Reto Branschi hat sich prominente Hilfe geholt für die Vermittlung zwischen Einheimischen und jüdischen Gästen. Er befürchtet, das WEF könnte den Bündner Wintersportort verlassen.
Sie wären im vergangenen November als Tourismusdirektor von Davos/Klosters ordentlich pensioniert worden. Jetzt stehen Sie mitten in einem Proteststurm, weil der Pächter des Bergrestaurants Pischa ein Plakat aufhängte, auf dem stand, dass keine Schlitten an Juden vermietet würden. Bereuen Sie, dass Sie geblieben sind?
Nein, mein Leben war immer reich an Herausforderungen. Natürlich habe ich den Ärger nicht gesucht. Ich wollte bis im Frühjahr bleiben, weil es nicht ideal ist, wenn jemand Neues den Job kurz vor der intensiven Wintersaison übernehmen muss. Mir liegt aber auch daran, noch eine Lösung zu finden im Umgang mit den jüdisch-orthodoxen Gästen von Davos.
Wie kann ein Davoser Touristiker in der heutigen Zeit derart danebenhauen?
Dem Pächter sind nach mehreren Vorfällen die Sicherungen durchgebrannt. Er wollte zuvor schon orthodoxe Jugendliche, die auf der Restaurantterrasse picknickten, darauf hinweisen, dass das nicht erlaubt sei. Sie müssen ihn daraufhin hart angegangen sein, obwohl es auf den Tischen Schilder hatte: «Picknick verboten». Ein solches Plakat hätte er trotzdem nicht machen dürfen.
Sie haben das Plakat des Pächters verurteilt. Allerdings gab es auch schon früher antisemitische Vorfälle. Trotzdem haben Sie 2019 ein Projekt mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) gekündigt, das die Situation entspannen sollte.
Die Idee war, Kulturvermittler einzusetzen, wie es zuvor erfolgreich bei den chinesischen Touristen gemacht wurde. Dort hat es funktioniert, weil die Chinesen meist in Gruppen kommen. Bei den rund 3000 jüdischen Touristen, die sich im Sommer in Davos aufhalten, zeigte sich bald, dass sie so nur schwer zu erreichen sind. Die drei Vermittler sind gar nicht an die richtigen Leute herangekommen. Deshalb habe ich dem SIG gesagt, dass wir eine andere Lösung suchen müssten. Ein Jahr später kündigten wir den Vertrag dann.
Wie sieht die neue Lösung aus?
Im letzten September habe ich eine Task-Force gegründet unter der Leitung des ehemaligen Staatssekretärs und Topdiplomaten Michael Ambühl. Wir organisierten zuerst einen runden Tisch für die Einheimischen. Es nahmen Bauern, Hoteliers, Sporthändler, Bergbahnvertreter und auch Zweitwohnungsbesitzer teil. Zuerst gab es eine «Chropfleerete», aber dann kamen Vorschläge für konkrete Massnahmen. Ambühl ging anschliessend mit der Liste zu verschiedenen Personen der jüdischen Seite. Sie steuerten weitere Ideen bei.
Man war also auf einem guten Weg.
Absolut. Wir hatten einfach Pech. Am Freitag vor dem Vorfall im «Pischa» haben wir uns auf neun Massnahmen geeinigt.
Was sind das für Massnahmen?
Sie sind noch nicht spruchreif. Wir wollen sie zuerst mit dem SIG und weiteren Vertretern der jüdischen Gemeinschaft diskutieren. Vielleicht wird etwas wieder verworfen, oder es kommen noch neue Vorschläge dazu.
Sind Sie zuversichtlich, dass Sie mit dem SIG noch eine Einigung finden nach dem Eklat im «Pischa»?
Ich bin überzeugt, dass wir eine Lösung finden, damit sich Gäste und Ortsansässige mit Respekt begegnen können. Man muss die Vorfälle im «Pischa» verurteilen, das ist sonnenklar, aber der Dialog geht weiter. Man darf nicht alle in einen Topf werfen und sagen: «Davos ist antisemitisch.» Es war eine Person, die dieses Schild zu verantworten hatte. Und diese hat sich entschuldigt.
