Die USA und Russland verhandeln über ein Ukraine-Abkommen. Dieses absichern soll aber Europa – wohl mit Bodentruppen und schweren Waffen. Ist es dazu in der Lage?
Noch dauern die Gefechte in der Ukraine mit unverminderter Härte an. Aber eines Tages werden die Waffen schweigen – und dieser Tag könnte nach den jüngsten turbulenten Ereignissen näher sein, als man dachte. Die USA und Russland haben, über die Köpfe der Ukrainer und der anderen Europäer hinweg, diese Woche mit Verhandlungen begonnen.
Wie auch immer ein allfälliges Abkommen austariert sein wird, klar ist jetzt schon: Die Grossmachtansprüche des russischen Präsidenten Wladimir Putin werden damit nicht befriedigt sein – und dass er sich nicht an internationale Vereinbarungen hält, hat er verschiedentlich unter Beweis gestellt. Kurz: Dieses Mal benötigt die Ukraine echte Sicherheitsgarantien.
Dass sich die USA nicht an der Bereitstellung von Truppen zur Absicherung des Abkommens beteiligen werden – der oft verwendete Begriff «Friedenstruppen» ist irreführend –, hat Verteidigungsminister Pete Hegseth vergangene Woche klargemacht. Was bedeutet dies für die europäischen Staaten, die ein ureigenes Interesse an der Eindämmung der russischen Expansionspolitik haben? Eine Auslegeordnung.
Wie viele Soldaten sind für die Friedenssicherung nötig?
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sagte am WEF in Davos, dass 200 000 Armeeangehörige notwendig seien, um eine glaubhafte Abschreckung zu gewährleisten. Diese Zahl scheint jedoch illusorisch: Die grössten europäischen Armeen verfügen zusammengenommen über gerade einmal 1,97 Millionen aktive Soldaten. Frankreich – mit dem nach der Türkei grössten Heer – hat 200 000 aktive Soldaten. Einige tausend sind aber bereits in Auslandeinsätzen engagiert, wie bei anderen Ländern auch.
Nach Einschätzung von Experten sind Sicherheitstruppen in der Grösse von zehn bis fünfzehn Brigaden realistischer – das wären ungefähr 50 000 Soldaten. Dabei ist allerdings zu beachten, dass wegen der notwendigen Truppenrotati0nen deutlich mehr Männer und Frauen einberufen werden müssten – insgesamt wohl rund 150 000. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt ihres Afghanistan-Einsatzes stellte die Nato über 130 000 Soldaten, 90 Prozent von ihnen kamen aus den USA.
Das hört sich nach wenig an, zumal die ukrainische Armee gemäss neuesten Zahlen des International Institute for Strategic Studies (IISS) über rund 730 000 aktive Militärangehörige verfügt. Ihre Mission ist aber nicht vergleichbar mit derjenigen von allfälligen Sicherheitstruppen.
Keine Option wäre es, die rund 40 000 Soldaten, die derzeit unter Nato-Kommando in Osteuropa stationiert sind, einfach in die Ukraine zu verlegen. Einerseits, weil sich unter ihnen viele Amerikaner befinden, vor allem aber, weil damit die übrige Ostflanke empfindlich geschwächt würde.
Wie muss die Truppe bewaffnet sein?
Weil die Sicherheitstruppen für einen robusten Einsatz gerüstet sein müssten, brauchen sie – anders als Beobachtermissionen der Uno – die gesamte Bandbreite einer funktionsfähigen Armee, also Infanterie, Artillerie, Panzertruppen, Luftstreitkräfte, Marine, Flugabwehr sowie Unterstützungs- und Logistiktruppen. Der andauernde Krieg in der Ukraine zeigt überdies, wie bedeutsam die Drohnentechnologie und die elektronische Kriegsführung geworden sind.
In den letzten drei Jahren haben die Verbündeten verschiedene schwere Waffensystemen an die Ukraine geliefert. So zum Beispiel Kampfpanzer wie der deutsche Leopard 2, der britische Challenger und der amerikanische Abrams. Ebenso haben Himars-Raketenwerfer, weitreichende Scalp- und Atacams-Marschflugkörper, die Flugabwehrsysteme Patriot und Iris-T sowie die Panzerabwehrwaffen Javelin und NLAW das Kriegsgeschehen beeinflusst. Allerdings behielten die Partnerstaaten wertvolles Kriegsgerät – etwa den F-35-Kampfjet oder Taurus-Raketen – für sich. Welcher Staat zu gegebenem Zeitpunkt welches Material an die Sicherheitsgruppen beisteuern könnte, ist derzeit noch kaum abschätzbar.
