Albert Kriemler, Kreativdirektor der St. Galler Modemarke Akris, hat die Kostüme für John Neumeiers letztes Ballet an der Hamburger Staatsoper entworfen – ohne Vorbilder, aber mit viel Menschlichkeit.
«Wegen Albert?», tönt es aus der langen Schlange vor der Damentoilette in der Hamburger Staatsoper. «Wegen Albert!», bestätigt eine Frau enthusiastisch ihren Anwesenheitsgrund. «Albert», damit ist zweifellos der Designer Albert Kriemler gemeint, Kreativdirektor des St. Galler Modehauses Akris. Er hat die Kostüme für das Ballett «Epilog» entworfen, das an diesem Abend spät im Juni in der Elbstadt erstmals aufgeführt wird, und so sind einige Bekannte angereist. Spätestens das Schweizerdeutsch in den WC-Schlangen und beim Cüplitrinken verrät es. Kriemler selbst ist auch da.
Ob er überhaupt nervös ist? Denn man kann bei diesem Anlass getrost von so etwas wie Routine sprechen. Schon seit 2005 arbeitet Albert Kriemler mit dem amerikanischen Choreografen John Neumeier zusammen. Sechs von dessen Ballettstücken hat er mit seiner charakteristischen Zurückhaltung und in St. Galler Stoffe eingekleidet. «John ruft mich an, wenn er das Ballett in die heutige Zeit übertragen will», sagt der Designer bei einem Gespräch vor der Aufführung in einem Hamburger Hotel, «wenn es ihm um die absolute Modernität geht.»
Autobiografisch und intim
Und doch hat dieses neue Stück eine besondere Bedeutung. Mit «Epilog» verabschiedet sich der 85-jährige Neumeier vom Hamburg Ballett. Über ein halbes Jahrhundert lang hat er es ausgebaut und mit einer Schule für Nachwuchstalent ausgestattet. John Neumeier und diese Kompanie, sie sind zu Synonymen geworden; die Stühle, die der Intendant in seinen Choreografien so gerne nutzt, zu einem Teil des Mobiliars.
«Epilog» ist autobiografisch angehaucht, aber keinesfalls eine chronologische Nacherzählung seines Lebens, das in Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin begann und ihn über Chicago und Frankfurt 1973 nach Hamburg brachte. Statt eines einzelnen Handlungsstrangs besteht das Stück aus Vignetten, die ineinanderfliessen. Die Tänzerinnen und Tänzer wirbeln von Szene zu Szene, sitzen am elterlichen Küchentisch, heben einander in die Höhe, vibrieren förmlich, schreiten in greigen Anzügen zu Simon & Garfunkels «The Sound of Silence» langsam über die Bühne, umschlingen sich, halten inne. Auch Schubert-Sonaten und die «Vier letzten Lieder» von Richard Strauss werden nicht von einem vollen Orchester interpretiert, sondern von zwei Pianisten und einer Sängerin. «Intim» und «kammermusikalisch» sind die Worte, mit denen das Ballett im Programm beschrieben wird, und das trifft zu.
Spagatschritte im Faltenkleid
Aber was trägt man zu einem Abschied? Drei Monate arbeitete Albert Kriemler an den Kostümen für «Epilog». Obwohl er diesen Begriff nie nutzen würde: «Mir geht es nicht um Kostüme, mir geht es um Kleider zum Tanzen», sagt er immer wieder, «Akris für die Bühne.» Eine «Vermenschlichung der theatralischen Garderobe», nennt es John Neumeier. Menschen, die tanzen, in Kleidern, die man zum Tanzen trägt. Die beiden sind ein eingespieltes Duo: An einem Abend im April erzählt der Choreograf dem Designer den Ablauf des Stücks, und bald darauf wird zum ersten Mal getanzt. Dafür hat Kriemler Toiles und Kleider mitgebracht, an denen er ohnehin schon arbeitet oder die ihm passend erscheinen.
Sobald sie in Bewegung sind, wird für Neumeier klar, was sich eignet und was nicht. Denn die Funktionalität, die Kriemler bei seiner Arbeit ohnehin ständig umtreibt, wird beim Tanzen unerlässlich: «Wenn ein 180-Grad-Spagatschritt möglich sein muss, werde ich erst recht gefordert. Das ist anspruchsvoll für einen Schnitt», erklärt der Designer. Trotzdem sind es oft nur kleine Justierungen, die Laufstegkleider von Bühnenkleidern unterscheiden. Bei einer Chiffonhose muss eine Naht verändert werden; ein Faltenkleid bekommt zwei zusätzliche Schlitze verpasst.
