Bei der Veröffentlichung eines vertraulichen Gesprächs zwischen Bundeswehroffizieren geht es Russland nicht um Spionage, sondern um psychologische Kriegsführung. Die Analyse eines Musterbeispiels.
Deutschland ist in Aufruhr. Die Chefpropagandistin des Kremls, Margarita Simonjan, hat vor wenigen Tagen den Mitschnitt eines Gesprächs zwischen Bundeswehroffizieren publiziert. Nun steht die Frage im Raum, wie eine solche Abhöraktion gelingen konnte. Und ob Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern die Wahrheit gesagt hat.
Die russische Aktion hat den gewünschten Erfolg erzielt. Denn beim abgehörten Gespräch ging es nicht primär um Spionage, sondern um eine geschickte Informationsoperation. Das Ziel ist die Beeinflussung der Politik und der öffentlichen Meinung – in Deutschland, im Westen und in Russland. Der Fall ist ein Musterbeispiel für eine Operation der psychologischen Kriegsführung.
Aufnahme stammt nicht aus komplexer Spionageaktion
Wer hinter der Abhöraktion steht, ist nicht belegt. Es ist aber davon auszugehen, dass ein russischer Nachrichtendienst seine Finger im Spiel hatte. Ein internes Leck bei der Bundeswehr ist nach dem aktuellen Wissensstand wenig wahrscheinlich. Auch eine Aktion eines westlichen Landes kann praktisch ausgeschlossen werden, weil kein klarer Vorteil für die Briten oder die Amerikaner erkennbar ist.
Russland führt regelmässig solche Beeinflussungsoperationen durch, auch «active measures» oder in Kombination mit Cyberangriffen Hack-and-Leak genannt. Dabei werden Informationen, die durch verdeckte Operationen erbeutet wurden, publik gemacht. Dass Simonjan als Chefredaktorin des Propagandasenders RT ein solches Tondokument ohne Mitwirkung des Kremls publiziert, passt nicht ins Schema der totalitären Strukturen des russischen Regimes.
Inzwischen ist laut deutschen Behörden klar, dass die Aufnahme in Singapur entstanden ist, wo ein Teilnehmer des Gesprächs, Brigadegeneral Gräfe, aus einem Hotel zugeschaltet war. Erste Abklärungen der Bundeswehr haben ergeben, dass der Abteilungsleiter für Einsätze und Übungen im Kommando Luftwaffe dabei eine ungesicherte Verbindung verwendete. Diese Nachlässigkeit erleichterte das Abhören, weil die verwendete Konferenz-Software üblicherweise eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung besitzt.
In Singapur fand ab dem 19. Februar, dem Tag der Gesprächs, die Airshow statt. Dabei handelt es sich um die grösste Luftfahrtmesse Asiens, an der jeweils zahlreiche hochrangige Politiker, Militärs und Vertreter der Rüstungsindustrie teilnehmen. Gut möglich, dass einige davon im gleichen Hotel wie Gräfe logiert haben.
Eine solche Ansammlung interessanter Spionageziele ist für jeden Nachrichtendienst eine ideale Gelegenheit, um diese mit einem Team vor Ort zum Beispiel mittels Cyberangriffen oder fingierten Mobilfunkzellen auszuspionieren. Das aufgezeichnete Gespräch ist deshalb möglicherweise ein Zufallstreffer, weil ein Bundeswehroffizier an einem Ort, zu dem russische Agenten einen Zugang hatten, über eine unsichere Leitung kommuniziert hat.
Was klar zu sein scheint: Die Aufnahme war nicht das Resultat einer aufwendigen Spionageoperation, bei der Russland zum Beispiel auf ein Handy oder einen Computer des Brigadegenerals Gräfe Zugriff hatte. In diesem Fall wäre das Gespräch kaum veröffentlicht worden. Eine solche wertvolle Hintertüre für eine einfache Informationsoperation auffliegen zu lassen, wäre aus nachrichtendienstlicher Sicht unsinnig. Denn seit der Publikation des Mitschnitts überprüft die Bundeswehr nun bestimmt alle Systeme und Geräte genaustens auf mögliche Spionagesoftware.
Inhalte sind gar nicht besonders brisant
Das Gespräch selbst gibt einen Einblick in die Führungskultur der Bundeswehr. Die beteiligten Offiziere reden ohne klare Traktanden, Zielsetzung und Struktur über mögliche Varianten, wie der Taurus-Marschflugkörper doch an die Ukraine geliefert werden könnte. Der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, ist der grosse Zampano mit den träfen Sprüchen. Im Hintergrund dürfte ein Hauptmann versucht haben, ein formal korrektes Protokoll zu erstellen.
Ist der Umgang mit Sicherheitsmassnahmen ebenso flapsig wie die Rapport-Führung, dann hat die Bundeswehr tatsächlich ein Problem bei der Sicherheit. Die Offiziere halten sich in ihrem Gespräch schlicht nicht an die simple Faustregel, die jeder Rekrut in der allgemeinen Grundausbildung lernt: Angaben über Truppen, Orte, Zeiten, Zahlen und Absichten sind zu unterlassen – zumal bei ungesicherten Verbindungen.
Trotzdem ergeben sich aus dem Gespräch keine militärisch bahnbrechenden Neuigkeiten – vielleicht mit Ausnahme der konkreten Streuwirkung der Taurus-Lenkwaffe. Das Audio-File des Gesprächs hat also kaum nachrichtendienstlichen Wert, sondern eignet sich stattdessen als Mittel zur Desinformation, die auf der Umdeutung und der alternativen Lesart von Fakten beruht. Die Debatte um die Taurus-Lieferungen ist dafür die ideale Projektionsfläche.