Wie sind Sie auf Michael Ambühl als Task-Force-Leiter gekommen?
Ich habe ihn am WEF kennengelernt. Später, als die Wogen hochgingen nach der Kündigung des Projekts mit dem SIG, kontaktierte er mich und bot seine Hilfe an. Ich kann ja nicht selbst als Vermittler auftreten. Für einen Teil der jüdischen Seite bin ich das Feindbild. Ich finde zwar, zu Unrecht, aber das würde wohl jeder in dieser Situation sagen.
Sie erwähnen das WEF. Es macht Davos in der Welt bekannt, und doch steht Davos weltweit in der Kritik wegen der hohen Hotelpreise.
Die Hotels verdienen nicht so gut, wie man meint. Von den 80 Hotels sind 75 mit einem Vertrag ans WEF gebunden. Darin ist festgelegt, dass sie den höchsten Preis der Saison verlangen dürfen und einen Zuschlag von 20 bis 50 Prozent, je nach Betrieb. Der Aufschlag entschädigt ihren Zusatzaufwand. Die Hotels sichern dem WEF vertraglich 80 Prozent ihrer Betten zu. Die restlichen benötigen sie meist für das während des WEF notwendige zusätzliche Personal. Wenn man liest, dass Hotels fünfstellige Beträge verlangen für eine Nacht, dann sind das in der Regel die fünf Betriebe, die keine Verträge mit dem WEF haben. Und die Ferienwohnungsbesitzer.
Die Ferienwohnungsbesitzer machen richtig Kasse?
Ja, an der Versammlung der Stockwerkeigentümer ist man der Held, wenn man durch die Vermietung 5000 Franken mehr eingenommen hat als der Nachbar. Diese Preistreiberei bringt das WEF in eine schwierige Lage. Entweder bezahlt es Phantasiepreise, um seine eigenen Mitarbeiter unterzubringen, oder es quartiert sie anderswo ein, immer weiter weg von Davos.
Sie sagten einmal, manche betrachteten das WEF als Milchkuh.
Ja, die Trittbrettfahrer werden zunehmend zum Problem.
Zum Beispiel?
Anbieter von Kryptowährungen. Diese Firmen nehmen nicht teil am WEF. Sie interessierten sich aber für die prominenten Besucherinnen und Besucher. Sie investieren eine Million Franken, um einen Pavillon aufzustellen. Wie viel die Unterkünfte ihrer Angestellten kosten, spielt keine Rolle. Mit diesem Gebaren treiben sie die Preise weiter in die Höhe. Trittbrettfahrer sind aber auch die Wohnungsvermieter. Ich appelliere jedes Jahr an sie, es nicht zu übertreiben. Oder die verschiedenen Vermittlungsfirmen und Limousinenanbieter. Sie kommen hierher, nutzen das WEF, zahlen aber keinen einzigen Franken Steuern in Davos.
Wie gross ist die Gefahr, dass das WEF deswegen nicht mehr nach Davos kommt?
Das müssten Sie das WEF fragen. Aber die Lage ist schwierig. Wir haben grosse Mühe, Zimmer für die Sicherheitskräfte zu finden. Die können nicht jeden Preis bezahlen. Wenn Sie das Sicherheitspersonal nicht mehr unterbringen können, ist das WEF in Davos am Ende.
Wie schlimm wäre es für Davos, wenn das WEF nicht mehr in den Bündner Bergen stattfände?
Für drei bis vier Jahre wäre es eine massive Zäsur. In den Hotels gäbe es gewaltige Überkapazitäten. Doch nach dieser Übergangszeit würde es uns wieder so gut gehen wie anderen Bergdestinationen. So viele Sportarten wie bei uns kann man wohl in keiner anderen Winterdestination ausüben. Zudem darf man nicht vergessen, dass eine unserer grossen Stärken bei den Kongressen liegt. Zurzeit besetzt das WEF von Mitte Dezember bis am 7. Februar das Kongresszentrum. Wenn es denn, was hoffentlich nicht geschehen wird, Davos verlässt, dann könnten wir in dieser Zeit einen weiteren Kongress akquirieren, natürlich niemals mehr mit der gleichen Wertschöpfung wie beim WEF.