Nichts soll schwer wiegen
An diesem Sonntagabend nun, auf der Bühne der Staatsoper, schiessen Beine durch genau diese Schlitze. Rostrote Baumwoll-Shirts spannen sich um die Oberkörper der Tänzer. Anthrazitfarbene Jeans sind so butterweich, dass sich ihre Träger darin durch die Luft schleudern können. Ein Kleid aus Organza wie Turmalin wirkt, als hülfe es der Tänzerin dabei, sich der Schwerkraft zu widersetzen. Fest und flüssig wechseln sich ab wie in der Chemie; stehendes Techno-Mesh folgt auf fliessendes Seidencrêpe. Nur schwer wiegt nichts.
Das ist gewissermassen Christian Lacroix zu verdanken, dem Prototyp der unter die Kostümbildner gegangenen Modedesigner. Schon sein Leben lang entwirft der Couturier für die Bühne. Wie seine Mode sind seine Kostüme opulent und vielschichtig. Für ein Ballett nutzt er schon mal zwei Millionen Swarovski-Kristalle. Die Entwürfe von Lacroix prägten Albert Kriemler nachhaltig, als er sie in jungen Jahren einmal in einem Ballett sah. «In den schweren Stoffen konnten sich die Tänzerinnen kaum bewegen», sagt er und findet: «Eigentlich muss man genau das Gegenteil machen.»
Farben aus der Renaissance
Wenn Ornamente fehlen, macht das Farben umso wichtiger. In «Epilog» wirkt es, als hätte Kriemler sie mit einer Pipette aus den Gemälden Piero Della Francescas aufgesogen und gleichmässig über seine Stoffe geträufelt. Der Renaissancemaler aus der Toscana erlebt gerade, nun ja, eine Renaissance, mit einer kürzlich zu Ende gegangenen Ausstellung in der Londoner National Gallery und in Hamburg als Inspiration für John Neumeiers Bühnenbild. Kriemler ist sichtlich begeistert von Della Francesca und seinen tiefen Rottönen, bleichen Gesichtern, pastellblauen Himmeln und verschiedenen Schattierungen von Weiss.
So begeistert, dass sie ihm auch den Impuls für seine Sommerkollektion 2025 gaben, die er Ende September in einem eierschalenfarbenen Gothiksaal in Paris zeigte. Ein wenig Theater darf eben schon sein. Doch von der gängigen Weisheit, dass auf einer Bühne alles immer grösser, lauter, greller sein soll als sonst, davon hält Kriemler nichts. «Wenn etwas diese Werte braucht, um wahrgenommen zu werden, dann ist es sowieso verfehlt», sagt er. «Ich habe lieber, wenn man erst auf den zweiten Blick realisiert, dass es ein tolles Kleid ist», so der Designer.
Klebrige Ballettschlappen und schwerer Modeschmuck
In der Tradition von Modedesignern, die fürs Ballett entwerfen, liegt Albert Kriemler damit näher bei Gabrielle Chanel als bei Christian Lacroix. Chanel war mit dem Ballets-Russes-Gründer Sergei Diaghilev befreundet und kleidete 1924 sein Ballet «Le Train Bleu» ein: in lose Tennis-Ensembles und kurze Badeanzüge, gestreifte Hemden und gestrickte Shorts. Doch sogar sie hängte den Tänzerinnen schweren Modeschmuck an die Ohren und steckte sie in Ballettschlappen mit Gummisohlen, die auf dem Bühnenboden kleben blieben, wie eine Tänzerin in ihrer Autobiografie schrieb.
Nicht, dass sich Albert Kriemler auf solche Vorbilder stützen würde. Dass ihn andere Modedesigner mit Bühnenerfahrung inspirieren würden, diese Vorstellung lehnt er ab. Ideen soll man schon selbst haben, findet er.
Das Ballett «Epilog» läuft noch bis zum 1. Februar 2025 an der Staatsoper Hamburg; staatsoper-hamburg.de