Am Obersalzberg trifft oberbayrische Postkartenidylle auf NS-Geschichte. Ein neues Dokumentationszentrum geht nun das ideologisch verminte Terrain direkt an.
Es sind oft kleine, unscheinbare Dinge, die Weltgeschichte plötzlich begreifbar machen. Eine Streichholzschachtel zum Beispiel. Sie ist eines der Exponate in der Ausstellung der neuen Dokumentation am Obersalzberg, wo sich das Institut für Zeitgeschichte München – Berlin um Aufklärungsarbeit betreffend den Ort und seine NS-Vergangenheit bemüht hat. «Millionen Zündhölzer. Ein Schicksal», sagt der Historiker und Dokumentationsleiter Sven Keller vor der Vitrine mit der Streichholzschachtel. Sie wurde auf schwarz-weiss-rot gestreiftem Hintergrund mit dem Propagandaslogan «Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer» bedruckt, mit dem die Nationalsozialisten 1938 in Österreich für den sogenannten Anschluss ans Deutsche Reich warben. Die Nazis zwangen die österreichische Firma Solo, solche Aufdrucke für eine Million Streichholzschachteln herzustellen. Als Österreich dann Teil des Deutschen Reiches wurde, bedeutete das für die Familie des jüdischen Firmeninhabers Ernst Fürth Flucht und Tod. Österreichs Eingliederung – beschlossen wurde sie auf dem Obersalzberg.
Dieses beschauliche Ferienziel in Oberbayern entdeckten einst Adolf Hitler und die Führungsriege der Nationalsozialisten für sich, um den Obersalzberg nach der Hauptstadt Berlin als zweiten Regierungssitz zu nutzen. Wenn auch als unpolitisches Ferienidyll inszeniert, war der Obersalzberg immer auch ein Ort politischen Handelns, an dem Hitler seit 1923 eben nicht nur Ferien machte, sondern zwischen 1933 und 1945 etwa ein Viertel seiner Amtszeit verbrachte. «Bis hin zum Holocaust und Völkermord an den Juden gibt es kaum einen Komplex der NS-Verbrechen, der nicht mit dem Obersalzberg verknüpft wäre», sagt Keller. Ein Grund, weshalb die neue, diesen September eröffnete Ausstellung «Idyll und Verbrechen» bewusst vom Obersalzberg ausgeht und keine Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus bietet. Öffnungen in den Ausstellungswänden lenken den Blick der Besucherinnen und Besucher aber schon während des Rundgangs auf Tatorte in ganz Europa und zeigen, was auf dem Obersalzberg getroffene Entscheidungen auch andernorts bewirkt haben. «Verfolgung beginnt nicht weit weg, sondern in der direkten Nachbarschaft», sagt Sven Keller.
Verbrechen in der Postkartenlandschaft
Der Historiker und seine Kolleginnen und Kollegen wissen nur zu gut, dass sich, was den Obersalzberg betrifft, lange die falsche Vorstellung hielt, die Führungsriege der Nazis habe hier in der oberbayrischen Naturidylle Berchtesgadens nur nette Ferientage in ihren Ferienhäusern verbracht. Was die vielen überaus privat und idyllisch wirkenden Fotoaufnahmen aus jener Zeit auch glauben machen sollten. Eingebettet in die imposante Bergkulisse von Watzmann, Untersberg und Kehlstein, ist der Obersalzberg ein von lieblichen Wiesen und Wäldern bedeckter Bergrücken etwa tausend Meter oberhalb von Berchtesgaden. Von seiner spektakulären Aussicht in die Bayerischen Alpen einmal abgesehen, würden den Berg heute vermutlich nur wenige kennen, hätten ihn nicht Adolf Hitler und sein Gefolge in Beschlag genommen, um das Gebiet zum sogenannten Führersperrgebiet zu erklären und als zweiten Regierungssitz zu nutzen. «An kaum einem Täterort der Nazis sind Landschaft, Inszenierung und Verbrechen so eng verwoben wie am Obersalzberg», sagt Keller.
