Ins Stimmlokal geht kaum mehr jemand. Ihren politischen Willen tun die meisten Schweizer Stimmbürger am Briefkasten kund. Dabei ist der Urnengang am Wahlsonntag ein kleines demokratisches Glück.
An diesem Sonntag läuten die Kirchenglocken nicht nur den Gottesdienst ein. Um 10 Uhr, wenn nebenan die Holzbänke unter dem Gewicht der Gläubigen knarren, geht beim Bienzgut in Bümpliz die Tür zum Stimmlokal auf.
Wer weiss, wonach es Ausschau zu halten gilt, sieht die Stimmberechtigten nun aus allen Richtungen kommen. Die meisten sind leicht zu erkennen: Obwohl es zum Abstimmen an der Urne kein Couvert braucht, tragen sie ihr Material im offiziellen Umschlag zum Stimmlokal. Man nickt sich zu, verschwörerisch fast. Zwei Stunden lang herrscht hier nun ein steter Durchlauf von Menschen, die die Zukunft ihres Landes mitgestalten wollen. Klingt pathetisch, ist aber so.
Abstimmungskampf auf den letzten Metern
Eine fünfköpfige Frauengruppe, graue Häupter, bunte Foulards, braucht sehr lange, um die paar Schritte von der Tramhaltestelle bis zum Stimmlokal hinter sich zu bringen. Was sie aufhält, ist die Debatte: Vier Frauen sind für eine 13. AHV-Rente, die fünfte vehement dagegen. Sie hat einen Kugelschreiber mitgebracht und ist bereit, auch auf den letzten Metern noch Abstimmungskampf zu betreiben.
Kurz vor der Urne kommt ihr Kugelschreiber dann auch tatsächlich zum Einsatz. Allerdings nicht, um aus einem «Ja» ein «Nein» zu machen. Eine ihrer Kameradinnen hat vergessen, ihren Stimmausweis zu unterschreiben. Ganz selbstverständlich wechselt der Kugelschreiber die Hand und verhilft so dem Gegenlager zu einer weiteren Stimme. Dann wird die Urne gefüttert, und die Frauengruppe läuft einträchtig im Sonnenschein von dannen.
Und weil nach der Abstimmung vor der Abstimmung ist, warten beim Ausgang bereits Engagierte mit Clipboard, Kugelschreiber und grossen Überzeugungen darauf, dass die Urnengänger sich über ihre Unterschriftenbögen beugen. «Mama, warum machsch das?», fragt ein Junge, während seine Mutter ihre Adresse auf einen Unterschriftenbogen gegen die Privatisierung des Wassers notiert. Weil sie nicht wolle, dass Schweizer Wasserquellen ins Ausland verkauft würden, antwortet die Mutter. «Das kannst du entscheiden?», fragt der Junge. «Ämu ä chli», antwortet die Mutter.
Ein glückliches Missgeschick
Mein erster Urnengang war eine Notfallmassnahme: Als mir der Abstimmungssonntag in den Sinn kam, war es für die Briefwahl zu spät. Mir blieb also nur, den Wecker zu stellen und ins Stimmlokal zu gehen – oder bis zu den nächsten Abstimmungen zu schweigen.
Vor mir in der Schlange – denn vor der Urne hatte sich eine Schlange gebildet – stand ein älterer Herr. Er trug einen alt, aber gepflegt wirkenden Anzug und ging an Krücken. Während ich auf dem Handy nachschaute, ob man den Wahlzettel eigentlich mit oder ohne Couvert in die Urne wirft, sah ich über den Rand meines Smartphones, wie der alte Mann sich vorsichtig an die Wand lehnte. Er atmete tief ein und schloss kurz die Augen.
«Geit’s?», fragte ich. Das Anstehen schien ihn zu ermüden. Er nickte und lächelte, während sein Blick von mir zu den anderen Menschen in der Schlange glitt. Junge Leute in Grüppchen standen da, lachend und diskutierend, ältere Ehepaare in vertrautem Schweigen auch und Eltern mit ihren kleinen Kindern in Tragetüchern oder an der Hand. Nur wenige waren, wie ich und der alte Mann, allein gekommen. Der Urnengang, stellte ich damals fest, ist auch ein sozialer Event.
Unsere Schlange rückte vor, und kurz bevor wir zu dem ersten Tischchen kamen, an dem es den Stimmausweis abzugeben galt, drehte der alte Mann sich zu mir um. Ob ich seine Krücke halten könne, fragte er. Ich nickte, und er zog mit der frei gewordenen Hand seinen fein säuberlich gefalteten Stimmrechtsausweis aus der Brusttasche. Seine Hand zitterte, als er ihn abgab. Gestützt auf nur eine Krücke, humpelte er zum nächsten Tisch, liess seinen Wahlzettel stempeln und warf ihn in die Urne.
Als er sich zu mir und seiner zweiten Krücke umdrehte, strahlte er mich an. «Das war das erste Mal», sagte er in einem Berndeutsch, das nach mehr klang als nur der Schweiz. «Ich bin heute auch zum ersten Mal zum Abstimmen an der Urne», antwortete ich, während wir langsam nebeneinander aus dem Stimmlokal gingen. Er schüttelte den Kopf. «Nein», sagte er dann, «das war das allererste Mal, dass ich mitmachen durfte.»
Mach das doch per Post, hätten ihm die Kinder gesagt. So wie sie es schon lange tun. Aber das wollte der alte Mann nicht. «Ich wollte spüren, dass ich jetzt dazugehöre.» Wie es sich denn nun angefühlt habe, fragte ich ihn. Er war etwas kleiner als ich und musste den Blick heben, wenn er mich anschauen wollte. Das tat er nun. «Richtig», sagte er.
Eine aussterbende Spezies
An diesem Tag schwor ich mir, immer mitzumachen. Weil es sich tatsächlich genau so anfühlte: richtig. Und ich beschloss, wann immer möglich an die Urne zu gehen. Dieses Privileg zu zelebrieren und ein bisschen mit den anderen Menschen zu teilen, die zufälligerweise zum gleichen Zeitpunkt beim Stimmlokal eintrafen wie ich.
Neben den gleichen Öffnungszeiten haben Kirche und Stimmlokal, die zumindest hier in Bümpliz direkt nebeneinanderstehen, noch etwas gemeinsam: Die Kundschaft wird weniger. Rund 90 Prozent der Stimmberechtigten tun ihre Meinung per Post kund. Wenn in allen Zeitungen steht, dieser und jener Entscheid sei «an der Urne» gefällt worden, ist das kaum mehr etwas anderes als eine historische Metapher. Die Schweizer machen ihre Politik pragmatisch, im Vorbeigehen am Briefkasten, und schlafen am Wahlsonntag aus. Oder gehen Ski fahren. Je nachdem.
Wer aber an der Urne abstimmt, findet sich in den Räumen der Gemeinschaft wieder – oft im Kirchgemeindehaus, in der Bibliothek oder der Mehrzweckhalle. Man spürt dort, was manchmal im Alltag vergessengeht: Dass man Teil einer grossen Gruppe ist. Dass man an der Urne unterschiedliche Meinungen vertreten kann und sich trotzdem den Kugelschreiber reicht, damit in letzter Minute der Stimmzettel unterschrieben werden kann. Im Stimmlokal spielt es für einen Augenblick sowieso keine Rolle, was auf dem Zettel der anderen steht. Wichtig ist, dass man da ist, für die gemeinsame Sache, die man Demokratie nennt.