Real Sociedad setzt wie Athletic Bilbao stark auf den eigenen Nachwuchs – und begeistert damit in der Champions League. Und auch drei Spitzentrainer entstammen dem Norden Spaniens. Was steckt hinter dem Erfolg des baskischen Wegs?
Der Auftritt ist noch immer unvergessen. Im April 2021 hatte die Real Sociedad de Fútbol mit dem Cup-Sieg soeben ihren ersten Titel seit 33 Jahren errungen, da liess sich Imanol Alguacil an der Pressekonferenz ein Trikot reichen und verkündete, «jetzt vom Trainer- in den Fan-Modus zu schalten». Der Erfolgscoach hüllte sich in das blau-weisse Dress und schrie, bis seine Halsschlagader zitterte. Die Zuhörer waren verblüfft, zumal die meisten von ihnen kein Wort verstanden: «Erreala ale, irabazi arte, beti egongo gara zurekin!» Alguacil brüllte auf Baskisch.
Eigene Sprache, eigenwilliger Landstrich, einzigartige Fussballkultur: So lässt sich resümieren, was im Norden der Iberischen Halbinsel an der Grenze zu Frankreich entstanden ist. Aus rund 700 000 Bewohnern der Provinz Gipuzkoa mit der Hauptstadt Donostia (spanisch: San Sebastián) entstammen mit Xabi Alonso (Leverkusen), Mikel Arteta (Arsenal) und Unai Emery (Aston Villa) drei internationale Spitzentrainer. Alonso ist derzeit mit Bayer 04 Leader in der Bundesliga, Emery gewann schon drei Mal die Europa League. Alle begannen sie ihre aktive Karriere einst bei «La Real», der Real Sociedad. So wie auch Alguacil – der ihnen punkto Renommee kaum mehr nachsteht.
Alguacil lässt attraktiven Fussball spielen – mit Spielern aus dem eigenen Nachwuchs
In einem Klub mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln hat der 52-Jährige das Überraschungsteam dieser Champions-League-Kampagne geformt. Bei ihrer ersten Teilnahme an der Königsklasse seit zehn Jahren gewannen die Basken eine anspruchsvolle Gruppe vor dem Vorjahresfinalisten Inter Mailand, Benfica Lissabon und RB Salzburg.
Mit ihrem offensiven Kombinationsfussball und dem harten Pressing gehörten sie gleichermassen zu den attraktivsten Teams wie zu den unangenehmsten Gegnern. «Eine phantastische Mannschaft mit sehr klaren Prinzipien», lobte der Inter-Coach Simone Inzaghi, doch die Belohnung für die Ungeschlagenheit in der Vorrunde blieb Real Sociedad verwehrt. Mit Paris Saint-Germain bekam das Team aus San Sebastián für den Achtelfinal den wohl stärksten Gruppenzweiten zugelost. Am Mittwoch findet in Frankreich das Hinspiel statt.
PSG, na und? «Wir sind nicht für einen Spaziergang in der Champions League, sondern um zu versuchen, sie zu gewinnen», sagte der Klubpräsident Jokin Aperribay zu Wochenbeginn forsch. Er weiss, dass das wohl nicht passieren wird, zumal die 160 Millionen Euro Gesamtetat seines Vereins beim Gegner allein zur Beschäftigung von Kylian Mbappé draufgehen. Doch Aperribays Aussage drückt seine Ambition aus, «dauerhaft in der Elite mitzuspielen, indem wir unseren Weg klar verfolgen». Bei Real Sociedad glauben sie an harte Arbeit und die ausgeklügelte Methodik des Sportdirektors Roberto Olabe. Und an das Plus der Heimatverbundenheit in den baskischen Hügeln.
Leader des Teams wie der Goalie Álex Remiro, die Mittelfeldspieler Martin Zubimendi und Mikel Merino sowie der Stürmer Mikel Oyarzabal sind Basken. Das hat nicht nur den Vorteil, dass sie sich auf dem Platz in Geheimsprache unterhalten können, sondern auch den, dass sie sich «wie eine Bruderschaft» fühlen, wie Merino sagte. In San Sebastián, das betonen auch zugereiste Spieler, sei es keine Seltenheit, dass die halbe Mannschaft spontan miteinander essen gehe. Dieses Gefühl von Zusammenhalt gilt als typisch baskisch. «Es überträgt sich, und man spürt, dass es bei der Real sehr präsent ist», sagte Xabi Alonso neulich in einem spanischen TV-Interview. Vor dem Wechsel nach Leverkusen betreute Alonso drei Jahre lang die zweite Mannschaft von Real Sociedad. Die harmonischen Arbeitsbedingungen auf dem Klubcampus Zubieta beschrieb er als «Disneyland» für einen Trainer.
Identifikation potenziert Talent – so erklärt sich auch der aussergewöhnlich hohe Anteil an Spielern aus dem eigenen Nachwuchs in der ersten Mannschaft. Laut einer internationalen Vergleichsstudie des CIES Football Observatory vom November wurden bei Real Sociedad bis dahin 45,4 Prozent der akkumulierten Einsatzzeit von Spielern aus dem eigenen Nachwuchs absolviert. In der Champions League hatten nur die kriegsgeplagten Ukrainer von Schachtar Donezk einen höheren Anteil.
