Der charismatische Oppositionelle war einer der wenigen echten Politiker in Russland. Er versuchte, aus den Menschen Bürger zu machen. Das machte ihn für den Kreml gefährlich – so sehr, dass Putin es nie wagte, sich mit ihm in einer Wahl zu messen.
Alexei Nawalnys letzte irdische Reise führte an den Polarkreis: nach Charp, einer Siedlung, die einst während des Baus einer längst verschwundenen Eisenbahnlinie entstanden ist und seit der Stalinzeit Strafgefangene beherbergt. In einer der klimatisch unwirtlichsten Strafkolonien Russlands hatte er anderthalb Jahrzehnte Gefangenschaft vor sich. Anderthalb Jahrzehnte, die seinen Anhängern und vielen Kommentatoren ohnehin übertrieben vorkamen: Vorher noch, so war die Hoffnung, würde das Regime Wladimir Putins zusammenbrechen. Politische Gefangene würden freikommen. Das «wunderbare Russland der Zukunft», das Nawalny anstrebte und für das er bereit war, märtyrerhaft durch die Hölle der russischen Gefängniswelt zu gehen, könnte dann Realität werden.
Frohgemut bis kurz vor dem Tod
Aber Charp ist für Nawalny zur Endstation geworden. Am Freitagmittag (Lokalzeit) soll der 47-jährige Oppositionspolitiker und charismatische Hoffnungsträger für Hunderttausende von Russen in der Strafkolonie zusammengebrochen und gestorben sein. Das meldete die Strafvollzugsbehörde für das Gebiet der Jamal-Nenzen, in dem Charp liegt. Weder Nawalnys Anwalt noch seine Familie oder Mitstreiter waren zunächst in der Lage, den Tod zu bestätigen.
Seine Ehefrau Julia Nawalnaja sagte an der Münchner Sicherheitskonferenz, das Regime habe jahrelang gelogen, es sei schwer, ihm zu glauben. Wenn es wahr sei, trage Präsident Putin die Verantwortung für alles, was er dem Land und ihrer Familie angetan habe. Angesichts der prompten Reaktionen der russischen Staatsmedien, der Propagandisten und des Kremls gibt es jedoch wenig Zweifel am Wahrheitsgehalt der Nachricht.
Ungeklärt sind bis auf weiteres die Umstände. Noch am Vortag war Nawalny, wie so oft, über Video einer Gerichtsverhandlung in Kowrow, wo er bis Ende vergangenen Jahres in einem Straflager gesessen hatte, zugeschaltet gewesen. Er hatte gescherzt wie immer. Seine Mutter, Ljudmila Nawalnaja, liess ausrichten, am 12. Februar habe sie ihn in der Strafkolonie besucht; er habe gesund und lebensfroh gewirkt. Beileidsbekundungen wolle sie keine hören.
Fingerzeig auf Putin
«Der Haftstrafe haben sie Mord hinzugefügt», sagte der russische Publizist und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow und drückte damit aus, was alle Reaktionen der Regimegegner verbindet: die Überzeugung, dass Nawalny, wenn er nicht gar kaltblütig umgebracht wurde, an den bewusst herbeigeführten Umständen seiner Lagerhaft gestorben ist.
Auch den Schuldigen dafür nannten sehr viele der regimekritischen russischen Kommentatoren unverblümt: Wladimir Putin, der am Freitag gerade am Ural Maschinenfabriken besichtigte und beim Treffen mit Arbeitern sehr aufgeräumt wirkte. Der Kreml versicherte über Putins Sprecher Dmitri Peskow bloss, der Vorfall werde den Regeln gemäss untersucht. Kein Wort der Anteilnahme kam über seine Lippen. Die Propaganda drehte den Spiess einmal mehr um und stellte, wie schon nach der Vergiftung Nawalnys 2020, die Frage, wem der Tod nütze. Dass, wie manche raunten, der Westen die Hand im Spiel habe, ist angesichts der Lagerhaft Nawalnys nur grotesk. Auch im Westen werden sich jedoch genügend Stimmen finden, die das für plausibel halten.
27 Mal war Nawalny seit seiner Überstellung in ein Straflager im Frühjahr 2021 für jeweils die maximale Frist von fünfzehn Tagen in den sogenannten Strafisolator gesperrt worden. Das ist eine Zelle, die entweder feuchtkalt oder drückend heiss ist, wo es nur rudimentäre sanitäre Einrichtungen gibt, wo Gefangene tagsüber nicht sitzen dürfen und wo sie nur das magere Lageressen bekommen.
Ärzte und im Gefängniswesen erfahrene Menschenrechtsaktivisten sagten seit langem, jeder unter solchen Bedingungen verbrachte Tag schädige die Gesundheit unwiederbringlich. Der bekannte russische Anwalt Iwan Pawlow sprach in einer ersten Reaktion auf die Todesnachricht von einer «kontrollierten Tötung in Haft». Die andauernde Verschickung in den Strafisolator unter absolut lächerlichen Begründungen war, wie russische Exilmedien wissen wollen, aus Moskau verfügt worden – aber mit dem zynischen Zusatz, die örtlichen Verantwortlichen sollten dafür sorgen, dass Nawalny nicht sterbe.
Schamlose russische Justiz
Der Tod Nawalnys überschreitet nur scheinbar eine Grenze. Seit der Politiker und unbeirrte Aktivist im August 2020 in Sibirien durch eine Todesschwadron des Geheimdienstes FSB mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden war und nur durch ein Wunder und die Hilfe deutscher Ärzte überlebt hatte, war klar, dass das russische Regime und Präsident Putin selbst keinerlei Skrupel mehr kennen. Was danach im Umgang mit Nawalny und durch eine schrittweise verschärfte Gesetzgebung auch generell in Russland folgte, bestätigte das nur.
