Ingmar Björn Nolting / für NZZ
In Mecklenburg-Vorpommern ist die AfD in Umfragen die mit Abstand stärkste Partei. Die rot-rote Landesregierung spürt Panik, hat aber kein Rezept. In Schleswig-Holstein hingegen hält man die AfD durch Unaufgeregtheit und Fairness in Schach.
Der Bundestagsabgeordnete Leif-Erik Holm hatte in der DDR neben seiner Ausbildung zum Elektroniker auch als «Schallplattenunterhalter» gearbeitet. «Das war ein ostdeutscher DJ», sagt Holm: «nur in Wirklichkeit mit Kassetten statt Schallplatten.»
Nach der deutschen Wiedervereinigung war der heute 53-Jährige als Radiomoderator tätig, zuerst beim Norddeutschen Rundfunk, später bei privaten Radiosendern wie Antenne Mecklenburg-Vorpommern.
Aus dieser Zeit hat er sich ein angenehmes Auftreten, flotte Formulierungen und einen Sinn für Pointen bewahrt. Er trägt die Standarduniform der meisten Bundestagsabgeordneten: Anzug, Hemd, heute mal keine Krawatte. Sein Büro in Berlin sieht aus wie die meisten Abgeordnetenbüros: Schreibtisch, Besprechungstisch, das serienmässige kleine schwarze Ledersofa. Es gibt Kaffee.
Holm, der auch einen Masterabschluss in Volkswirtschaftslehre besitzt, stammt aus Schwerin und ist AfD-Landesvorsitzender. Parteifreunde halten es für wahrscheinlich, dass er 2026, wenn in Mecklenburg-Vorpommern Landtagswahlen anstehen, Spitzenkandidat seiner Partei sein wird. Im föderalen deutschen System spielen die Ministerpräsidenten eine wichtige Rolle. Würde Holm der erste AfD-Chef einer Landesregierung, käme das einer Sensation gleich.
Erfolg in den neuen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg
Die AfD befindet sich zurzeit in einer eigenartig ambivalenten Lage: Zum einen profitiert sie von der beispiellosen Unbeliebtheit der deutschen Ampelregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und FDP. In bundesweiten Umfragen kommt sie seit letztem Sommer stabil hinter den Christlichdemokraten (30 Prozent) auf Platz zwei – mit bundesweit um die 20 Prozent. In den ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg, in denen schon dieses Jahr Landtagswahlen anstehen, ist sie sogar Umfrage-Spitzenreiter mit jeweils gut 30 Prozent. So ist es auch in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. Die rechtspopulistische Protestpartei dominiert den Osten politisch.
Sie wird aber auch so hart unter Druck gesetzt wie kaum jemals zuvor. Seit die Recherche-Plattform Correctiv im Januar über ein Treffen von AfD- und Unionsmitgliedern mit dem österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner berichtete, bei dem angebliche Überlegungen zur massenhaften Abschiebung von Migranten diskutiert wurden, gibt es in vielen deutschen Städten grosse Demos «gegen rechts», Wochenende für Wochenende.
Der Verfassungsschutz hat die AfD im Visier. Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst nennt sie eine «Nazi-Partei». Manche Ampelpolitiker fordern ein AfD-Verbot; die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagt, sie könne sich das «vorstellen».
«Das ist eine grossangelegte Kampagne gegen die immer erfolgreichere Opposition», sagt Leif-Erik Holm in seinem Berliner Büro: «Jeder kann das durchschauen, und genau darum schadet es uns auch nicht wirklich.» Gerade die Ostdeutschen hätten ein feines Gespür für mangelnde Fairness – und für Politiker, die sich, wie die Vertreter der Ampelregierung, für unfehlbar hielten.
Die CDU werde ihre «Brandmauer» gegen die AfD nicht aufrechterhalten können: «Ob bei der unkontrollierten Einwanderung, den Auswüchsen der rot-grünen Gesellschaftspolitik, beim Widerstand gegen eine Überhöhung des Klima-Themas oder bei der teilweise absurden Entwicklungshilfe – bei alldem gibt es nur einen möglichen Partner für einen echten Politikwechsel.»
