Die ETH muss verhindern, dass Wissen über neuste Technologien an das chinesische, das iranische oder das nordkoreanische Militär gerät. Betroffene bezeichnen die jüngst publizierten Regeln für die Zulassung von Master- und Doktoratsstudenten jedoch als überzogen und diskriminierend.
Die ETH erlebt einen Shitstorm: Rassistisch sei ihre neue Regelung für die Zulassung von ausländischen Studenten, unfair oder schlicht wahnsinnig. So schreiben es Nutzer im Diskussionsforum Reddit. Sogar Protestplakate, die Vergleiche zum Nazi-Regime ziehen, machen die Runde.
Ausgelöst wurde die Kritik von einer internen Mitteilung der Hochschule. Erstmals kommuniziert die ETH darin die Kriterien dafür, ob Masterstudierende und Doktorierende aus Sicherheitsgründen abgewiesen werden müssen.
Hintergrund dazu ist die Exportkontrolle: Die ETH ist gesetzlich dazu verpflichtet, den Abfluss von High-Tech-Wissen an mit Sanktionen belegte Länder wie Russland, Iran, China oder Syrien zu minimieren. Bevor die ETH Studenten zulässt oder Forschungspersonal rekrutiert, muss sie überprüfen, ob die Bewerber nicht etwa für das chinesische Militär arbeiten, für die iranische Nuklearforschung oder für das nordkoreanische Raketenprogramm.
Schon wenige Kriterien können zum Ausschluss führen
Bisher war unklar, wie die ETH diese Sicherheitschecks durchführt. Nun hat sie – mindestens für die Zulassung von Master- und Ph.-D.-Studenten – Transparenz geschaffen. Laut der Mitteilung wird die Sicherheitsprüfung anhand von vier Fragen vorgenommen:
- Kommt der Bewerber aus einem der «Risikoländer»?
- Bewirbt sich die Person auf einen der aufgeführten Masterstudiengänge?
- Hat der Bewerber an einer Institution mit Sicherheitsrisiko studiert?
- Wird der Bewerber finanziell mit Mitteln aus einem der «Risikoländer» gefördert?
«Bei mehreren Ja wird die Bewerbung abgelehnt», so steht es im Dokument.
Die Liste der aufgeführten Risikoländer ist lang. Neben China, Russland und Nordkorea stehen auch Pakistan, Venezuela, Iran und 17 weitere Länder darauf. Viele Studierende aus diesen Ländern gehen nun offenbar davon aus, dass sie keine Zukunft mehr an der ETH haben.
«Die Regel hat insbesondere bei chinesischen und iranischen Studierenden viel Angst und Unzufriedenheit ausgelöst», sagt Frank Gürkaynak. Er leitet das Microelectronic Design Center an der ETH und war über die vergangenen Jahre am Einstellungsprozess mehrerer Ph.-D.-Studierender beteiligt. Einige von ihnen fragten sich nun, ob sie sich nicht an anderen Hochschulen bewerben sollten, sagt Gürkaynak.
Er unterstützt grundsätzlich, dass die ETH ihren Sorgfaltspflichten bei der Exportkontrolle nachkommt. Aber die Art und Weise, wie sie es tut, schätzt er als übertrieben und ungerecht ein. «Niemand kann entscheiden, wo er geboren wird. Menschen aufgrund ihrer Herkunft als problematisch darzustellen, widerspricht dem Gedanken der freien und fairen Forschung», sagt Gürkaynak.
Die ETH widerspricht dieser Darstellung entschieden: «Im Prinzip können Menschen unabhängig von ihrer Herkunft jeden Studiengang studieren», schreibt die Medienstelle. Es gebe bei der Bewertung von Bewerbungen keine Automatismen, und jede Bewerbung werde einzeln geprüft.
