tun, dass in vielen Ländern Konsumenten wegen der stark gestiegenen Teuerung auch beim Essen stärker aufs Portemonnaie achten müssen. Der eine oder andere Fruchtsaft dürfte dann ebenso wie der Schokodrink nicht mehr im Einkaufskorb landen, weil er als Luxus betrachtet wird.
Bereits 2022 waren gewisse Anbieter innerhalb der Molkerei- und Getränkeindustrie mit sinkenden Verkaufsvolumen konfrontiert gewesen. 2023 brachte keine Entspannung. Beim britischen Konsumgüterriesen Unilever beispielsweise stagnierten die Volumen, wie vergangene Woche bekanntwurde.
SIG verkaufte 2022 und 2023 so viele Abfüllmaschinen wie noch nie. Für das laufende Jahr ist der Konzern aber vorsichtiger gestimmt. Statt je 90 wie in den beiden Vorjahren dürften nach Erwartung des Managements nur noch zwischen 60 und 80 Anlagen einen Abnehmer finden.
Die verschlechterten Geschäftsaussichten haben auch bereits dafür gesorgt, dass Anleger vermehrt auf Distanz zu SIG gehen. In den zurückliegenden zwölf Monaten ist der Aktienkurs der Firma um ein Fünftel gefallen. Gegenüber dem Börsengang, der Ende September 2018 erfolgte, ist die Notierung aber noch immer um über die Hälfte gestiegen.
Damit ist auch die Rechnung der Eigentümerfamilie von Tetra Pak beziehungsweise von Tetra Laval aufgegangen. Die drei Geschwister Finn, Kirsten und Jörn Rausing, welche die Enkel des Tetra-Pak-Gründers Ruben Rausing sind, hatten nämlich den Börsengang zur Gelegenheit genommen, um sich via ihre liechtensteinische Stiftung Haldor Foundation am Kapital von SIG zu beteiligen. Inzwischen beträgt ihre Beteiligung fast 10 Prozent.
Keine Vorzugsbehandlung für Hauptaktionär
Bei SIG wird man ungern auf das Thema Haldor angesprochen. Die Familie Rausing beziehungsweise «das Family-Office», wie die Eigentümer von Tetra Pak am Unternehmenssitz in Neuhausen etwas distanziert bezeichnet werden, bekommt aber offenbar keine Sonderbehandlung – im Gegenteil. So würde man weder sie noch ihre Vertreter, heisst es, jemals im Betrieb herumführen.
Welche Absichten die Familie mit ihrem Engagement beim Hauptkonkurrenten verfolgt, will man bei Tetra Pak ebenfalls nicht kommentieren. Eine gewisse Kontrolle kann aber nicht schaden, scheint man sich bei den Rausings gesagt zu haben.