Holm glaubt gleichwohl, dass die CDU es nach den Wahlen diesen September in Thüringen, Sachsen und Brandenburg noch nicht wagen werde, mit der AfD zusammenzuarbeiten oder sie auch nur zu tolerieren. «Vielleicht haben wir 2026 in Mecklenburg-Vorpommern eine bessere Chance», sagt er: «Unser Landesverband ist eher norddeutsch-sachlich unterwegs. Das hilft uns, langfristig Vertrauen aufzubauen und auch diejenigen zu überzeugen, die noch nicht bei uns sind.»
In aktuellen Umfragen ist die AfD in Mecklenburg-Vorpommern beinahe doppelt so stark wie die CDU. Die in einer rot-roten Koalition mit der Linkspartei regierenden Sozialdemokraten sind alarmiert. War es ein Fehler, nach der letzten Wahl nicht mit der CDU zusammenzugehen, was auch möglich gewesen wäre? In der Staatskanzlei von SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig machen die Mitarbeiter sorgenvolle Gesichter. Über das Chaos der Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz ist man in der Landeshauptstadt Schwerin mehr als bekümmert. Schwesig distanziert sich, wo sie nur kann, von ihren Genossen in Berlin.
Gegenwind im alten Bundesland Schleswig-Holstein
Ganz anders sieht es für die Rechtspartei im benachbarten Bundesland Schleswig-Holstein aus. Dort gelang dem CDU-Ministerpräsidenten Daniel Günther 2022 mit 43 Prozent in seiner zweiten Wahl ein Erdrutschsieg. Die AfD verfehlte den Wiedereinzug in den Landtag und liegt in Umfragen deutlich unter dem Bundestrend. Von ostdeutschen Zustimmungswerten können die AfDler in Husum, Flensburg oder Kiel nur träumen. Doch was ist der Grund für diesen Unterschied? Welche Rahmenbedingungen – abgesehen vom offensichtlichen Ost-West-Faktor – sind anders?
Gemeinsamkeiten zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein gäbe es schliesslich genug: die norddeutsche, etwas untertemperierte Mentalität; die Ostsee-Anrainerschaft; der agrarische Charakter beider Bundesländer; die Werftindustrie; das häufig schlechte Wetter.
Die Suche nach Anschauung führt von Berlin nach Altentreptow in Mecklenburg-Vorpommern, dann in die Landeshauptstadt Schwerin, nach Rade am Nord-Ostsee-Kanal, schliesslich in Schleswig-Holsteins Landeshauptstadt Kiel. Im einen Bundesland ist die AfD in Umfragen stärkste Kraft, im anderen eine Partei unter ferner liefen: Woran liegt das?
Roadtrip mit Radio: eine akustische Reise durch Norddeutschland
Auf langen Fahrstrecken lässt sich gut Radio hören. Was erzählt das klassische Medium des Rundfunk-Unterhalters Leif-Erik Holm über sein Land?
Der öffentlichrechtliche Sender RBB, Rundfunk Berlin Brandenburg, berichtet über die neue Rechtspartei des ehemaligen CDU-Politikers und ehemaligen Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maassen. Er wird inzwischen von seinen Ex-Kollegen wegen Zweifeln an seiner Verfassungstreue und der Verwendung «antisemitischer Stereotype» beobachtet.
Weitergedreht zu Radio 1 aus Berlin geht es jetzt um das Buch «Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen». Autor ist der Jurist Hendrik Cremer, er warnt vor der AfD.
An den Fenstern des Autos fliegt zunächst die uncharmante brandenburgische Landschaft mit ihren riesigen wintergrauen Feldern vorbei. An der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern grüsst ein Schild mit dem Landesmotto: «Willkommen im Land zum Leben». «Willkommen im Land zum Sterben» wäre ja auch ein blöder Slogan gewesen, wobei vielleicht näher an der Wahrheit: Mecklenburg-Vorpommern kämpft, wie die anderen östlichen Bundesländer, praktisch seit der Wende mit Abwanderung. Was im Klartext bedeutet: Viele der Schnellen und Mobilen, viele Frauen sind gegangen.
Kiss Radio aus Berlin berichtet, dass wegen eines Streiks des deutschen Flugsicherungspersonals an diesem Tag mehr als 1000 Flüge ausfallen.
Antenne Brandenburg meldet, dass protestierende Bauern mit ihren Traktoren etliche Autobahnauffahrten blockieren.
