Die nächste umstrittene Bildungsreform: In den Berufsschulen soll die Abschlussprüfung abgeschafft werden. Dafür gibt es keine Mehrheit – aber der Bund hält eisern daran fest. Praktiker befürchten, dass das Niveau damit neuerlich sinken wird.
Das Schweizer Bildungssystem wird seit Jahrzehnten umgepflügt, von oben nach unten, von praxisfernen Theoretikern, wie Lehrer, die die Änderungen dann umsetzen müssen, bemängeln. Lehrplan 21, Weiterentwicklung der Gymnasien, KV-Reform: Es sollten jeweils grosse Würfe werfen, zur Stärkung des weltweit bewunderten dualen Systems. Neu ist immer besser?
Das Resultat ist ernüchternd: eine Nivellierung des Niveaus nach unten. Die Leistungen der Schweizer Schüler werden erwiesenermassen immer schlechter – dennoch steigt etwa die Maturitätsquote stetig an. Das kann nicht aufgehen. Lehrer sind frustriert, immer öfter verlassen sie vorzeitig ihren Beruf.
Die neuste umstrittene Absicht des zuständigen Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI): die Abschaffung der Abschlussprüfung, die Zehntausende Lehrlinge jedes Jahr im allgemeinbildenden Unterricht (ABU) absolvieren müssen. Das ist jener schulische Teil der angehenden Berufsleute, in dem sie sich nicht mit berufsspezifischen Themen, sondern mit Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Recht beschäftigen – oder mit Sprache. Rund ein Drittel der Lektionen sind für den ABU reserviert. Für die Gesamtnote zählen sollen ab 2026 nur noch die Erfahrungsnoten und die Abschlussarbeit – zu je 50 Prozent.
Merkwürdige Kommunikation
Gegen dieses Vorhaben wehren sich viele Akteure aus der Praxis und auch aus der Politik mit Vorstössen im Nationalrat und in kantonalen Parlamenten. Das SBFI zeigte sich im Sommer, als sich der Widerstand manifestierte, überaus unbeeindruckt, wollte zuerst die Auswertung der Vernehmlassung abwarten. Die ist nun da – und das Resultat ist eindeutig: Eine Mehrheit der Kantone, der Parteien, der Verbände, Konferenzen, Ämter und Bildungsinstitutionen wehrt sich gegen die Abschaffung.
Konrad Kuoni, der Präsident des Zürcher Verbands der Lehrkräfte in der Berufsbildung, ist empört über diesen Vorgang. Wie so oft ist es dieser Verband, der öffentlich kämpft und dessen Protagonisten sich auch in den Medien äussern. Auch Kuoni wurde im November über diesen «breiten Konsens» informiert, in einem Bürgerbrief – unterzeichnet von Toni Messner, dem Leiter des Ressorts Berufliche Grundbildung beim SBFI. Kuoni sagt: «Diesen Konsens gibt es einfach nicht. Das ist faktenwidrig.» Es scheine so, dass man beim Bund einfach mache, was man wolle.
Dieser hält auch jetzt eisern an der Umsetzung fest. Auf Anfrage teilt das SBFI mit, dass nach «sorgfältiger» Auswertung und «intensiver Diskussion in der Projektorganisation» festgestellt worden sei: Die Reform spiegle einen «breit abgestimmten Konsens der Verbundpartner wider».
Hier muss man stutzig werden: Im Vergleich zum Schreiben, das Kuoni erhalten hat, wird hier mit dem Wort «Verbundpartner» allerdings mächtig zurückbuchstabiert. Dass diese involvierten Partner dafür sind, ist selbsterklärend – sie haben die Reform ja eng begleitet. Auf die Kritik, warum man in öffentlichen Schreiben einen falschen Eindruck erweckt («breiter Konsens»), geht das SBFI jedoch nicht ein. Was soll hier vernebelt werden?
Eine Prüfung ist wichtig – fürs ganze Leben
Kuoni hofft immer noch, dass nicht umgesetzt wird, was keine breite Zustimmung findet. «Das ist eine Idee aus einer bestimmten Küche: Leistung wird verschmäht, den Schülern soll alles möglichst einfach gemacht werden, bloss keinen Stress verursachen.» Und das drücke man dann einfach durch – obschon es dafür keine Mehrheiten gebe. Das SBFI lässt aber in seinem Antwortschreiben kaum Zweifel offen: Die Reform wird kommen.
Für Kuoni ist das unverständlich: Er möchte, wie er klar festhalten will, nicht das gegenteilige Extrem – wie etwa in einigen asiatischen Ländern –, wo schon Kinder derart unter Druck gesetzt würden, dass sie daran oft zerbrächen. Aber er ist der Meinung: «Wer sich auf eine Prüfung vorbereiten muss, der lernt nicht nur auf einen Test, sondern auch, wie man mit Drucksituationen umgehen kann.»
Das sei gut und wichtig – fürs ganze Leben. Wenn es zu einfach geht, bringt das den Lehrlingen nichts und der Gesellschaft schon gar nicht? «Noch», sagt Kuoni, «hat die Berufsbildung einen Wert. Achten wir darauf, dass es so bleibt.» Und er spricht eine Warnung aus: «Wer die Anforderungen an staatlichen Schulen beständig senkt, ist Steigbügelhalter der Privatschulen.» Die erfreuen sich bereits jetzt eines Zuwachses – und der Grund, den man hört, ist oft derselbe: Dort wird noch aufs Leistungsprinzip gesetzt.
Die Befürchtung von Kuoni und den Kritikern: Wenn mit der Abschlussprüfung ein wichtiger Pfeiler wegbricht, senkt dies die Aussagekraft der Bewertung, also der Note. So fehlt ein objektives Kontrollinstrument. Was kann der Schüler wirklich? Kuoni sagt, dass man sich folgenden Vergleich vergegenwärtigen müsse: «Das ist, als würde man am Ende des Gymnasiums auf die Maturitätsprüfungen verzichten und lediglich auf Zeugnisnoten und Maturaarbeit setzen.» Daran hat, bisher zumindest, noch niemand gedacht. Aber bei der heutigen Reformitis wisse man ja nie.
Was ist wichtiges Wissen?
Da stellt sich die Frage: Und jetzt soll man noch die vielleicht letzte Kontrollfunktion – die Abschlussprüfung – abschaffen? Und dafür die Abschlussarbeit stärken, die mit KI geschrieben werden kann (was wiederum für einen Lehrer unmöglich zu bewerten ist)? Kuoni sagt: «Diese Reform kann nur bewirken, dass das Niveau sinkt.»
Das SBFI sieht das ganz anders. Es teilt mit, dass «zu beachten» sei, dass es das «Hauptziel der Reform» sei, die «Allgemeinbildung zu stärken und auf den Erwerb von Kompetenzen auszurichten». Nur auf die Abschlussprüfung zu fokussieren, «greife zu kurz». Der neue Lehrplan sei auf den Erwerb von «Wissen und von Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen» ausgerichtet. Gleichzeitig sei, schreibt das SBFI, die Schlussprüfung heute «zu stark Fachwissen-orientiert» und darum nicht mehr «zeitgemäss». Was Wissen ist und welches Wissen wichtig ist: Das weiss offenbar nur der Staat. Einschätzungen aus der Praxis scheinen nicht mehr gefragt.