Sobald Nawalny im Januar 2021 nach seiner Genesung nach Russland zurückgekehrt war, hatte die Justiz keine Scheu mehr, den zuvor lange noch gewahrten Anschein von Rechtsstaatlichkeit im Umgang mit dem lästigen politischen Gegner abzulegen. Es ging nur noch darum, ihn möglichst lange wegzusperren und möglichst von der Aussenwelt zu isolieren. Die in der Strafkolonie durchgeführten weiteren Prozesse, wegen angeblichen Betrugs, dann wegen extremistischer Tätigkeit – und damit ganz direkt politischer Vergehen –, waren erst recht eine Farce.
Es gab eine Steigerung in dem pseudojuristischen Kampf gegen ihn. Frühere Urteile aufgrund von wirtschaftlich motivierten Anklagepunkten hatten den Zweck, seinen Ruf als ehrbarer Bürger zu schädigen und ihn durch Vorstrafen von der Teilnahme an Wahlen abzuhalten. In den vergangenen Jahren ging es jedoch schlicht nur noch darum, einen offenkundig für gefährlich eingeschätzten politischen Kontrahenten auszuschalten. Es gelang dem Regime zwar, Nawalny selbst vom politischen Prozess auszuschliessen und seine politischen Strukturen zu zerschlagen.
Er behielt aber, wie der russische Politologe Alexander Kynew schrieb, auch in der Haft seine innere Freiheit. Über die Anwälte verbreitete er seine bis zuletzt witzig-optimistisch verfassten Botschaften über die sozialen Netzwerke. Dass die Behörden jüngst auch gegen diese Anwälte juristisch vorgingen und ihnen Teilhabe an extremistischer Tätigkeit vorwerfen, deutete bereits an, dass der Kreml auch in einem zu neunzehn Jahren Straflager verurteilten Intimfeind immer noch eine Bedrohung sieht.
Von der Basis getragen
Alexei Nawalnys Ableben ist gleichwohl eine Zäsur. Kein anderer auf Russlands politischer Bühne war, nach der Ermordung Boris Nemzows, so sehr ein Politiker wie Nawalny. Während der einstige mediokre Geheimdienstmann Putin dank Patronage in den Hinterzimmern der Macht aufgestiegen war, gründete Nawalnys politische Kraft auf der Unterstützung von unten. Er war ein Charismatiker, ein Volkstribun, der mit seinen Auftritten an Kundgebungen und in seinen Korruptionsenthüllungsvideos die Menschenmassen fesseln konnte. Putin war zu feige, sich je direkt mit ihm in einer Wahl zu messen.
Den Russinnen und Russen lebte er etwas vor, was Putins Regime stets zu unterdrücken versuchte: Initiativgeist zu zeigen, selbst aktiv zu werden und gegen Unrecht, Missstände und Machtmissbrauch anzukämpfen. Der ausgebildete Jurist wollte der sich rechtlos fühlenden Masse zeigen, dass jeder einzelne als Bürger etwas zählt. Zusammen mit seinem Furor, mit dem er die Heuchelei der sich bereichernden Volksvertreter und der Machtelite gnadenlos entblösste, machte er sich zum Intimfeind Putins. Obwohl er selbst nicht zugelassen war, gelang es Nawalny, vor der Präsidentschaftswahl 2018 ein Netz von regionalen Ablegern seiner politischen Organisation einzurichten. Es wurde zum Anlaufpunkt vieler junger gesellschaftspolitisch Interessierter in den Provinzen.
Durch die Zehntausende, die aufgrund von Nawalnys Film «Ein Palast für Putin» im Januar 2021 auf die Strassen in ganz Russland gingen, fühlte sich der Kreml wohl in Nawalnys Wirkungsmacht bestätigt. Dabei überschätzte er stets auch Nawalnys Einfluss und seine Möglichkeiten. Im Westen mochte der jugendlich wirkende Oppositionelle den Wunsch nach der mit Boris Jelzin kläglich untergegangenen Vorstellung von einem demokratischen Russland verkörpern. Kritiker, die Nawalny die anfängliche Nähe zu wenig appetitlichen Nationalisten und Fremdenfeinden vorwarfen, gab es zwar auch. Aber sie hatten stets etwas Kleinliches an sich, weil sie Nawalnys Emanzipation von diesen Anfängen einfach übergingen.
Vielen in Russland blieb er suspekt
In Russland dagegen war er nicht nur einer breiteren Masse, die dem von Putin beförderten Konformismus huldigt, als aufdringlicher, zu lauter Störenfried mit Westkontakten suspekt. Mit seiner oft überheblichen, ja starrköpfigen Art verschreckte er auch viele im demokratisch-freiheitlichen Lager. Erst sein Martyrium brachte ihm auch bei politischen Widersachern breitere Anerkennung ein, die eigentlich die politischen Ziele einer Überwindung von Putins Herrschaft teilten. Russlands Krieg gegen die Ukraine, der auch ein Krieg des Regimes gegen seine eigenen Bürger ist, machte dies noch deutlicher. Nawalnys Tod nimmt vielen Regimegegnern, gerade denjenigen, die noch in Russland ausharren, einen weiteren Hoffnungsschimmer.
In dem mit dem Oscar ausgezeichneten Dokumentarfilm forderte Nawalny seine Anhänger auf, im Falle seines Todes zusammenzustehen. Die ersten roten Nelken sind am Freitag an Gedenkstätten für politische Gefangene in Russland aufgetaucht. Aber für einen Aufstand der Ohnmächtigen ist das politische Klima viel zu kalt.