Auf dem öffentlichrechtlichen Sender Radio Fritz! aus Berlin wird eine grosse Demonstration in der Hauptstadt «gegen rechts» für das kommende Wochenende angekündigt.
NDR 1 Radio Mecklenburg-Vorpommern meldet, dass wegen eines Streiks der Gewerkschaft Verdi nahezu der gesamte öffentliche Nahverkehr ausfalle. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es im ostdeutschen Bundesland ohnehin nicht übermässig viel, aber heute eben gar keine Busse und Bahnen mehr.
Auf Schlagerradio mit Sitz in Berlin läuft Helene Fischers Superhit «Atemlos durch die Nacht».
Windräder verstellen die Perspektive
Betonkrebs hat die Autobahn zerfressen. Wegen der Schäden ist die erlaubte Geschwindigkeit auf 80 Kilometer pro Stunde gesenkt worden. Altentreptow nähert man sich also recht langsam. Das Städtchen hat 5300 Einwohner, viele Geschäfte im historischen Zentrum stehen leer; unmittelbar hinter den Wohnhäusern ragen Windräder auf.
Windkraft und die von der Ampelregierung ausgerufene Energiewende sind in Deutschland durchaus kontroverse Themen. Viele Menschen begrüssen die Aussicht auf eine CO2-freie Zukunft, doch die Begeisterung nimmt meistens ab, wenn Stromtrassen und Windräder das eigene Grundstück oder Naherholungsgebiet bedrängen. Dann ist von «Verspargelung» die Rede, von der Zerstörung gewachsener «Erinnerungslandschaften».
Wie auch immer man zu diesen Fragen steht: In der Gegend um Altentreptow haben die Windplantagen überwältigende Ausmasse angenommen. Es gibt hier keine Perspektive, keinen Horizont ohne Windrad. Nachts, wenn die Türme und Rotoren beleuchtet sind, glaubt man durch eine gewaltige, rotglühende Industrieanlage zu fahren.
Es mag notwendig und sinnvoll sein, die erneuerbaren Energien drastisch auszubauen. Und es mag naheliegen, das unter anderem in dieser dünn besiedelten Gegend nahe der polnischen Grenze zu tun. Aber den Menschen, die hier noch leben, signalisieren die Anlagen eben auch, dass es auf ihr ästhetisches Empfinden, auf ihre Erinnerungen an die Landschaft ihrer Kindheit, nicht so sehr ankommt.
Am Stammtisch in Altentreptow geht es hoch her
«Verspargelung» ist denn auch eines der Themen, die Nikolaus Kramer unter viel Kopfnicken und zustimmendem Murmeln seines Publikums anspricht. Der 47-jährige Polizeioberkommissar ist Vorsitzender der AfD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Er hat zum Stammtisch in die Kneipe «Zur Kegelbahn» eingeladen, und etwa 60 Altentreptower sind gekommen. Für eine politische Veranstaltung an einem Abend unter der Woche sind das viele.
Die «Kegelbahn» ist ein Zweckbau ohne erkennbaren optischen Vorzug. Ihre Wände, Vorhänge und Möbel strömen möglicherweise seit Jahrzehnten den Geruch von altem Frittierfett aus, aber das Essen, zum Beispiel das Bauernfrühstück aus frischen Eiern, Kartoffeln und krossem Speck, schmeckt den Gästen erkennbar ausgezeichnet.
Das Verhältnis von Männern zu Frauen liegt an diesem Abend bei zehn zu eins. Kramer erklärt sich das damit, dass Frauen sich nicht so stark für Politik interessierten wie Männer: Mütter würden nun einmal ihre Kinder stillen und betreuen, sie hätten weniger Zeit und das Bedürfnis, abends und an Wochenenden Parteiveranstaltungen zu besuchen.
Ähnliche Äusserungen haben Kramer im Schweriner Landtag den Ruf eingetragen, ein Frauenfeind zu sein. Es ist allerdings ein bisher von niemandem abschliessend behobener Umstand, dass Frauen in allen deutschen Parteien unterrepräsentiert sind, auch wenn diese sich noch so sehr um Frauenförderung bemühen. Selbst bei den Grünen liegt der Anteil weiblicher Mitglieder nur bei 42 Prozent, bei den Sozialdemokraten bei 33 Prozent.