Auch Biologie gilt als gefährlich
Fraglich bleibt aber, ob die Zulassungsstelle tatsächlich Zeit hat, Tausende Bewerbungen von ausländischen Studierenden im Einzelfall genau zu überprüfen. Zumal die Liste der betroffenen Studiengänge lang ist: Nebst militärnahen Fächern wie Nuclear Engineering, Space-Systems und Cybersecurity sind auch Statistik, Biologie, Informatik, Verfahrenstechnik betroffen. Insgesamt sind es 32 der insgesamt 50 an der ETH angebotenen Masterstudiengänge.
Auf die Frage, warum auch Fächer wie Biologie und Statistik unter die strengen Kontrollen fallen, schreibt die Medienstelle der ETH: «Erlangtes Fachwissen in den Fächern Biologie und Statistik fliesst in Technologien ein, die unter die Güterkontrollverordnung fallen können. Somit ist eine militärische Anwendung dieses Fachwissens möglich.»
In ihrer Mitteilung bezieht sich die ETH zur Begründung der Massnahmen indirekt auf einen Bericht des Nachrichtendienstes des Bundes. Dieser soll das «Bewusstsein für die Spionagebedrohung und für das Missbrauchspotenzial des vermittelten Wissens und Know-hows» der Universitäten schärfen. Eine Empfehlung, Studenten aus Risikoländern nicht mehr an die Universität zuzulassen, findet sich aber unter den empfohlenen Schutzmassnahmen nicht.
Bei Masterstudenten besonders streng
Zudem werden Masterstudierende schneller ausgeschlossen als Ph.-D.-Kandidaten: Ist ein Professor stark an einem bestimmten Ph.-D.-Bewerber interessiert, kann er eine vertiefte Sicherheitsprüfung verlangen und weiterführende Unterlagen zur Person und zum Forschungsprojekt bei der zuständigen Stelle einreichen. Diese kann daraufhin entscheiden, den Kandidaten doch zuzulassen. Für Masterstudenten ist diese Art der Fürsprache nicht vorgesehen.
Frank Gürkaynak kritisiert: «Es ist absurd, dass die Restriktionen für Masterstudenten so streng sind. Sie erhalten keinen Zugang zu besonders sensitiven Informationen.»
Tatsächlich wäre es logischer, das Risiko, das von Postdocs und Professoren ausgeht, höher zu gewichten. Je besser ausgebildet jemand ist, desto eher hat er das Wissen, um militärische High-Tech-Anwendungen weiterzuentwickeln. Postdocs und Professoren sind von den neu publizierten ETH-Richtlinien aber nicht betroffen.
«Alle Firmen oder Organisationen dieser Welt, inklusive aller Armeen, können jederzeit ETH-Abgänger abwerben, sie fürstlich bezahlen und von ihrem Know-how profitieren», sagt Gürkaynak. «Solange die ETH Spitzenforschung betreibt, muss man damit rechnen.»
ETH forschte gemeinsam mit dem chinesischen Militär
Dieser Umstand dürfte auch der ETH bewusst sein. Trotzdem muss sie Fälle wie jenen von Gu (Name geändert) verhindern. Der Doktorand aus China arbeitete ab Herbst 2016 rund ein Jahr für die ETH an einer Technologie zur genauen Ortung von Personen in Innenräumen. Die Technologie ist für das Militär interessant, weil insbesondere im Häuserkampf ein genaues Ortungssystem mit nahtloser Abdeckung von Aussen- und Innenbereichen entscheidend sein könnte.
Der ETH-Professor, der Gu damals betreute, sagte zur NZZ, die Zusammenarbeit habe «einen schalen Beigeschmack hinterlassen». Gu sei sehr spezifisch seinen Interessen nachgegangen und habe danach die ETH wieder verlassen. Der Kontakt habe sich seither verlaufen. Ausser drei Publikationen sei wenig für die Forschungsgruppe übrig geblieben.
Gu hatte sein Doktorat an der NUDT begonnen, dem führenden Forschungsinstitut der chinesischen Volksbefreiungsarmee. Finanziert wurde sein Stipendium von der chinesischen Regierung. Ähnliche Forschungskooperationen mit chinesischen Militäruniversitäten gab es an der ETH seit der Jahrtausendwende mindestens 30 weitere. So zeigt es die China Science Investigation, ein internationales Recherchenetzwerk, an dem sich die NZZ beteiligt.
