Die Aktionen von Ibtissam Lachgar erscheinen selbst vielen im Westen extrem. Der Umgang mit der Aktivistin stellt Marokko vor eine Zerreissprobe.
Ein T-Shirt mit der Aufschrift «Allah is lesbian» – wobei das Wort Allah auf Arabisch in koranischer Kalligrafie geschrieben steht – brachte die marokkanische Feministin Ibtissam Lachgar einmal mehr vor Gericht. Die 50-Jährige befindet sich seit Sonntag in Rabat in Untersuchungshaft, nachdem sie das provokante Kleidungsstück in den sozialen Netzwerken zur Schau gestellt hat. Das Foto mit dem umstrittenen T-Shirt entstand laut Lachgars Facebook-Profil bereits im Mai beim feministischen Festival «Women Create!» in London, einer Veranstaltung, die «zensierte und gefährdete weibliche und feministische Künstlerinnen» unterstützt.
Am 10. August, nur wenige Stunden vor ihrer Inhaftierung, postete Lachgar auf X, dass ihr «Allah is lesbian»-Slogan sie seit drei Tagen zur Zielscheibe zahlreicher Todes- und Vergewaltigungsdrohungen mache. Darunter teilte sie auch eine Nachricht mit: «Marokko führt nun das tägliche Gebet in allen Schulen ein.»
Islam sei «faschistisch»
Doch damit nicht genug: Lachgar bezeichnete den Islam öffentlich als «faschistisch, patriarchal und frauenfeindlich». Diese Äusserungen lösten eine Welle der Empörung in dem nordafrikanischen Königreich aus, wo der Islam Staatsreligion ist und Blasphemie mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden kann.
Bezeichnend ist der zeitliche Ablauf: Erst nachdem der ehemalige Minister für Justiz und Freiheiten, Mustapha Ramid von der islamistischen Partei PJD, öffentlich gegen Lachgar Stellung bezogen und rechtliche Schritte gefordert hatte, nahm sie die Staatsanwaltschaft in Untersuchungshaft. Ramid bezeichnete ihre Äusserungen als «vorsätzliche Beleidigung» des Islam und nicht als legitimen Meinungsausdruck.
Lachgar ist keine Unbekannte. Bereits 2013 organisierte sie das umstrittene «Kiss-in» vor dem marokkanischen Parlament. Damals protestierte sie gegen die Verhaftung dreier Jugendlicher, die Fotos von sich beim Küssen auf Facebook veröffentlicht hatten. Vor dem Parlament küsste Lachgar ihren damaligen Freund minutenlang vor den Kameras der Presse, bis ein Mitglied der royalistischen Jugend sie physisch angriff und skandierte: «Das ist ein islamisches Land, ihr Hurensöhne!» Obwohl gegen die Organisatoren des Kiss-ins wegen «Unzucht und Erschütterung des Glaubens eines Muslims» Strafanzeige eingereicht wurde, wurde die Aktivistin damals nicht verhaftet.
Zwei Klassen von Aktivisten
In Marokko gilt ein ungeschriebenes Gesetz: Aktivisten, die fliessend Französisch sprechen, in Grossstädten wie Rabat oder Casablanca leben und an Veranstaltungen westlicher Botschaften teilnehmen dürfen, werden selten verhaftet – unabhängig davon, wie kritisch sie sich äussern. Vom Schicksal anderer Aktivisten, die fernab dieser Zentren agieren, erfährt man oft erst, wenn sie ihre Haftstrafen bereits verbüsst haben.
Lachgar, die erst vor wenigen Tagen ihren 50. Geburtstag feierte, gehört eigentlich zu dieser privilegierten Schicht. Sie studierte in Paris Psychologie und bewegt sich souverän in internationalen Kreisen. Dennoch scheint sie mit ihren jüngsten Aktionen eine rote Linie überschritten zu haben.
Es bleibt offen, ob Lachgar nach Ablauf der 48-Stunden-Frist aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Sollte die Staatsanwaltschaft sie weiter festhalten, würde das nichts Gutes für sie bedeuten.
Auf Solidarität kann Lachgar dabei kaum hoffen. Sie hat es geschafft, alle potenziellen Unterstützer aus dem Westen gegen sich aufzubringen: Die Feministinnen hat sie wegen ihrer Gender-kritischen Positionen verloren, Konservativen gefallen zwar ihre islamkritischen Äusserungen, wegen ihrer Position gegenüber Abtreibung und der Kritik an allen Religionen halten sie trotzdem Distanz. Die liberalen Säkularen in Marokko haben zwar Mitleid mit ihr, können ihr aber öffentlich nicht beistehen, da Lachgars Freiheitsvorstellungen die vorhandenen Phantasien bei weitem übersteigen.
Hat sie eine rote Linie überschritten?
Lachgar ist eine Visionärin, die Ideen aus einer möglichen Zukunft in die Gegenwart trägt. Selbst in Europa gelten ihre Ansichten als hyperprogressiv. Für Marokko wirkt ihr Aktivismus wie Science-Fiction-Romane: faszinierend, aber völlig weltfremd.
So bleibt Lachgar eine besondere Kämpferin, die die Grenzen der Freiheit stets erweitert und zwar in einem Land, das einen schwierigen Balanceakt zwischen liberalen und islamistischen Kräften zu schaffen versucht. König Mohammed VI. hat mehrfach gezeigt, dass er das Land öffnen, modernisieren und Frauenrechte unterstützen möchte. Dennoch darf er den Druck der konservativen Mehrheit und die Erpressung durch die Islamisten nicht ignorieren.
Für Marokko stehen in dieser Frage schwierige Jahre bevor. Das Königreich, das 2030 als Mitorganisator der Fussball-Weltmeisterschaft glänzen möchte, wird zunehmend mit seinem Menschenrechtsdossier konfrontiert. Je näher das Grossereignis rückt, desto grösser wird die internationale Aufmerksamkeit. Die Welt wird dann nicht nur das touristische Postkartenbild von Bauchtanz und Couscous in Marrakesch sehen, sondern auch die Dutzende politischer Gefangener, die grassierende Armut und die Willkür der Justiz. Was als Prestigegewinn gedacht war, könnte sich zu einem Enthüllungsereignis entwickeln. Etwas, womit Rabat nicht gerechnet hat.
Die nächsten Stunden werden zeigen, ob Marokko bereit ist, die Aktionen einer streitbaren Feministin auszuhalten, oder ob diesmal die rote Linie endgültig überschritten wurde.