Doch die historische Landschaft bleibt diffus und erklärungsbedürftig. Denn hier ist vieles nicht, wie es auf den ersten Blick scheint. Nach tiefgreifenden Veränderungen ist sowohl die Zeit vor den Nazis wie auch die der brachialen Umgestaltung weitgehend verschüttet: Die wichtigsten NS-Gebäude wurden nach Kriegsende gesprengt, und zurück blieb nichts als die heutige zauberhafte, alpine Postkartenlandschaft. Wie eng jedoch Idylle und Verbrechen an diesem Ort beisammenliegen, können Besucher anhand historischer Fotos erfahren, deren Entstehungsgeschichte in der Dokumentation am Medientisch dekonstruiert und damit demaskiert werden kann.
Perfekte Propaganda mit vorgetäuschten Schnappschüssen
Sven Keller und der Ausstellungskurator Sebastian Peters demonstrieren auf einem riesigen Bildschirm, der über Berührungen wie Wischen, Ziehen und Klicken auf ausgewählte Propagandafotos steuerbar ist, wie man die Aufnahmen in ihren Einzelteilen analysieren kann. So wirkt ein Foto vom Sonntagseintopf zunächst wie ein privater Schnappschuss: Hitler sitzt mit seinen Gästen um den Küchentisch in seiner Ferienresidenz. Es gibt Eintopf. «Hitler, ganz privat? Von wegen! In dieser perfekten Inszenierung wurde nichts dem Zufall überlassen», sagt Peters, der den Medientisch mitentwickelt hat. Er erklärt, wie der Eintopf sichtbar in den Vordergrund gerückt und die Gäste so positioniert wurden, dass der Blick auf den Führer nicht verdeckt wurde. Niemand blickt direkt in die Kamera, so dass die Aufnahme wie ein Schnappschuss wirkt.
Zur perfekten NS-Propaganda taugte das Motiv obendrein, sollten die Deutschen doch ab 1933 auf harte Zeiten eingestimmt werden. Deshalb gibt sich Hitler bescheiden und zeigt sich solidarisch mit der Bevölkerung, speist er doch wie sie am Sonntag angeblich nur Suppe statt Schweinebraten, um das so gesparte Geld ans Winterhilfswerk zu spenden. Peters sagt: «Das Bild vom Sonntagseintopf wurde zu Propagandazwecken auch in der Berliner Reichskanzlei inszeniert, und dort wurde obendrein ein in Ungnade gefallener Gast nachträglich aus dem Bild retuschiert.»
Die idyllische Natur täuscht Nähe vor
All die vermeintlichen Schlüssellochblicke aufs Privatleben des Führers sind Inszenierungen von Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann, der mit den millionenfach verbreiteten Aufnahmen massgeblich zur Etablierung des Führermythos beitrug. Der Obersalzberg war dabei bewusst als Ort gewählt, um vor imposanter Bergkulisse einen natur- und volksnah wirkenden Führer in Szene zu setzen, wie er gern bezopfte Kinderköpfe tätschelte, mit seinem Hund spazieren ging und freudig die Hände der Bevölkerung schüttelte, die wie zur Wallfahrt massenhaft hinauf zum Berghof pilgerte. «Was die Bilder nicht zeigen, ist zum Beispiel der Zaun, mit dem das Führersperrgebiet komplett abgeriegelt war», sagt Keller.
Am schwer zugänglichen Obersalzberg galt es als besondere Auszeichnung, von Hitler oder der inoffiziellen Hausherrin Eva Braun im privaten Rahmen empfangen zu werden. Die von Eva Braun gedrehten Farbfilme rücken die Szenen näher an unsere heutigen Sehgewohnheiten, als dies früher Schwarz-Weiss-Bilder im Geschichtsunterricht taten. Zu sehen sind heitere Kaffeekränzchen auf der Terrasse, bei denen sich die Berghofgesellschaft eine Pause von der Verbrechensplanung gönnt.
Der zur repräsentativen Residenz ausgebaute Berghof verfügte in der Halle über ein Panoramafenster, das mit zweiunddreissig Quadratmetern nicht nur extrem gross war, sondern komplett im Boden versenkt werden konnte, um die imposante Landschaft quasi direkt ins Haus zu holen. In schönster Bergpanoramakulisse wollte deshalb auch die NS-Führungsriege ihre Ferienhäuser in Hitlers Nähe bauen lassen. Zur Neugestaltung des Gebietes wurden nahezu alle rechtmässigen Bewohner am Obersalzberg von der NSDAP zum Verkauf genötigt oder enteignet, ihre seit Generationen bewirtschafteten Höfe wurden weitgehend abgerissen. Neben Hitler besassen so bald auch Hermann Göring, Martin Bormann und Albert Speer ihre Ferienhäuser.