«Selbstverständlich ist es sinnvoll, solche Fälle zu verhindern», sagt Frank Gürkaynak. Aber die Art und Weise, wie die ETH die Exportkontrollen heute interpretiere, sei geleitet von irrationalen Ängsten. «Mit der Umsetzung von etablierten Gesetzen haben die ETH-Richtlinien nichts mehr zu tun. Sie schiessen weit über das Ziel hinaus. Das gefährdet den guten Ruf der ETH.»
Abgewiesene Studenten gehen an die EPFL
Die ETH ist in der Auslegung der Exportkontrollen tatsächlich strikter als andere. Das zeigen mehrere Berichte von abgewiesenen Studierenden. Sie wurden an Instituten aufgenommen, bei denen die Exportkontrollen ebenfalls gelten sollten. So berichten ETH-interne Quellen von einem Studenten, der nach Abweisung der ETH an die EPF in Lausanne ging. Ein anderer sei am Caltech, einer renommierten technischen Hochschule in Kalifornien, angestellt worden.
Die Fälle zeigen zwei Widersprüche auf: Erstens ergibt es wenig Sinn, dass ETH und EPFL offenbar nicht die gleichen Regeln anwenden, obwohl sie den gleichen Gesetzen und dem gleichen Rat unterstehen. Zweitens führte die Schweiz die Exportkontrollen grösstenteils auf Druck der USA ein. Deshalb erscheint es verwunderlich, dass ausgerechnet eine Schweizer Hochschule die Exportkontrollen strenger auslegt als amerikanische Institute.
Jürg Leuthold, Professor für IT und Elektrotechnik an der ETH, begrüsst es trotzdem, dass die ETH die Sensibilisierung für das Thema der Exportkontrollen weiter vorantreibt. Er schreibt auf Anfrage, er sei vergangenes Jahr in einem EU-Projekt mit Sanktionen belegt worden, weil die europäischen Projektpartner der Schweiz einen zu fahrlässigen Umgang mit den Exportbestimmungen vorgeworfen hätten.
Trotzdem findet er: «Aus Sicht der Professoren und der betroffenen Studenten ist jede Einschränkung der Freiheit, jemanden einzustellen, eine Einschränkung zu viel.» Und die Liste der kritischen Fächer scheint ihm «auf der etwas langen Seite zu liegen». Allerdings konnte Leuthold kürzlich trotzdem einen chinesischen Doktoranden einstellen – obwohl er in einem Feld arbeite, das auch militärische Anwendungen habe. Dies spreche dafür, dass die Einzelfallprüfung der ETH in diesem Beispiel gut funktioniert habe.
«Nicht auf Studenten der Sanktionsliste angewiesen»
Seine Forschung sieht Leuthold nicht beeinträchtigt: «Ich habe genügend Interessenten und bin nicht auf Studenten der Sanktionsliste angewiesen.» Im Gegenteil, bis anhin habe er sowieso meist Doktoranden aus dem Pool der ETH-Masterstudenten rekrutiert. «Vielleicht zwingt uns die neue Situation, nun auch wieder etwas mehr Schweizer Studenten auszubilden», schreibt Leuthold.
Das zeigt: Das Risiko besteht, dass die ETH wegen ihrer strikten Interpretation der Exportkontrollen talentierte Forscherinnen und Forscher an andere Institutionen verliert. Die Meinungen gehen jedoch auseinander bei der Frage, ob die Hochschule das in Kauf nehmen soll.
Denkbar wäre in Zukunft aber auch, dass sich andere Hochschulen in westlichen Ländern der Auslegung der ETH annähern und in der Forschung dadurch das Gleiche passiert wie in der Wirtschaft: dass sich die Welt nach und nach aufteilt in zwei Sphären, eine freiheitlich-demokratische mit den USA und Europa im Zentrum und eine autoritäre mit China im Zentrum. Für die weltweite Forschungslandschaft wäre das keine gute Neuigkeit: Ohne internationalen Austausch wird die Wissenschaft hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben.