Die Idee ist, so den Widerstand gegen Verdichtungsvorhaben zu brechen. Sie stösst aber sogar im eigenen Lager auf Kritik.
Es gibt ein Wort, das Mario Senn nicht mehr in den Mund nimmt – er spricht spontan vom «V-Wort». Denn der FDP-Kantonsrat aus Adliswil hat die Erfahrung gemacht: Wer sich heute noch für «Verdichtung» ausspricht, schiesst sich selbst ins Knie. Die Leute wollten nichts mehr davon hören, so ist er überzeugt, grosse Bauprojekte hätten es in Abstimmungen schwer. Obwohl im Kanton Zürich Wohnungsknappheit herrscht und dringend mehr gebaut werden müsste.
In Kloten zum Beispiel ist Ende letzten Jahres das Grossprojekt Steinacker spektakulär an der Urne gescheitert. Es hätte Wohnraum für 7000 Menschen bereitstellen sollen. Dieser Volksentscheid wurde weitum als Zäsur wahrgenommen.
Senn verbannt also die Verdichtung aus seinem Vokabular und lanciert dafür ein neues Wort: «Einheimischenbonus».
Die Idee: Wenn man den Einheimischen in einer betroffenen Gemeinde garantiert, dass sie bei der Vergabe von neuen Wohnungen gegenüber Auswärtigen bevorzugt werden, steigt die Zustimmung zu grossen Überbauungen wieder.
Die Kantonsregierung solle den Gemeinden darum aufzeigen, ob so etwas möglich sei. Ob sie einen solchen Einheimischenbonus von privaten Immobilienentwicklern einfordern könnten, zum Beispiel mittels städtebaulicher Verträge. Dies regt Senn in einer Anfrage mit zwei Mitunterzeichnerinnen aus der FDP an.
Als Hebel für solche Forderungen soll der sogenannte Mehrwertausgleich dienen, den der Kanton 2019 nach langem Ringen beschlossen hat. Er kommt überall dort zur Anwendung, wo sich der Landwert erhöht, weil eine Gemeinde durch eine Um- oder Aufzonung eine dichtere Wohnnutzung erlaubt als zuvor.
Ein solcher Einheimischenvorrang würde laut Senn nicht nur die Chancen von grossen Wohnbauvorhaben erhöhen, sondern auch ein weitverbreitetes Problem lösen: Den sogenannten Lock-in-Effekt. Viele Mieter belegen heute mehr Wohnraum, als sie brauchen. Zum Beispiel Ehepaare, die auch nach dem Auszug der Kinder in der alten, zu grossen Wohnung bleiben. Wenn Einheimische vermehrt in Neubauten umzögen, so argumentiert Senn, würden Familienwohnungen frei.
Wie die Bevorzugung von Einheimischen genau umgesetzt würde und wer als einheimisch gilt, lässt er offen. Denkbar wäre etwa, dass man seit mindestens fünf Jahren in der Gemeinde wohnhaft sein muss.
Eine Reaktion auf die Stimme der Strasse
Senns Idee ist auf Erfahrungen gestützt, die er zu Hause in Adliswil gemacht hat, wo er Stadtrat ist. Dort, nahe am Zürcher Stadtrand, sind in den vergangenen Jahren viele grosse Überbauungen entstanden. Gleichzeitig hat der Ausländeranteil denjenigen von Zürich überholt, er liegt heute bei mehr als 40 Prozent. Ein neues, grosses Wohnbauprojekt des Versicherungsgiganten Swiss Re ist kürzlich beinahe an der Urne gescheitert.
In Gesprächen auf der Strasse ist Senn aufgefallen, dass hinter diesem Widerstand auch das Gefühl steht, zu kurz zu kommen: Profitieren würden von den neuen Wohnungen vor allem Neuzuzüger. Die Einheimischen dagegen blieben auf den Folgekosten sitzen, weil zum Beispiel neue Schulhäuser gebaut werden müssten. Und die eigenen Kinder fänden später nichts, wenn sie auszögen.
Verallgemeinern lässt sich dies nicht, wie ein Blick nach Kloten zeigt. Dort wurden verschiedene Gründe gegen das Grossprojekt Steinacker vorgebracht: der Mehrverkehr etwa oder die Verdrängung von Gewerbebetrieben. Aber Vorbehalte gegen Neuzuzüger gehörten nicht dazu, wie die siegreichen Projektgegner auf Anfrage sagen.
Senn weiss, dass er sich als Freisinniger mit einem Einheimischenbonus auf heikles Terrain begibt. Die Verknüpfung der Wohnproblematik mit Ressentiments gegenüber Zuzügern ist eher das Feld der SVP, und staatliche Interventionen zur Sicherung eines Inländervorrangs sind traditionell eines der Gewerkschaften.
