Risikoreiche Anlagen erreichen Rekordstände, trotz politischen Gefahren und hohen Zinsen. Doch selbst die Begeisterung für künstliche Intelligenz wird nicht verhindern können, dass es auch dieses Mal an der Börse knallen wird.
«To the Moon!» – «Zum Mond!» Diesen Ausspruch der Bitcoin-Fans nehmen sich viele Anleger zu Herzen. Die Börsen kennen derzeit nur eine Richtung: nach oben. Der wichtigste Aktienindex der Welt, der amerikanische S&P 500, ist in 16 der letzten 18 Wochen gestiegen – das hat es seit 1971 nicht mehr gegeben. Auch der japanische Nikkei-Index ist wieder in Hochform und durchbrach jüngst die Rekordmarke von 40 000 Punkten; sogar der Deutsche Aktienindex hat ein neues Allzeithoch gesetzt, trotz lahmender Wirtschaft in Deutschland.
Nicht nur Aktien gehen durch die Decke. Auch der Goldpreis ist auf Rekordkurs – eine rationale Erklärung gibt es dafür nicht. Mustergültig für die herrschende Zuversicht ist auch der Höhenflug des Bitcoins. Die wichtigste Kryptowährung gilt als eine der risikoreichsten Anlagen überhaupt. Diese Woche hat der Bitcoin ein neues Allzeithoch erreicht. Eine Spekulationsblase will aber keiner sehen, weder bei Aktien noch beim Gold, noch beim Bitcoin.
Krisenherde überall
Dabei ist das Umfeld alles andere als freundlich. Die Krisenherde sind überall: Huthi-Rebellen, die wichtige Handelsrouten stören, chinesische Jets und Kampfschiffe, die Taiwan bedrohen, Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. Und im kommenden Jahr beginnt womöglich eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump und mit ihr ein neuer Strauss von politischen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten.
Einer Mehrheit der Börsenprofis scheint das egal zu sein. Sie tun diese Gefahren als «tail risks» ab, als Extremrisiken. Und diese kann keiner kontrollieren. Mit schicksalhafter Gelassenheit lässt sich so auch auf den kommenden Zinsentscheid der US-Notenbank Fed blicken.
Die Hoffnung auf rasche Zinssenkungen in diesem Jahr war übertrieben, das ist jetzt allen klar. Es wird länger dauern, bis die Zinsen wieder fallen. Doch auch diese eindeutig schlechte Nachricht für Aktien haben die Börsen bereits verarbeitet; die Kurse steigen weiter.
Dieses Mal ist es anders
Von einer Spekulationsblase wie zur Dotcom-Ära zur Jahrtausendwende will kaum jemand sprechen. «Dieses Mal ist es anders», so lautet das Bonmot, das an der Börse bemüht wird, wenn alte Bewertungsmassstäbe nicht mehr gelten sollen. Und das Killerargument heute, warum es anders kommen wird und die Hausse legitim ist, lautet: «KI».
Investoren sind überzeugt, dass «künstliche Intelligenz» die Welt schnell verändern und Unternehmen zu Milliardengewinnen verhelfen wird. Für gewisse wie Nvidia trifft das zu. In nur vier Wochen hat sich der Börsenwert des Chip-Bauers von einer auf zwei Billionen Dollar verdoppelt. Nvidia ist nun das drittwertvollste Unternehmen der Welt – hinter Microsoft und Apple.
Die Erwartungen an KI sind so gross, dass ein Quartalsabschluss von Nvidia mittlerweile die gleiche Aufmerksamkeit auf sich zieht wie ein Zinsentscheid. Unbestritten, Tech-Titanen wie Microsoft werden viel mit KI verdienen. Doch ob und wann Produktivitätsgewinne zu den restlichen 99 Prozent der Firmen durchsickern, weiss niemand.
Kaufen oder kaufen
Die KI-Begeisterung treibt aber nicht nur die Börsen an, sie verschärft das Problem eines hohen Klumpenrisikos in den Indizes – die zehn grössten Firmen machen fast ein Drittel der gesamten Kapitalisierung des S&P 500 aus. Doch auch das ist den Investoren egal. Es gibt nur kaufen oder kaufen – die Angst, etwas zu verpassen, ist zu gross.
Zudem ist die US-Wirtschaft erstaunlich robust, das macht es vielen Anlegern einfach, über die historisch gesehen sehr hohe Bewertung des US-Marktes hinwegzusehen.
Noch gibt es allerdings Skeptiker, die nicht glauben, dass wegen KI alles anders kommt. Ein Börsenabsturz erfolgt schliesslich erst in der Phase der Euphorie. Es knallt, wenn die letzten Pessimisten aufgegeben haben. Insofern kann der Höhenflug auch noch weitergehen. Doch die Situation ist fragil. Ein kleiner Schock würde genügen, und die alten Regeln gälten wieder.