Ob ADHS, Autismus, Tourette-Syndrom oder Legasthenie – das Neurodiversitätskonzept fordert mehr Respekt und Integration. Aber das hat eine dunkle Seite.
Rain Man war der Erste. In dem Film aus dem Jahr 1988 spielt Dustin Hoffman einen Autisten, der sich zwar äusserst schrullig verhält, aber mit enormen Spezialbegabungen aufwarten kann. Er löst blitzschnell komplizierte Rechenaufgaben, rattert das Telefonbuch auswendig herunter – sowie eigentlich alles, was er jemals gelesen hat.
Seitdem hat sich Autismus zu einer Art popkulturellem Gemeinplatz entwickelt, den Hunderte Filme und Serien auf immer ähnliche Weise wiedergeben: Sheldon Cooper aus der Serie «Big Bang Theory» ist sozial ungelenk, aber schlau und deshalb irgendwie cool. Diverse autistische Ermittlerinnen wie Saga Noren aus der Serie «The Bridge» oder Sherlock aus der gleichnamigen Serie wirken wie schrullige Nerds, aber überführen mit fast übernatürlichen Fähigkeiten Verbrecher.
Analog zur Darstellung im Film scheint die Entwicklungsstörung Autismus mittlerweile fast eine Art Königsdiagnose der Psychiatrie, weil sie mit erstaunlich wenig Stigmatisierung einhergeht. Menschen assoziieren sie mit Genie, Kreativität, Besonderheit. Eine ähnliche Entwicklung macht gerade ADHS: Vor ein paar Jahren nannte Greta Thunberg Autismus ihre Superkraft, kürzlich bezeichnete Paris Hilton ihr ADHS genauso und erklärte, ihr beruflicher Erfolg sei darauf zurückzuführen.
Vom Zappelphilipp-Syndrom zum Coolness-Faktor
Die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen steigt derzeit steil an. Vor zwanzig Jahren war das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom noch eher peinlich, heute dient es in gewissen Kreisen als schickes Identitätslabel, das zur Abgrenzung und Selbstdarstellung auf Social Media dienen kann. Manche gründen als Influencer gar eine ganze Existenz auf ihrer Diagnose.
Die beliebten Störungen sind heute unter einem neuen Begriff zusammengefasst: Betroffene bezeichnen sich als neurodivers. Wobei das Konzept Neurodiversität darauf verweist, dass Hirne nun mal unterschiedlich verdrahtet sind, jeder Mensch anders ist, aber deshalb noch lange nicht gestört. Vielmehr sei die Besonderheit ein Geschenk und verdiene deshalb Respekt. Meist geht es um Autismus oder ADHS, es können aber auch andere psychische Störungen oder Eigenschaften gemeint sein wie Legasthenie oder Hochbegabung – so genau weiss das keiner, denn Neurodiversität ist kein wissenschaftlicher Begriff und auch keine Diagnose.
Trotzdem ist das Phänomen auch in der Psychiatrie als Neurodiversitätsbewegung bekannt: Die australische Soziologin Judy Singer gilt als erste Vertreterin, sie soll den Begriff 1998 mit ihrer Dissertation «Odd people» (komische Leute) eingeführt haben. Der Begriff soll die Stärken der Betroffenen hervorheben und Stigmatisierung verringern. Ihre Andersartigkeit wird nicht als Störung benannt, denn die Betroffenen seien nicht krank. Demzufolge haben sie eigentlich gar kein Problem, dieses entstünde ausschliesslich dadurch, dass die starre und unbarmherzige Gesellschaft eines mit ihnen habe.
Mehr Akzeptanz und Respekt sind eine gute Sache. Aber die Neurodiversitätsbewegung ist mindestens in Teilen schädliche Schönfärberei, das Etikett «neurodivers» ein hübsches, aber nutzloses Selbstdarstellungsmittel. Dieses bringt vor allem denjenigen etwas, die vergleichsweise nicht so furchtbar dringend Hilfe brauchen, indem sie ihnen ein interessantes Identitätsangebot macht. Denjenigen mit richtigem Leidensdruck schadet die Bewegung.
Autisten sind selten hochbegabt
Jenen Kindern und Erwachsenen, deren Gesundheit deutlich eingeschränkt ist und die dringend auf Unterstützung angewiesen sind, hilft es nicht, wenn die Benennung ihres Problems vermieden wird. Im Gegenteil: Sie brauchen häufig unbedingt eine wissenschaftlich begründete Diagnose, damit sie Hilfe und Behandlung erhalten. Der Begriff Neurodiversität signalisiert, dass es keine Störung gibt. Demzufolge bedarf es auch keiner Behandlung und auch keiner Forschung an den Ursachen, was langfristig den schwer Betroffenen enorm schadet.
Besonders deutlich wird die Diskrepanz zwischen Aussenwahrnehmung und Realität an der Entwicklungsstörung Autismus. Rain Man und Sheldon Cooper als drollige Eigenbrötler mit unglaublichen Inselbegabungen sind klischeehafte Darstellungen von Autisten, die es in Wahrheit nur extrem selten gibt.