Der FDP-Kantonsrat versichert daher, dass sein Ansatz nicht fremdenfeindlich motiviert sei. «Entscheidend ist nicht der Schweizer Pass, sondern wie lange jemand in der Gemeinde lebt.» Auch einen illiberalen bürokratischen Eingriff in private Eigentumsrechte sieht er in seiner Forderung nicht.
Das Konzept des Mehrwertausgleichs halte er als Liberaler für legitim, weil es dem Verursacherprinzip folge: Ein Gemeinwesen dürfe Forderungen stellen, wenn ein Grundeigentümer durch eine Aufzonung von einer Wertsteigerung profitiere und Infrastrukturbedarf auslöse.
Ein Einheimischenbonus unterscheide sich nicht von bereits bestehenden Formen des Mehrwertausgleichs: Es sei einerlei, ob eine Gemeinde von einem Immobilienentwickler einen Geldbetrag, die Erstellung von Schulen oder Parks oder die Bevorzugung Einheimischer bei der Wohnungsvergabe verlange. Jede Gemeinde müsse für sich entscheiden, was sie brauche.
Für die Immobilienentwickler bedeute dies kaum bürokratischen Zusatzaufwand, da sie bei der Erstvergabe von Wohnungen ohnehin auf eine ausgewogene Zusammensetzung der Bewohner achteten.
Die städtischen Wohndebatten erfassen die Agglomeration
Albert Leiser, Direktor des Zürcher Hauseigentümerverbandes und wie Senn FDP-Mitglied, ist anderer Ansicht: Er sei dagegen, die Eigentümer mit zusätzlichen Reglementierungen im Bereich des Mietrechts zu belasten, sagt er auf Anfrage. Deshalb sei er gespannt, ob die Kantonsregierung so etwas als zulässig erachte.
Senn hofft, dass die Regierung einen Weg aufzeigt, wie die Gemeinden einen Einheimischenbonus ganz ohne Gesetzesänderung durchsetzen können. Er hat seinen Vorstoss in Form einer einfachen Anfrage gehalten, deshalb wird es im Parlament keine Debatte darüber geben.
Es ist absehbar, dass die Auseinandersetzung dort auch von den linken Parteien geprägt wird, die in ihrer Problemanalyse woanders ansetzen: Der Haken ist aus ihrer Sicht das Preisniveau der Wohnungen in den Neubauten. Nur hochqualifizierte Neuzuzüger könnten sich diese leisten – eine formale Bevorzugung von Einheimischen helfe da nichts. Von Links wird das Instrument des Mehrwertausgleichs stattdessen eingesetzt, um bei Um- und Aufzonungen einen Mindestanteil an preisgünstigen Wohnungen einzufordern.
Der SP-Kantonsrat Tobias Langenegger, ein Stadtzürcher, findet Mario Senns Anfrage zwar grundsätzlich interessant. Er verweist darauf, dass die SP im Zürcher Stadtparlament einen von der SVP angeregten Vorrang für die lokale Bevölkerung bei stadteigenen Wohnungen unterstützt hat. Und auch er beobachte, dass Verdichtungsprojekte zunehmend auf Ablehnung stiessen. Er unterstreicht aber die zentrale Differenz: «Die Leute haben deshalb Angst vor Verdichtung, weil sie befürchten, infolge der Gentrifizierung verdrängt zu werden – das liegt daran, dass zu wenig bezahlbarer Wohnraum entsteht.»
Mario Senn will das nicht ausschliessen, aber in Gemeinden wie Adliswil sei die Verdrängung durch hohe Preise nicht das Hauptproblem. Die Situation sei eine andere als in Zürich. «Wir haben vergleichsweise viele günstige Wohnungen», sagt er. Langenegger bezweifelt dies. Auf seinen Reisen durch den Kanton habe er den Eindruck gewonnen, dass der Mangel an günstigem Wohnraum nicht mehr nur in der Stadt Zürich ein Problem sei.
Unbestritten ist: Die wohnpolitische Debatte, die in der Stadt begonnen hat, strahlt zunehmend auch auf die Agglomeration ab. Mit dem Unterschied, dass die Bürgerlichen dort frühzeitig mit eigenen Rezepten dagegenhalten. Je nachdem, wie die Antwort der Kantonsregierung auf Senns Anregung ausfällt, will dieser mit einem zweiten Vorstoss nachdoppeln – dann gäbe es doch noch eine öffentliche Diskussion. Interessant wäre sie alleweil. Nicht nur wegen der Frage, ob es Senn schafft, sie ganz ohne das «V-Wort» zu führen.