An der Semperoper macht die Uraufführung der «Jüdin von Toledo» des Komponisten Detlev Glanert (Libretto: Hans-Ulrich Treichel) am Ende auf Nahostkonflikt und verkehrt auf skandalöse Weise Täter und Opfer.
«Die Jüdin von Toledo» ist ein literarisch oft bearbeiteter historischer (Spreng-)Stoff. Zuerst im Drama von Lope de Vega (1562–1632) aus dem goldenen Zeitalter Spaniens. Bemerkenswert, denn in der Ära der Inquisition verfasst: Das Judenbild in diesem Stück ist alles andere als nur antijüdisch, und der katholische König bleibt hier nicht makellos. Den «feinen» Wiener-Salon-Antisemitismus entdeckt man nicht nur zwischen den Zeilen in der späteren Theaterfassung Franz Grillparzers (1791–1872).
Ganz anders der Roman von Lion Feuchtwanger (1884–1958): Hier sind Raquel und andere Juden Opfer des vorherrschenden Antisemitismus. Das sind sie auch in der Version von Hans-Ulrich Treichel. Einer der wirklich lesenswerten deutschsprachigen Schriftsteller hat das Libretto für die am vergangenen Samstag an der Dresdener Semperoper uraufgeführte Version der «Jüdin von Toledo» geschrieben.
Treichels Operntext ist glasklar, verdeutlicht Motive wie Eifersucht, Politik, Macht und Pragmatismus und hat, gerade wegen seiner scheinbaren sprachlichen Einfachheit, intellektuelle und emotionale Tiefe. (Der Text wird während der Aufführung auf Deutsch und Englisch auf der Leinwand über der Bühne eingeblendet.) Erste Kritiken und die Ovationen des Premierenpublikums nähren grosse Erwartungen. Der gefeierte Komponist ist der vielfach ausgezeichnete Detlev Glanert.
Todesurteil gegen Rachel
Kurz der im Kern in allen Fassungen gleiche Inhalt: Der hochkatholische spätere Mauren-Bezwinger König Alfonso VIII. von Kastilien – er regierte von 1158/1169 bis 1214 – verliebt sich in die schöne Jüdin Rachel. Seiner Gemahlin Eleonore gefällt diese Liaison ganz und gar nicht. Ebenso wenig dem erzkatholischen Staatsrat. Wie die Königin wollen dessen Mitglieder, dass der König sein Liebesnest verlasse und gegen die Mauren in die Schlacht ziehe. Alfonso droht die Absetzung.
Thron oder Liebe? Das war hier die Frage. Des Königs Antwort: Er unterschrieb das Todesurteil gegen Rachel. Ausgeführt wurde es von seinen Schergen. Zugleich eine wunderbare Gelegenheit für die, so das Libretto, «Menschenmenge», das Liebesnest-Haus «vereint» zu «plündern und zu verwüsten». Damals nannte man das noch nicht «Pogrom». So weit, so herkömmlich – in der Oper eindrucksvoll und denkwürdig: grosse Kunst in Ton, Wort und Bild.
Verstörende Schlusspassage
Dann aber die im Libretto so nicht vorgegebene Schlusspassage. Sie ist verstörend, um nicht zu sagen: skandalös. Ihre optische Botschaft in Bild und Personal eindeutig: Die Gedankenverbindung mit dem Gazakrieg ist gewollt und suggeriert eine Umkehr von Opfer- und Täterrolle. Das Publikum wird vom späten 12. Jahrhundert ins Jahr 2024 geschleudert, Juden und Israel gleichgesetzt. Zerstörte Häuser, zerstörte Städte. Von TV-Bildern geimpfte Zuschauer erkennen sofort: Gazastreifen.
An den per Video gezeigten Kampfflugzeugen, Panzern und Geschützen sind keine israelischen Hoheitszeichen erkennbar, aber die Tallitim (jüdische Gebetstücher) der Männer auf der Bühne erlauben keinen Zweifel. Es sind zweifellos Juden. Auch sie sehen die Schreckensbilder. Sie stehen – unausgesprochen natürlich und subtil suggerierend – stellvertretend für «die» Juden. Optisch aufgezwungen dieser Gedanke: «Die Juden sind schuld.»
Man fragt sich: Müssten wir mit einer ähnlichen Schlusspassage per Video rechnen, sollte demnächst in der Semperoper etwa Schostakowitschs auf Jewgeni Jewtuschenkos gleichnamigem Gedicht beruhende Sinfonie Nr. 13, op. 113 «Babi Jar» über das NS-Massaker an der jüdischen Bevölkerung von Kiew aufgeführt werden?
Wenn schon die Opfer-Täter-Umkehrung, warum dann nicht dieser Bildkontrast: erst den Hamas-Triumphzug mit den israelischen Geiseln durch Gaza am 7. Oktober 2023 und dann die heutigen Ruinen im Gazastreifen? Denn ist das nicht seit Adolf Hitler die historische Lehre für Deutsche und Deutschland? Man beginne nicht leichtfertig einen Krieg, denn: Krieg ist nicht nur mörderisch, sondern auch selbstmörderisch.
Tod und Vertreibung des eigenen Zivils – von schuldigen und unschuldigen Menschen gleichermassen – sowie Zerstörung und Verlust des eigenen Landes sind das Risiko. Am 13. Februar jährt sich der Tag des schrecklichen Angriffs auf Dresden aus dem Jahre 1945 und belegt dieses grausame Gesetz des Krieges. Ebenso der jetzige, von der Hamas begonnene Krieg.
Judenfeindschaft wird legitimiert
Es bewahrheitet sich in der Semperoper einmal mehr: Antisemitismus hat viele Erscheinungsformen. Ja, die Gefahr von rechts wächst in Deutschland. Aber auch – und noch mehr – die muslimische Judenfeindschaft. Und die Judenfeindschaft von Linken und Linksliberalen ist, vornehmlich in der Kulturwelt, methodisch subtiler, wie sich nun im «Kulturtempel» Semperoper zeigt. Man legitimiert hier Judenfeindschaft scheinintellektuell und kontrafaktisch.
Meine deutschjüdische Familie ist von Israel nach Deutschland zurückgekehrt, meine Grosseltern 1949, meine Eltern mit mir 1954, ich selbst 1970 nach meinem Wehrdienst in Israel. Heute ist Deutschland wieder ein Ort, an dem Juden gefährdet sind. Da steht am Ende eines grossartigen Opernabends die Botschaft: «Die Juden sind schuld», sogar am Judenhass «selbst schuld». Wer da keine Gänsehaut bekommt. Am Ende der Meisteroper doch antisemitisches «Backe, backe Kuchen»-Niveau.
Michael Wolffsohn ist Historiker. Soeben erschienen ist sein Buch: «Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus». Herder-Verlag, Freiburg im Breisgau.