Hauptthema des Abends sind die Correctiv-Berichterstattung und die zahlreichen Demonstrationen «gegen rechts». Der politische Gegner versuche permanent, die AfD als «braune Gefahr» zu stigmatisieren und ihre Anhänger in die rechtsextreme Ecke zu drängen, sagt Kramer: Den Ton setze dabei zum Beispiel der Bundespräsident, wenn er AfD-Wähler als «Ratten» bezeichne.
Aber hat Frank-Walter Steinmeier das getan? Er warnte wiederholt vor «rechten Rattenfängern». Im deutschen Feuilleton wird das so verstanden, dass er potenzielle Wähler der AfD warnen wolle, naiv wie die Hamelner Kinder aus dem bekannten Märchen rechten Verführern zu folgen. In der Stammtischrunde interpretiert man die Aussage aber anders: Man fühlt sich durchaus selbst als «Ratte» gemeint.
Tatsächlich ist der Ton gegenüber AfD-Anhängern mitunter ziemlich ungebremst. Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagte beispielsweise über die Umfrageerfolge der in Teilen rechtsradikalen Partei: «Je grösser der Haufen Scheisse, umso mehr Fliegen sitzen drauf.»
Das sei unerträglich, sagt Kramer in der «Kegelbahn». Die AfD sei eine wertkonservative, freiheitliche Partei des Grundgesetzes ohne jede totalitäre Bestrebung, und wer ihre Anhänger ständig als Nazis bezeichne, relativiere die Verbrechen des Nationalsozialismus. Trotz der Stimmungsmache und Stigmatisierung verzeichne die Partei in diesen Tagen Zulauf, die Eintrittsgesuche häuften sich in den Geschäftsstellen, und mehr Leute hätten den Mut, sich offen zu AfD-Positionen zu bekennen.
Ein älterer Herr will wissen, woher die ganzen Anti-rechts-Demonstranten plötzlich kämen. Ob es stimme, dass die bezahlt würden? «Ja, genau!», ruft ein anderer aus dem Publikum, 300 oder 400 Demonstranten würden von einer Demo zur nächsten gefahren. In Sachsen, meint ein weiterer Teilnehmer am AfD-Stammtisch, sei beobachtet worden, wie die Polizei solche Demonstranten zum Bahnhof eskortiert habe.
Kramer lässt die Debatte eine Weile laufen, dann greift er ein: Es tue ihm leid, sagt er, aber das mit den bezahlten Demonstranten sei Quatsch. «Und ganz ehrlich, wer so etwas verbreitet, der schadet uns.» Kein Bürgermeister, keine Verwaltung könne Honorare für Demonstranten abrechnen – und es sei schlicht die Aufgabe der Polizei, die Versammlungsfreiheit zu schützen: «ob für die NPD oder die Antifa». Deshalb begleite sie eben manchmal Demonstranten.
Natürlich, sagt der Abgeordnete, gebe es «Idioten-NGO» und Vereine, die steuerfinanziert seien und die Kundgebungen mitorganisierten. Das sei ärgerlich, aber damit müsse man sich politisch auseinandersetzen.
Nikolaus Kramer ist ein widersprüchlicher Mensch, in gewisser Weise typisch für die Doppelgesichtigkeit der AfD, für ihr Schwanken zwischen Rechtsstaatlichkeit und antipluralistischem Grenzgängertum. Einerseits macht Kramer einen reichlich unkritischen Podcast mit genau jenem Chefideologen der rechtsextremen «Identitären Bewegung», Martin Sellner, der gerade im Zentrum der Correctiv-Recherche steht.
Andererseits versucht er an diesem langen Diskussionsabend, rationale Erklärungen für Phänomene anzubieten, die seine Gäste gern in Verschwörungstheorien kleiden würden.
«Ich glaube nicht, dass Innenministerin Nancy Faeser wirklich fürchtet, wir würden mit Fackelmärschen ein ‹viertes Reich› errichten», sagt er: «Aber wenn wir Mehrheiten für unsere Politik bekommen, und danach sieht es zurzeit aus, dann wird der Kuchen immer kleiner für die anderen. Sie haben Angst vor uns, weil wir ihre schlechte Politik hinterfragen und parlamentarisch kontrollieren. Und sie haben zu Recht Angst, denn sie machen ja einen Fehler nach dem anderen.»