Der Ferienort hat ja eine lange Tradition, die die Serie «Davos 1917» in Erinnerung gerufen hat. Spüren Sie einen Effekt dieser Fernsehproduktion?
Es gab sehr viele positive Reaktionen. Bei mir haben sich einige Zweitwohnungsbesitzer gemeldet, die wegen der wieder erweckten Geschichte Davos von einer neuen Seite entdeckt haben. Auch aus Deutschland, wo Davos ohnehin einen guten Namen hat, haben wir viele Rückmeldungen erhalten.
«Davos 1917» lebt stark vom Hotel Schatzalp, wo hauptsächlich gedreht wurde.
Das ohnehin schon bekannte Hotel hat noch einmal einen Bekanntheitsschub erhalten. Mit seinem Konzept des ersten entschleunigten Skigebiets Europas passt es wunderbar zu Davos. Alle anderen Gebiete unserer Destination leben von perfekt präparierten Pisten und Freeride-Möglichkeiten.
Wie sieht es generell mit der Zukunft des Wintersports aus? Die schweizerische Gesellschaft wird ja immer multikultureller.
Viele Secondos haben keinen Bezug zum Schneesport, das stimmt. Angesichts der Bemühungen, welche die Skischulen und Swiss Ski unternehmen, würde ich darauf wetten, dass wir unter den Spitzenfahrern bald einen Secondo haben werden. Sei dies bei den Damen oder bei den Herren. Sobald wir ein solches Aushängeschild haben, dürfte diese Community fast automatisch auf die Ski steigen.
Also haben Sie keine Sorgen?
Im Moment nicht. Wie der Winter in dreissig oder sechzig Jahren ist, wissen wir nicht. Wenn ich sehe, was abläuft, wenn wir zu Beginn der Saison die ersten paar Pisten öffnen, dann ist mir im Moment keineswegs bange. Unten in Zürich sitzen die Leute im Nebel, und wir haben schon im November herrlich sonnige Verhältnisse. Das macht doch einen grossen Teil der Faszination des Schneesports aus, die nie verschwinden wird. Doch auch für höher gelegene Skigebiete wie Davos braucht es in Zukunft mehr Flexibilität.
Was heisst das konkret?
In den USA gibt es Skigebiete, die die Bahnen so umgebaut haben, dass im unteren Teil der Bike-Transport möglich ist. An solchen Vorbildern müssen auch wir uns orientieren. Man muss das Angebot so anpassen, dass bei den entsprechenden Wetterbedingungen unten die Jogger und Wanderer und oben die Schneesportler die idealen Bedingungen vorfinden.
Das Skigebiet Andermatt-Sedrun setzt mit der amerikanischen Firma Vail Resorts auf einen ausländischen Betreiber der Ski- und Bahnanlagen. Ist das auch für Davos ein Thema?
Soviel ich weiss, ist das für die Bergbahnen Davos Klosters kein Thema. Es hat natürlich Vorteile, wenn man Teil eines Verbundes mit Skigebieten auf der ganzen Welt wird. Doch das amerikanische Modell muss vor allem eines, nämlich Geld einbringen. Ich bezweifle, dass die Bahnen in solchen Skigebieten laufen, wenn es sich nicht rentiert. Für alle anderen touristischen Akteure ist dies zentral. Wozu solche renditegetriebenen Konzepte führen, hat man in Crans-Montana gesehen. Dort hat der tschechische Besitzer 2019 einfach die Bergbahnen abgestellt, um seine Interessen durchzusetzen. Das macht kein Einheimischer.
Wie häufig gehen Sie selbst auf die Piste?
Wenn es die Zeit zulässt, jede freie Minute. Aber diese Momente sind leider selten, so dass ich pro Saison auf etwa vierzehn Skitage komme.
Sie waren früher Ganzjahresskilehrer.
Ich habe das Bündner Skilehrerpatent gemacht und war in jüngeren Jahren während des europäischen Sommers als Skilehrer in Neuseeland tätig. Dabei habe ich festgestellt, dass die Neuseeländer viel mutiger sind. Während 90 Prozent der Europäer absitzen, wenn ein Hindernis auftaucht, sind die Neuseeländer zumindest damals mit voller Geschwindigkeit weitergefahren. Das Wichtigste ist für sie, möglichst lange stehen zu bleiben.