Die Autismus-Spektrum-Störung ist in drei Schweregrade aufgeteilt. Die meisten Betroffenen sind stark eingeschränkt: Je nach Quelle gilt etwa die Hälfte aller Kinder mit Autismus als geistig behindert, häufig definiert mit einem Intelligenzquotienten von unter 70. 40 Prozent aller Autisten lernen niemals zu sprechen, etwa ein Drittel aller Autisten benötigt ein Leben lang intensive Betreuung, häufig in spezialisierten Einrichtungen. Autismus tritt ausserdem regelmässig gemeinsam mit Epilepsie auf, besonders in der Gruppe von Betroffenen mit einem Intelligenzquotienten von unter 40.
Und selbst die als hochfunktional geltenden Autisten mit einer durchschnittlichen Intelligenz und Sprachentwicklung, die zum Beispiel eine normale Arbeitsstelle finden, scheitern später häufig im Alltag. Sie leiden unter Schwierigkeiten damit, soziale Signale wahrzunehmen, Beziehungen aufzubauen und zu erhalten, reagieren häufig extrem sensibel auf äussere Reize und müssen deutlich häufiger in psychiatrischen Kliniken behandelt werden als die Durchschnittsbevölkerung. Rund 42 Prozent der Erwachsenen erkranken in ihrem Leben zusätzlich an einer Angststörung, 37 Prozent an Depressionen.
Banalste Eigenschaften sind heute neurodivers
Umso lächerlicher wirkt es, wenn auf Tiktok Wäscheberge und zerwühlte Betten als «neurodiverse Haushalte» vorgezeigt werden, die Abneigung dagegen, dass sich auf dem Teller Kartoffeln und Gemüse berühren, als typisches ADHS-Symptom verhandelt wird und ADHS-Rezepte verbreitet werden. Selbst banalste Persönlichkeitseigenschaften werden fleissig pathologisiert und mit dem Krönchen «neurodivers» geadelt.
Möglicherweise ist das Etikett einer psychischen Störung deshalb so attraktiv, weil Pathologisierung heute die einzige Möglichkeit geworden ist, Leid und Imperfektion aus der Sicht der Leistungsgesellschaft auf sozial akzeptierte Weise auszudrücken. Schwäche dreht sich auf diese Weise sogar in etwas Positives: Man ist zwar nicht perfekt, dafür aber tief und interessant. Das mag ein verständliches Zeitgeistsymptom sein. Doch wenn Menschen mit unordentlichen Wohnungen oder hochintelligente Autisten mit Inselbegabung im Mittelpunkt der Neurodiversitätsdiskussion stehen, geschieht eine Trivialisierung des echten Leidens. Die Realität der meisten Betroffenen wird unsichtbar.
Eine schädliche Folge davon ist eine Ausweitung der Krankheitszone: Immer mehr Menschen glauben von sich, sie seien von Autismus oder ADHS betroffen, sind es aber nicht. Teile der Neurodiversitätsbewegung fordern sogar, dass nicht mehr die medizinische Diagnose den wirklich Betroffenen kennzeichnen soll, vielmehr solle doch die innere Wahrnehmung, die Identifikation ausschlaggebend sein.
Und so verwundert es nicht, dass manche Autismus gar nicht mehr als Störung, sondern als simple Marginalisierungskategorie sehen und die Störung mit Schwarzsein oder Homosexualität vergleichen. John Marble, der Gründer einer Autismus-Betroffenen-Organisation in San Francisco, twitterte zum Beispiel vor einigen Jahren: «Es gibt so etwas wie schweren Autismus nicht, genauso wie es keine schwere Homosexualität oder schweres Schwarzsein gibt.»
Selbst Forschung orientiert sich an Film-Autisten
Abgesehen davon, dass diese Haltung dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft völlig zuwiderläuft: Für ein von Autismus betroffenes Kind, das niemals sprechen, niemals eine romantische Beziehung führen und niemals allein leben können wird, sind solche Diskurse irrelevant und schädlich.
Wie sehr, zeigt sich vor allem am Einfluss des Neurodiversitätsdiskurses auf die Forschung: Auch Wissenschafter orientieren sich offenbar mittlerweile mehr an Filmen als an der Realität. Hauptsächlich forschen Wissenschafter an Autisten ohne Intelligenzminderung und mit relativ guter Sprachentwicklung.
Besonders krass wird es dann, wenn Aktivisten wissenschaftliche Erkenntnis ganz verhindern: In Grossbritannien sollte 2021 eine der grössten Autismus-Studien überhaupt losgehen. Ein internationales Team um den Experten Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge wollte über 10 Jahre hinweg auch mit Genanalysen wichtige Fragen klären. Zum Beispiel, warum manche Autisten unter Epilepsie und Depressionen leiden, andere aber nicht.
Aktivisten aus der Neurodiversitätsbewegung warfen den Forschern Eugenik und Diskriminierung vor und unterschrieben eine Petition gegen die Studie, diese wurde daraufhin eingestellt.
5000 Menschen hatten die Petition unterschrieben. Dabei leben mehr als 700 000 Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in Grossbritannien. Eine kleine Minderheit hat damit Forschung verhindert, die vielleicht einer viel grösseren Zahl an Menschen in ihrem Leid geholfen hätte – doch die Bedürfnisse dieser stillen Mehrheit wurden übersehen. Wohl, weil die nicht auf Tiktok zu finden sind.