Am Stammtisch in Rade sind sie unzufrieden
Am nächsten Tag geht es weiter nach Schleswig-Holstein. Mindestens wegen der schicken Nordseeinsel Sylt kennen auch viele Schweizer das Bundesland. Hier hat die AfD an den Landtagswahlen vor zwei Jahren eine empfindliche Schlappe erlitten, sie verpasste den Wiedereinzug ins Landesparlament. Auch Schleswig-Holstein hat ein Landesmotto: «Der echte Norden», lautet es. Während man noch darüber grübelt, was der falsche Norden sein könnte – Mecklenburg-Vorpommern? Oder der stets etwas arrogant auftretende Stadtstaat Hamburg? –, hat Peter Harry Carstensen das Navigationsgerät seines Smart-SUV endlich gezwungen, den Weg zu «Brauers Aalkate» auszuspucken. Zwischen den hier «Knicks» genannten Hecken, die den Wind bremsen, geht es an kleinen Höfen vorbei.
Der 76-jährige Carstensen war von 2005 bis 2012 CDU-Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, ein überaus populärer Politiker, studierter Landwirt, der das Lebensgefühl der Schleswig-Holsteiner gut verkörperte: unaufgeregt, bodenständig, direkt, humorvoll.
Wir wollen zu Hans Brauer, einem Fischer und Gastronomen, der in Rade am Nord-Ostsee-Kanal sein Restaurant betreibt. Wir müssen nicht nur dorthin, weil es dort die besten Fischgerichte in Norddeutschland gibt, sondern auch weil Brauer als prototypischer, unerschütterlicher CDU-Kernwähler gelten konnte. Bisher. Carstensen will, dass man Brauer fragt, ob der noch die Union wähle. Er fragt dann gleich selbst: «Na, Hans, wählst du uns noch?» Brauers Antwort ist norddeutsch-präzise: «Nää».
Andere Gäste driften an den Tisch, an dem Carstensen und der Wirt sitzen, hier kennen sich die meisten. Von der schwarz-grünen Landesregierung, die mit Ministerpräsident Daniel Günther bei der Landtagswahl 2022 mehr Prozente geholt hat als SPD, Grüne und FDP zusammen, halten sie nicht so viel. «Er hätte mit der FDP koalieren können, ist aber mit den Grünen zusammengegangen», sagt Brauer: «Das sind schlimme Vertreter, die Grünen.»
Die Fischerei habe diese schwarz-grüne Landesregierung ganz und gar vergessen: «Unser Handwerk stirbt.» Gequält würden die Fischer unter anderem durch exzessiven Otterschutz: «Die Otter haben sich so ausgebreitet, dass es fast keine Binnenfischerei mehr gibt. Seen und Teiche sind leergefressen, es sind weder Frösche noch Fische noch Enten oder Blesshühner übrig.» Trotz dieser Situation werde in Schleswig-Holstein gerade ein Otterschutz-Zentrum aufgebaut – «für neun Millionen Euro Steuergeld!».
Wird Brauer bei der nächsten Landtagswahl AfD wählen? «Ich weiss nicht, was ich machen soll», sagt er. Hoteliers und Jäger in Mecklenburg-Vorpommern würden vielleicht weniger hadern.
Einer, der auch gern in der «Aalkate» einkehrt, ist Christian Hauck, Professor für Politische Kommunikation an der Fachhochschule Kiel. In einem früheren Leben war er schleswig-holsteinischer Regierungssprecher, kennt die Landespolitik also aus praktischer wie aus wissenschaftlicher Sicht. Was glaubt er: Warum ist die AfD in Schleswig-Holstein bisher so viel erfolgloser als in Mecklenburg-Vorpommern? Warum ist sie hier erfolgloser als in den meisten anderen Bundesländern?
Die glücklichsten Deutschen: standhaft gegen Veränderungen
«Alle Entwicklungen erreichen Schleswig-Holstein etwas später als den Rest der Republik», sagt Hauck. «Und die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen sind hier schwächer.» Die CDU sei im Land immer noch verwurzelt. Und zudem gebe es eine lebendige Kultur der Wählergemeinschaften, die an vielen kleinen Orten als einzige politische Kraft aufträten. «Da können Links-Grüne oder AfDler dabei sein, aber am Ende verständigen sich alle darauf: Hier geht es um das Dorf», sagt Hauck.