Abreissen als Akt der Vergangenheitsbewältigung
Zu Kriegsende bombardierte die Royal Air Force das Areal flächendeckend. Dann nutzten amerikanische Besatzer einen Teil des Gebiets als Erholungszentrum für ihre stationierten Truppen. Während in der Nachkriegszeit über die NS-Vergangenheit des Obersalzbergs am liebsten geschwiegen wurde, begannen clevere Geschäftsleute bereits, die geschichtliche Anziehungskraft von Hitlers Wahlheimat mit heimlichen Obersalzberg-Führungen und einem NS-Devotionalien-Verkauf zu vermarkten. Die amerikanische Besatzungsmacht drängte deshalb darauf, den Grossteil der verbliebenen Ruinen zu sprengen. Im Gegenzug durfte das spektakulär auf einem Felsvorsprung in 1834 Metern Höhe gelegene Kehlsteinhaus, das sogenannte Eagle’s Nest, bleiben, als eines der wenigen unzerstörten Monumente aus der NS-Zeit. Es wird heute als Berggasthaus betrieben.
Wer wissen will, wo sich bis 1944 welche Bauten befanden und was von ihnen noch zu sehen ist, findet in der Dokumentation dazu ein detailgetreues Landschaftsmodell. Denn die wohl meistgestellte Besucherfrage am Obersalzberg lautet: «Wo geht’s hier zum Hitler-Haus?» Obwohl vom Berghof schon seit seiner Sprengung in den 1950er Jahren nichts mehr steht. «In der Nachkriegszeit dominierte noch vielfach das Konzept der Bewältigung durch Abriss», sagt Keller.
Nun ist auf dem ehemaligen Berghofgelände allerdings noch Mauerwerk zu erkennen, bei dem es sich nicht etwa um Reste des einstigen Hitler-Hauses handelt, sondern um eine Stützmauer, die seinerzeit nicht gesprengt wurde, damit der Hang nicht ins Rutschen gerät. Welch fataler Trugschluss, zu glauben, man könne an historisch belasteten Orten wie diesem einfach Bäume über die Reste des schwierigen Erbes wachsen lassen und auf Hinweisschilder oder Wegweiser verzichten, um sich auf diese Weise den Ärger mit ewiggestrigen Besuchern zu ersparen. Das wissen auch Keller und seine Mitarbeiter und planen eine bessere Einbindung des Terrains in die neue Konzeption der Dokumentation.
Aufklärerisches Zwei-Säulen-Modell
Dass vor Ort nur Aufklärung Licht ins Dunkel bringt, war auch dem Freistaat Bayern schnell klar, als sich die amerikanische Armee 1995 endgültig vom Obersalzberg zurückzog und der Freistaat seither allein für die Nutzung des Areals zuständig ist. Was man dort auf keinen Fall haben will, sind Wallfahrer rechter Gesinnung. Um das Gebiet jedoch nicht gänzlich unbespielt sich selbst zu überlassen und das Interesse am geschichtsträchtigen Ort besser kanalisieren zu können, ersann der Freistaat ein Zwei-Säulen-Modell für die politische wie auch die touristische Nutzung. Dazu schuf er als architektonisches Gegengewicht zum alpenländischen Ferienhausstil der NS-Führungsriege zwei hypermoderne Neubauten: das neue Dokumentationszentrum und ein Luxushotel, das gegenwärtig von der Hotelgruppe Kempinski geführt wird.
Geschichtliche Deutungen zum Obersalzberg wird man deshalb im Kempinski-Hotel Berchtesgaden vergeblich suchen. Am Concierge-Desk verweist man historisch Interessierte ans Dokumentationszentrum, das zu Fuss nur zehn Minuten entfernt liegt. «Wir sind uns der Historie bewusst, haben aber durch das Zwei-Säulen-Modell einen klar touristisch definierten Auftrag. Daher führen wir dieses Haus wie ein normales Hotel. Schliesslich kommen unsere Gäste wegen der Schönheit der Natur und der Annehmlichkeiten unseres Hauses», sagt Werner Müller, der seit 2015 General Manager hier ist. Mit dem Fünfsternehotel unterbindet man einen sich unkontrolliert entwickelnden Massentourismus und sorgt mit 30 000 Übernachtungen pro Jahr auch noch für zumeist internationale Gäste.