Die Luftwaffenoffiziere diskutieren im Sinn eines Fallbeispiels über einen Angriff auf die Kertsch-Brücke, die Verbindung zwischen Russland und der besetzten Halbinsel Krim. Der frühere Präsident Dmitri Medwedew leitet daraus die Behauptung ab, Deutschland bereite einen Krieg gegen Russland vor. Die russische Propagandamaschine bedient sich einzelner Aussagen aus dem Gespräch und setzt diese als Schlagworte in der hybriden Kriegsführung ein.
Das Gespräch löst in Deutschland einen Sturm aus
Je nach Publikum fallen das Narrativ und die Reaktionen auf den Angriff unterschiedlich aus. Das Ziel der Granate war zwar die deutsche Politik und die Taurus-Debatte, die Splitterwirkung bei den Nato-Partnern ist aber durchaus willkommen. Am Ende geht es dem Kreml darum, die Geschlossenheit der Verbündeten in der Unterstützung der Ukraine aufzusprengen.
Ganz bewusst wird ein Keil zwischen Berlin, Paris und London getrieben. Deutschland leistet zwar Militärhilfe in grossem Umfang an die Ukraine. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz schert aber mit seiner Positionierung als «Friedenskanzler» aus der Abwehrfront aus – und hat dies mit seiner Weigerung, den Taurus zu liefern, noch einmal deutlich gemacht. Britische und französische Lenkwaffen der gleichen Art werden von der ukrainischen Armee bereits erfolgreich abgefeuert.
Scholz’ Aussagen über das Engagement britischer Soldaten für den Einsatz der «Storm Shadow»-Lenkwaffen in der Ukraine hat zusätzlich für Verstimmung gesorgt. In London war gar von einem «eklatanten Missbrauch von Geheimdienstinformationen» die Rede. Dass die Bundeswehr nun beim Gespräch über den Einsatz von Marschflugkörpern in der Ukraine belauscht werden konnte, schadet dem Ansehen Deutschlands zusätzlich.
Die Informationsgranate spaltet aber auch die deutsche Regierungskoalition – hat der Kanzler gar gelogen? Die abgehörten Bundeswehroffiziere gehen davon aus, dass die ukrainische Armee den Taurus selbständig einsetzen könnte. Scholz verweigerte die Lieferung bisher mit der Aussage, der Marschflugkörper müsse von deutschen Soldaten programmiert werden, was einer Kriegsbeteiligung Deutschlands gleichkomme.
Die Opposition verschärft ihre Kritik am Bundeskanzler. Scholz werde «zunehmend zum Sicherheitsrisiko für Europa», sagte der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter. Die Abhöraffäre dürfte die deutsche Politik noch eine Weile beschäftigen und Uneinigkeit in der Haltung zur Ukraine verstärken.
Für das russische Aussenministerium zeigt das Gespräch über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern denn auch «die Beteiligung des ‹kollektiven Westens›, einschliesslich Berlins, am Konflikt um die Ukraine». Auch der Aussenminister Sergei Lawrow sprach davon, dass das «Kriegslager» in Europa stark sei.
Diese Darstellung wird in Deutschland wiederum von der AfD und der Linkspartei übernommen. Sie sprechen von der «Vorbereitung eines Angriffskriegs» durch die Regierung, welcher das deutsche Grundgesetz ausdrücklich verbietet. Entsprechende Äusserungen aus Deutschland wie jene, dass die Regierung in Berlin einen dritten Weltkrieg riskiere, werden wiederum von den russischen Staatsmedien aufgenommen und weiterverbreitet.
Der Kreml hat Deutschland als schwächstes Glied erkannt
Russland ist mit der Veröffentlichung des vertraulichen Gesprächs ein spektakulärer Coup gelungen. Die Informationsaktion richtet sich in erster Linie gegen Deutschland, wo die Wirkung derzeit am grössten scheint. Dass Deutschland im Fokus steht, dürfte kein Zufall sein.
Russland hat erkannt, dass Deutschland das schwächste Glied in der Reihe der europäischen Verbündeten ist. Bundeskanzler Scholz agiert ängstlich und verhalten. Gleichzeitig hat eine starke Querfront von AfD, der Linken und dem Bündnis Sahra Wagenknecht das russische Narrativ praktisch übernommen. Die Schwäche der Regierung und das Erstarken der Fundamentalopposition machen das Land zu einem geeigneten Ziel von hybriden Angriffen.
Hinzu kommen rhetorische Differenzen unter den Nato-Partnern. Diese könnten zusammen mit der politischen Konstellation in Deutschland dazu führen, dass die russischen Beeinflussungsoperationen am Schluss Erfolg haben. Umso wichtiger war das Machtwort des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius, er werde seine besten Offiziere nicht für Putin opfern – obwohl diese Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten hatten: ein Zeichen der Resilienz gegen die russische Beeinflussung.
Es ist kein Zufall, dass die Bundeswehr gegenwärtig einen «Operationsplan Deutschland» erarbeitet, um die eigene Abwehrkraft im Falle einer weiteren Eskalation zu stärken. Dieser «Oplan DEU» soll Ende März im Entwurf vorliegen. Ein wesentliches Element darin ist der Schutz Deutschlands vor Cyber- und Informationsattacken.
Bei Beeinflussungsoperationen ist die Gesellschaft besonders gefordert, weil die Akteure und die Absichten oft verschwommen sind. Eine Stärke ist dabei, besonnen auf solche Veröffentlichungen zu reagieren. Denn der innenpolitische Skandal in Deutschland ist die eigentliche Waffe des Gegners.