Die Schleswig-Holsteiner seien nach allen einschlägigen Umfragen die glücklichsten Menschen in Deutschland. Sie wollten keinen Ärger, und sie redeten sich nicht so gern «die Köppe heiss».
Der amtierende Ministerpräsident Daniel Günther tritt derweil als strahlender Wahlprimus der ganzen CDU Deutschlands selbstbewusst auf. Er paktiert in der Tat mit den Grünen, obwohl auch ein Bündnis mit den Freien Demokraten möglich gewesen wäre. Er tut das wohl vor allem, um so die SPD-Opposition kleinzuhalten, die es sich auf keinen Fall mit den Grünen verderben möchte. Dementsprechend gibt es im Land wenig politischen Streit, und das führt zu einem harmonischen Regierungsbild in der Presse.
Daniel Günther antwortet auf Anfrage schriftlich, er vermute, der richtige Weg, mit der AfD umzugehen, sei es tatsächlich, möglichst wenig zu polarisieren und als Regierung gut zusammenzuarbeiten. Dieses Erfolgsrezept nimmt er schon für seine erste Regierung, «Günther/Habeck» mit Grünen und FDP von 2017 bis 2022, in Anspruch. «Man muss Unterschiede in einer Koalition als Stärken definieren und nicht als Schwächen. Und man muss dem Partner Erfolge gönnen und diese nicht gleich zerreden.» Das sei offenbar das Problem der «Ampel» in Berlin: «Man spürt die Differenz selbst als Aussenstehender, weil jeder Kompromiss, sobald er gefunden ist, von mindestens einem der drei Koalitionspartner schlechtgeredet wird.»
Warnung vor rechtsextremistischem Verhalten
Günther hat von seiner Staatskanzlei aus einen Blick auf die Kieler Förde, auf Werften, Kreuzfahrtschiffe, einen Jachthafen. Eine grosse deutsche Zeitung hat einmal über Kiel geschrieben, eine Stadt am Meer könne niemals völlig provinziell sein. Trägt das zum liberalen Klima, zur Entspanntheit in der Landeshauptstadt bei?
Anders als manche CDU-Kollegen würde Günther die AfD nicht «Nazi-Partei» nennen. Er sagt aber, sie sei «gefährlich in ihren Strukturen». In mindestens drei Bundesländern sei sie rechtsextremistisch und verfolge verfassungsfeindliche Ziele. Insofern sei es auch inakzeptabel, diese Partei aus Protest zu wählen. Allerdings müssten Probleme, die die Bevölkerung beschäftigten, von den politisch Verantwortlichen zur Kenntnis genommen und gelöst werden. So zum Beispiel «der starke Zuzug Geflüchteter», wie Günther es ausdrückt.
Wer sich an der Förde bei Regierungs- wie bei Oppositionspolitikern umhört, dem fallen weitere Faktoren auf, die möglicherweise zur Schwäche der AfD in Schleswig-Holstein beitragen. Einer davon könnte die Existenz des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) sein. Die politische Vertretung der dänischen und friesischen Minderheit im Land ist zwar linksliberal, aber auch sehr pragmatisch. Wer mit dem deutschen Parteienangebot unzufrieden ist, kann auf den SSW ausweichen. Im Schleswig-Holsteinischen Landtag mit 69 Abgeordneten sitzen zurzeit vier SSWler, im Deutschen Bundestag mit 736 Sitzen einer.
«Auch die deutschen Wähler sehen, dass man in Dänemark sehr viel konstruktiver mit dem Thema Einwanderung umgeht», sagt Lars Harms, der Fraktionsvorsitzende des SSW im Kieler Landtag: «Jeder Mensch, der nach Dänemark kommt, wird angehalten, als Erstes Dänisch zu lernen. Die Kommunen sind verpflichtet, jeden Einwanderer innerhalb von fünf Jahren in Arbeit zu bringen. Ghettobildung in dänischen Städten lässt man dort nicht zu.»
Im Übrigen, das weiss auch Harms, seien die Schleswig-Holsteiner die glücklichsten Deutschen – und deshalb wohl ein bisschen weniger aufgeregt als die meisten anderen.
