Zu seinem 150. Geburtstag wird Otto Mueller in Münster eine Jubiläumsausstellung ausgerichtet. Der deutsche Expressionist wird dort mit Sexismus, Rassismus und der Nazi-Ideologie in Verbindung gebracht. Die Argumente sind haltlos.
Otto Mueller ist der Schöngeist unter den deutschen Expressionisten – der Romantiker und Schwärmer, der in seinen idyllischen Landschaften ein Paradies auf Erden imaginierte. Bevölkert wird es von grazilen Wesen, die keinen Sündenfall zu kennen scheinen. Seine Bilder von Badenden gehören zum Schönsten der modernen Kunst. Heute sind sie ein gutes Jahrhundert alt, der Künstler selber wurde vor 150 Jahren geboren. Weswegen sein Werk nun mit einer Jubiläumsausstellung bedacht wird.
Gezeigt werden 65 Gemälde, Grafiken und Aquarelle, darunter viele bedeutende Leihgaben aus grossen Museen wie etwa dem MoMA in New York. Allerdings tut man sich schwer mit diesem kunsthistorisch bedeutenden Œuvre im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster. Dort gilt Mueller nun als Problemfall.
Grund dafür ist einerseits die Nacktheit der Frauen, die er gemalt hat. Anderseits wirft man ihm vor, dass viele Frauen, die er malte, einer Minderheit angehörten. Bekannt geworden ist Mueller nicht nur für seine Gemälde und Zeichnungen von Badenden, sondern auch für solche mit Zigeuner-Motiven. Diese zählen zu seinen berühmtesten Werken. In Münster spricht man nun vom «Z-Wort». In den Bildtiteln ist es in Anführungszeichen gesetzt, manchmal auch gut sichtbar durchgestrichen oder einfach überdeckt.
Im Katalog heisst es an einer Stelle sogar, Kunst, wie sie Otto Mueller geschaffen habe, sei Ausdruck von «ethisch fragwürdigen Haltungen, sozialer sowie wirtschaftlicher Ausbeutung, sexueller Gewalt, rassischer Dominanz und Überlegenheit». Der Maler arkadischer Idyllen ein Sexist? Oder gar Rassist? Das sind schwerwiegende Vorwürfe. Selbst in die Nähe der Nazi-Ideologie wird Mueller gerückt. Was aber war sein Verbrechen?
«Voyeuristische» Szenen
Otto Mueller gehörte der «Brücke» an. Die Künstlergruppe zelebrierte Anfang des letzten Jahrhunderts die Befreiung von bürgerlichen Konventionen. Den Befreiungsakt vom akademischen Konservatismus suchte man in der Hinwendung zur Natur. Im Zug der Reformbewegung wurde die Freikörperkultur gefeiert und viel nackt gebadet. Nacktheit galt als Rebellion gegen Industrialisierung und Verstädterung sowie gegen die moralischen Zwänge der Gesellschaft. An den Moritzburger Teichen und auf den Inseln der Ostsee fielen buchstäblich die einengenden Hüllen der Zivilisation.
Szenen von nackten Badenden gibt es von allen Brücke-Künstlern: von Ernst Ludwig Kirchner, von Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Max Pechstein. Otto Mueller hat fast ausschliesslich solche Bilder gemalt. Die «Badenden», dieses tief in der Kunstgeschichte verwurzelte Motiv, hatte er für sich neu entdeckt.
In seinen zart-pastellfarbenen Bildern sind vorwiegend Frauen, manchmal auch Männer, am Strand, in den Dünen, im Schilf, an Seeufern zu sehen: beim Baden, beim Sonnenbaden, paarweise oder in Gruppen. Die Frauen sind jung, wirken unbeschwert, verträumt, vor allem aber auch typisiert, oft gar androgyn, mit überlängten, schlanken Körpern im Stil der altägyptischen Kunst, an der sich Mueller wiederholt orientierte.