In Europas grossen Ligen wiederum wird Sociedad in dieser Hinsicht nur von einem Klub übertroffen – dem anderen baskischen Spitzenteam, Athletic Bilbao. Beim Nachbarn aus der Provinz Bizkaia entfallen sogar 68,9 Prozent der Einsatzminuten auf Akademiespieler, und er ist damit momentan ebenfalls sehr erfolgreich. In der Liga liegt Athletic nur zwei Punkte hinter einem Champions-League-Platz, im Cup steht der Verein nach einem 1:0 im Halbfinalhinspiel gegen Atlético Madrid vor dem Finaleinzug – so wie auch «La Real» nach einem 0:0 auf Mallorca. Womöglich wiederholt sich also der baskische Traumfinal von 2021, der eigentlich jener von 2020 war. Wegen der Pandemie warteten beide Klubs damals ein Jahr lang mit der Austragung, um ihren Fans die Teilhabe an dem historischen Anlass zu ermöglichen. Erst dann fügten sich die Vereine der bitteren Realität – Real Sociedad gewann vor leeren Rängen 1:0.
Im insgesamt gut 2,2 Millionen Einwohner zählenden Baskenland wird die Derby-Rivalität eher freundschaftlich zelebriert. Allenfalls bei der Jagd nach Talenten befehden sich die zwei Klubs, denn die Auswahl ist natürlich begrenzt. Athletic verfolgt von jeher die Politik, nur Spieler baskischer Herkunft zu verpflichten oder zumindest solche, deren Jugendverein im Baskenland liegt. Demgegenüber öffnete sich Real Sociedad ab 1989 für Ausländer und ab 2003 für Profis aus anderen Landesteilen Spaniens. Zu den gegenwärtigen Attraktionen zählen etwa der junge Japaner Takefusa Kubo, 22, oder der Galicier Brais Méndez, 27. Im Nachwuchs gilt jedoch der Grundsatz, dass mindestens 80 Prozent der Buben aus der eigenen Provinz Gipuzkoa kommen sollen.
Ab 2011 wurden die eigenen Talente auch von Alguacil angeleitet, dem ehemaligen Rechtsverteidiger, der nach ersten Trainerstationen in der Provinz als Nachwuchscoach zu seinem Herzensklub zurückkehrte. Im Frühjahr 2018 half er erstmals bei den Profis aus, kehrte danach aber ins zweite Glied zurück. «Es ist schwer, Cheftrainer eines Klubs zu sein, bei dem du an der Brust getrunken hast, den du lebst und fühlst», sagte er damals – nur schon, weil Cheftrainer in der Regel ja irgendwann gefeuert werden. Doch in der folgenden Saison galt es schon wieder, eine Vakanz zu füllen, Alguacil liess sich erweichen. Seither hat niemand einen Grund für eine Entlassung gesehen. Auch Xabi Alonso nicht, der daher nach Leverkusen ging. «Gewaltig» nennt Alonso die Arbeit von Alguacil.
Real Sociedad bietet seinen Spielern ein Wohlfühlambiente
Derzeit sind besonders Alguacils psychologische Fähigkeiten gefragt. Zwar dominiert Real Sociedad die meisten Spiele wie eh und je – schiesst aber keine Tore mehr. In den letzten vier Partien jubelten die Basken kein einziges Mal. Damit verpassten sie eine noch bessere Ausgangslage im Cup und fielen in der Liga auf Platz sieben zurück. Zu befürchten ist eine Wiederholung des Musters vergangener Spielzeiten, als die Mannschaft in der zweiten Saisonhälfte die Rechnung für ihre intensive Spielweise und die Mehrfachbelastung in diversen Wettbewerben zahlte. Doch Alguacil will von Schwarzmalerei nichts wissen. «Wir spielen besser als letzte Saison», sagt er. «Wenn man nicht trifft, macht man irgendetwas falsch. Aber wir sind auf dem richtigen Weg.»
Dieser Weg besteht im Baskenland darin, «von Montag bis Freitag die Besten sein zu wollen, um uns am Wochenende aussergewöhnliche Resultate zu verdienen», wie es der Sportdirektor Olabe gern ausdrückt. Und darin, viel in Trainingsmethodik und Spezialisten zu investieren, um den Spielern so ein Wohlfühlambiente zu bieten, das sie besser dotierte Angebote von reicheren Vereinen ausschlagen lässt.
Zu zara mailua,
Zu zara aizkora,
Gu gara egurra,
Gu gara burnia.💙 Desde Japón hasta Donostia. Tan lejos y tan cerca. 𝗟𝗮 𝗥𝗲𝗮𝗹, 𝗹𝗮 𝗰𝗮𝘀𝗮 𝗱𝗲 𝗧𝗮𝗸𝗲.#Take2029 | #WeareReal pic.twitter.com/N2YaRi7Y3C
— Real Sociedad Fútbol (@RealSociedad) February 12, 2024
Das Ausnahmetalent Kubo etwa verlängerte am Montag seinen Vertrag bis 2029, durchaus zum Erstaunen seines früheren Klubs Real Madrid, der noch über 50 Prozent seiner Transferrechte verfügt und bereits über eine Rückholaktion nachgedacht hat. «Ich bin sehr glücklich hier, aus vielen Gründen, vor allem wegen des guten Feelings mit den Kollegen, den Fans und der sportlichen Leitung», sagte Kubo. Grosses Aufheben wollte er um seine Unterschrift nicht machen: «Nicht sie soll die Nachricht der Woche werden. Sondern ein Sieg in Paris.»