Die Bedeutung von Besonnenheit: Fairness als Waffe
Dass Unaufgeregtheit das beste Mittel gegen AfD-Erfolge sei, glaubt auch der ehemalige CDU-Politiker Hans-Jörn Arp. Als parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Mehrheitsfraktion war er für die organisatorische Abstimmung mit den Kollegen von der AfD in deren bisher einziger Wahlperiode im Landtag zuständig. «Wir haben keinem ihrer Anträge zugestimmt, aber wir haben uns in Bezug auf Verfahren und Tagesordnung immer fair verhalten», sagt Arp.
Was meint die AfD dazu? Gespräch mit Arps ehemaligem Gegenüber, dem früheren parlamentarischen Geschäftsführer der AfD-Landtagsfraktion, Volker Schnurrbusch. Wir treffen uns in der Landesgeschäftsstelle der Partei – online. Die Fenster sind mit Wahlplakaten vollgeklebt; das Büro liegt in einem weniger ansprechenden Teil der Kieler Innenstadt. Schnurrbusch ist per Laptop zugeschaltet, er macht gerade Ferien auf den Kanarischen Inseln, bevor er als Spitzenkandidat seiner Partei in den bevorstehenden Europawahlkampf zieht. Gewählt wird das neue EU-Parlament im Juni. Schnurrbusch sagt: «Im Landtag bin ich in meiner Funktion von den CDU- und FDP-Abgeordneten meist fair behandelt worden.»
Nur der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende Ralf Stegner sei regelmässig ausfällig geworden. «Stegner hat nie verstanden, dass er uns damit eigentlich nützt», sagt Schnurrbusch. Der AfD-Landesvorsitzende Kurt Klaus Kleinschmidt, der ebenfalls an der Videokonferenz teilnimmt und Zimtplätzchen mitgebracht hat, sieht das ähnlich. Vor dem Wahlkampf noch einmal Ferien zu machen, das habe seine Frau verlangt, erzählt Schnurrbusch dann noch. Aber so richtig klappe es nicht: Er sitze jeden Tag stundenlang in Online-Konferenzen.
Die Zeiten seien aufgewühlt, es gebe viel zu besprechen; das Interesse an der AfD sei lebhaft. Kleinschmidt hält zum Beweis einen Packen Mitgliedsanträge in die Kamera. «Die aktuelle Kampagne gegen rechts schadet uns jedenfalls nicht», sagt er. Für Eintrittswillige gibt es sorgfältige Aufnahmegespräche. Kleinschmidt ist mit einer Dänin verheiratet. Und könnte sich auch gut vorstellen, in Dänemark zu leben: «Nur – als aktiver AfD-Politiker geht das natürlich nicht.»
Zurück noch einmal nach Schwerin, in die Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns, in der die AfD 2026 zu regieren hofft. Es ist ein anderer Abend, mehr als 200 Personen sind in den grossen Saal des Rathauses am Marktplatz gekommen. Gastgeber ist der AfD-Bundestagsabgeordnete Leif-Erik Holm. Die Partei gibt Getränke aus. «Es muss eine Leitkultur geben, damit unsere Kultur erhalten bleibt», sagt Holm auf der Bühne: «Wir wollen unser Leben hier weiterleben, wir wollen, dass Deutschland das Land der Deutschen bleibt.»
Als Gastredner hat er einen radikaler auftretenden Bundestagskollegen eingeladen, Christian Wirth aus dem Saarland. Der sagt, wenn Alice Weidel, die Co-Vorsitzende der AfD, Bundeskanzlerin sei, habe er selbst vielleicht ja die Chance, Innenminister zu werden. Und dann würden «die Grenzen dicht gemacht.» Gerade täten SPD und CDU/CSU «alles gegen Deutschland», was sie könnten. «Dagegen müssen wir bis zum letzten Blutstropfen kämpfen.»
Das ist dann doch der Sound, der viele in Deutschland verstört. So reden Demokraten nicht. Dieses drohende «Wir können auch anders» hat unglückliche historische Anklänge. Offenbar ringt die AfD noch um ihren Weg. Dabei sollte die demokratische Öffentlichkeit zuhören, hinschauen und sich einmischen. Hat eine der Lokalzeitungen über die Versammlung berichtet? «Natürlich nicht», sagt anderntags Leif-Erik Holm.