Nicht mit Davos, sondern mit Klosters wird die englische Königsfamilie in Verbindung gebracht. König Charles III. hat ja dort das Skifahren erlernt.
Soviel ich weiss, wäre er nach Klosters gekommen, wenn er nicht erkrankt wäre. King Charles III. ist sehr verliebt in Klosters und ins Skifahren. Dies, obwohl er im März 1988 einen gewaltigen Schreckmoment erlebte, als er nur ganz knapp einer Lawine entkam. Bei diesem tragischen Unglück verlor ein Freund des damaligen Prince of Wales das Leben. Jetzt wäre er zum ersten Mal als König gekommen. Schade, dass es nicht geklappt hat.
Kommen die Engländer trotz Brexit noch?
Wegen der königlichen Tradition ist Klosters nach wie vor eine Hochburg der Briten. Wir haben den durch den Brexit und Corona verursachten Einbruch weitgehend aufgeholt.
Davos ist auch bei Gästen aus Deutschland sehr beliebt. Merken Sie, dass es unserem nördlichen Nachbarland wirtschaftlich nicht allzu gut geht?
Die Zahl der deutschen Gäste hat mit der Aufhebung des Euro-Franken-Mindestkurses 2015 und Corona in den letzten Jahren schon zweimal einen massiven Einbruch erlebt. Danach waren wir auf dem Weg zur Erholung. Jetzt merken wir, dass die schwierige wirtschaftliche Lage und der schwache Euro-Kurs Auswirkungen haben. Davos ist bei den Deutschen nach wie vor sehr beliebt. Das sieht man an den Autos in der Stadt, die vielleicht etwas höherklassig sind als früher. Wer es sich leisten kann, kommt nach wie vor nach Davos.
Auf welche neuen Märkte setzt Davos?
Wir haben ab 2014 stark auf China gesetzt. Innert kurzer Zeit stiegen die Logiernächte stark an. Doch dann hat uns Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt ziehen die Zahlen wieder an. Wir haben einen sehr guten Namen in China. Nicht zuletzt wegen des WEF. Allerdings mussten wir erst mit schönen Bildern unserer Landschaft klarmachen, dass hinter dem Summit of Davos nicht eine Firma steckt, sondern der Ort, wo das Treffen stattfindet.
Sind Gästegruppen aus Asien vereinbar mit dem Ziel, dass Davos bis 2030 der erste Schweizer Ferienort mit netto null Emissionen werden will?
Es war von Anfang an klar, dass die Anreise der Gäste nicht zur Erreichung dieses Zieles gehört, weil wir ihnen nicht vorschreiben können, wie sie anreisen. Wir streben an, dass Davos selbst CO2-frei wird. Ob wir dies als Ferienort erreichen, kann man momentan schlicht nicht sagen. Doch wir müssen jetzt handeln, und zwar vor der eigenen Türe. Wir sehen ja, dass der Schnee für den Wintersport zunehmend fehlt. 2030 ist ambitioniert, aber wir können nicht die Hände in den Schoss legen und das Ziel auf 2050 verschieben. Wenn wir 80 Prozent erreichen, bin ich sehr zufrieden.
Mit Ihnen geht einer der letzten bekannten, langjährigen Tourismusdirektoren in Pension. Warum macht man diesen Job heutzutage nicht mehr so lange?
Tourismusdirektor ist ein Verschleissjob, aber es ist auch ein Herzensjob. Wir haben kein Geld, um Ideen zu kaufen, aber wir können die Leute für Ideen begeistern. So kann man in dieser Position immer wieder neue Sachen machen und etwas ausprobieren, was man schnell wieder abbrechen kann, wenn es nicht klappt. Wo hat man dieses Privileg heute noch? Bei einer Bank haben sie zig Regulatoren, die Sie beaufsichtigen. Als Tourismusdirektor sind Sie viel freier, Ihre Ideen umzusetzen.
Reto Branschi
Der ehemalige Skilehrer ist seit 2007 Direktor der Destination Davos/Klosters.