Die Szenerien wirken sinnlich. Nie aber erotisiert, was Körperstellungen und Haltungen der Dargestellten betrifft. Dennoch stehen sie jetzt unter dem Verdacht des «männlichen Blicks». Insbesondere bei Betrachterinnen sollen sie heute beklemmende Gefühle hervorrufen, wie in einem Katalogbeitrag der Münsteraner Ausstellung analysiert wird. Dort heisst es, aus feministischer Perspektive würden in Muellers Bildern männlich-patriarchale Sichtweisen auf den Frauenkörper reproduziert: Ein «male gaze» ziehe sich durch die «voyeuristischen» Szenen und spiegle «eine hierarchische Geschlechterordnung, in der die nackte Frau einmal mehr zum sexuell verfügbaren Objekt wird».
Das erstaunt, denn Otto Mueller hat bekanntlich ausschliesslich seine Lebenspartnerinnen zum Vorbild für seine anonymisierten Aktfiguren genommen. Dies waren für das frühe 20. Jahrhundert ausgesprochen moderne Frauen. Jede von ihnen war selber künstlerisch tätig, sie führten ein selbstbestimmtes Leben im Beruflichen wie im Privaten. Als Modelle haben sie sich freiwillig zur Verfügung gestellt. Nicht zuletzt unterstützten sie Muellers künstlerisches Schaffen tatkräftig. Er selber erschien gar emotional abhängig von ihnen, wie die zahlreichen Darstellungen von Liebespaaren nahelegen, in welchen sich Mueller selber mit seinen Partnerinnen, insbesondere mit seiner langjährigen Gefährtin Maschka, porträtiert hatte.
Sehnsuchtsort Südosteuropa
Noch schwerer wiegt heute allerdings, dass Mueller seine Sehnsuchtsorte nicht nur in unberührten Landschaften mit vorwiegend weiblichen Badenden suchte, sondern auch in fremden Kulturen. Diesen schrieb er Ursprünglichkeit und Unberührtheit von den Schattenseiten der Zivilisation zu. Darin war er nicht allein, sondern ganz Kind seiner Zeit. Mueller war ein Eskapist und Bohémien, der sein Glück in einem unkonventionellen Lebensstil suchte. Der Aussenseiter, Einzelgänger und bewusst Unangepasste fühlte sich zu den Zigeunern hingezogen, wie man Sinti und Roma damals nannte. Durch seine Faszination für diese Volksgruppe übte er nicht zuletzt eine ganz eigene Form von Gesellschaftskritik.
In den zwanziger Jahren reiste er mehrmals nach Osteuropa, auf den Balkan, nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien und ins heutige Kroatien. Dort suchte er die Siedlungen der Roma und Sinti auf, lebte vorübergehend mit den Dorfgemeinschaften und zeichnete und fotografierte. Seine Eindrücke verarbeitete er in bildnerischen Phantasien vom freien, einfachen Leben.
Und es gab noch einen anderen Grund für Muellers Interesse. Er selber lebte in der Annahme, seine Mutter sei eine Angehörige der Roma oder Sinti gewesen. Muellers Vater war preussischer Offizier und stammte aus einer Professorenfamilie, die Mutter war als Kind von einer schlesischen Gutsbesitzerin adoptiert worden. 1907 brachte auch sein Cousin, der Schriftsteller Carl Hauptmann, das Gerücht in Umlauf, Mueller habe Roma-Vorfahren, damit wollte er dessen «dunkles» Aussehen erklären.
Nicht zuletzt aufgrund dieses Bezugs galt Mueller den Nationalsozialisten als «entarteter» Künstler. Das hülle ihn «in eine vermeintliche, jedoch falsche Unschuld», argumentieren nun die Kuratorinnen in Münster. Mit seinen Darstellungen, die «rassistische Denkmuster reproduzieren», habe Mueller die Ideologie der Nationalsozialisten letztlich bestätigt. Seine Bilder seien Ausdruck eines stigmatisierenden Fremdbilds und damit desselben Rassismus, der zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Roma und Sinti führte.
Die Vorwürfe sind absurd. Mueller war nicht Ethnologe. Er interessierte sich weder für dokumentarische Studien noch für politische und sozialkritische Programme. Er sah sich in keiner Pflicht, Sinti und Roma in ihrer Lebensrealität wiederzugeben. Mueller war Künstler und schuf Kompositionen nach seinen eigenen Vorstellungen. Diese Freiheit der Kunst löst heute offensichtlich Unbehagen aus.
«Otto Mueller», LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster, bis 2. Februar 2025. Katalog: 36 Euro.