Touristischer Geheimtipp in der Nähe von Salzburg
Die wenigsten Feriengäste kämen allerdings explizit wegen der besonderen Historie des Obersalzbergs, vielmehr schätzten sie die vielfältigen Freizeitangebote auf engstem Raum, meint Müller. Königssee, Watzmann, Berchtesgadens Salzbergwerk, die Kurstadt Bad Reichenhall sowie Österreichs Metropole Salzburg sind alle in einem Tagesausflug erreichbar. Tourismus ist am geschichtsträchtigen Obersalzberg keine abwegige Idee, hatte doch bereits in den 1870er Jahren Mauritia Mayer hier die Pension Moritz eröffnet und wurde in der Gegend damit zur Tourismuspionierin. Vor allem Kultur- und Wirtschaftsprominenz machte seinerzeit das Gros ihrer Gäste aus, und so galt der Obersalzberg noch bis in die 1920er Jahre sogar als touristischer Geheimtipp.
Heute soll das «Kempinski Berchtesgaden» dazu beitragen, dass der Obersalzberg wieder wird, was die missbrauchte Gegend vor der Nazizeit einmal war – eine beliebte Fremdenverkehrsregion. Und so ist es nur folgerichtig, wenn auf dem Berg, den einst Nazischergen nach ihren Vorstellungen ganz für sich formen wollten, nun wieder die Kosmopoliten einkehren. Wenn unter ihnen ein paar bildungsinteressierte Gäste ihren Weg auch ins Dokumentationszentrum finden, kann es Sven Keller nur recht sein.
Intoleranz gegenüber Intoleranten
Am Ort der Täter gebührt es am Ende den Opfern, den Besuchern am Ausgang der Dokumentation das letzte Wort per Audiobotschaft mit auf den Weg zu geben. So sagt der fünfundneunzig Jahre alte Abba Naor, der als Einziger seiner jüdischen Familie den Holocaust überlebt hat: «Trotz allem, was ich als Kind in Litauen erlebt habe, habe ich es geschafft, ohne Hass zu leben . . . Und ich bin noch heute der Meinung, dass Leben eine feine Sache ist.» Allem menschenverachtenden Wahnsinn zum Trotz könnten diese versöhnlich stimmenden Worte einen zuversichtlichen Abschluss bilden, sobald man aus den ehemaligen Bunkeranlagen wieder hinaus ins Tageslicht der Realität tritt.
Doch die weiss-blaue Idylle wirkt plötzlich wie ein Trugbild. Schliesslich weiss man nur zu gut, wie perfide Politiker angesichts von Finanzkrise, Klimakrise, Ukraine-Krieg, Nahostkonflikt und steigender Inflation die Unzufriedenheit der Bevölkerung momentan aufsaugen, nur um Hass zu schüren.
Wenn die Geschichte der Demokratie in Deutschland in Anbetracht des erstarkenden Rechtsextremismus eine Lehre für die Gegenwart bereithält, lohnt es sich an dieser Stelle, an den Staatsrechtler und Politiker Carlo Schmid zu erinnern. Er war nach dem Zweiten Weltkrieg massgeblich an der Ausarbeitung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beteiligt und hielt seinerzeit eine Rede im Parlamentarischen Rat, in der er folgende Forderung stellte: «Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer blossen Zweckmässigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.» Eine Erkenntnis, die auch nach fünfundsiebzig Jahren nichts an Brisanz verloren hat.
Diese Reportage wurde vom Kempinski-Hotel Berchtesgaden unterstützt.
Gut zu wissen
Anreise
Von Salzburg mit dem Zug oder dem Regionalbus in zirka einer Stunde nach Berchtesgaden. Ab dem Hauptbahnhof Berchtesgaden fährt die Buslinie 838 zum Obersalzberg.
Dokumentation Obersalzberg
www.obersalzberg.de
Kempinski-Hotel Berchtesgaden
www.kempinski.com/de/berchtesgaden, DZ ab 330 Franken
Tourismusregion Berchtesgaden-Königssee
www.berchtesgaden.de