Länder wie Norwegen, Dänemark, die Niederlande oder Grossbritannien haben der Ukraine bereits einen beträchtlichen Teil ihrer Arsenale versprochen. Ihre Verteidigungsfähigkeit ist dadurch geschwächt. Andere Länder, etwa Spanien, Italien oder Portugal, hätten noch viel schweres Waffenmaterial zur Verfügung, das auf ukrainischem Boden einsetzbar wäre. Die über den ganzen Kontinent gestiegenen Rüstungsausgaben fliessen nun wesentlich in den Nachschub. Aber die Kapazitäten der Waffenindustrie sind (noch) zu beschränkt, obwohl die Produktion hochgefahren wird.
Wo würden die Sicherheitstruppen stationiert?
Im Moment zieht sich die Frontlinie über 1200 Kilometer – eine Distanz wie zwischen Berlin und Rom und damit fast fünf Mal so lang wie die streng bewachte Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea. Vier ukrainische Verwaltungsregionen (Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson) sind derzeit ganz oder teilweise von Russland besetzt. Putins Truppen rücken an verschiedenen Abschnitten langsam, aber stetig vor.
Es erscheint wenig realistisch, dass die Sicherheitstruppen direkt an der Frontlinie eingesetzt würden. «Das könnte das Risiko einer direkten Konfrontation mit Putin erheblich erhöhen – etwas, was die europäischen Staaten derzeit nicht zu riskieren bereit sind», sagt Armida van Rij, Verteidigungsexpertin am Royal Institute of International Affairs in London.
In den führenden Militärnationen Europas kursiert deshalb die Idee, die europäischen Soldaten an strategisch wichtigen Punkten hinter der Frontlinie zu stationieren. Einige Bataillone müssten sich stets in unmittelbarer Nähe der Grenzlinie befinden. Die Truppen sollten schnell verschiebbar sein, da sich ein allfälliger russischer Angriff wohl auf wenige Abschnitte konzentrieren würde.
Welche Länder wären beteiligt?
Die Krisengipfel dieser Woche – am Montag mit den stärksten Militärnationen Europas, am Mittwoch im erweiterten Kreis – haben gezeigt, dass sich die Länder nicht einig sind, ob, wann und mit welchen Kräften ein Einsatz sinnvoll wäre.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron äusserte bereits vor einem Jahr die grundsätzliche Bereitschaft, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden. Diese Woche folgte ihm der britische Premierminister Keir Starmer. Offen zeigen sich auch die Niederlande und Schweden.
Spanien und Dänemark schliessen eine Beteiligung zumindest nicht mehr aus, Tschechien, Finnland und Litauen haben sich bereits früher positiv geäussert. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hält die Debatte für verfrüht, wobei da wohl auch Wahltaktik mitspielt. In den Niederlanden schliesst der Chef der wählerstärksten Partei, Geert Wilders, eine Truppenentsendung kategorisch aus.
Polen, das mittlerweile eine der schlagkräftigsten Armeen auf dem Kontinent hat, will seinerseits die Mission «logistisch und politisch» unterstützen, nicht aber mit eigenen Soldaten. Auch dort stehen freilich Wahlen vor der Türe.
Dass mit Frankreich und Grossbritannien die beiden einzigen Atommächte Westeuropas an Bord sind, ist von entscheidender Bedeutung. Allerdings zeigt sich bereits jetzt innenpolitischer Widerstand. Gemäss dem früheren Chef der britischen Armee, Lord Alan West, kann Grossbritannien die von Starmer erwähnten 10 000 Soldaten nicht entbehren.
Das Kommando über eine Sicherheitstruppe zu führen, ist äusserst komplex – unter anderem, weil sie international zusammengewürfelt wären und mit unterschiedlichen Waffensystemen operieren müssten. Ideal wäre, wenn man auf die Führungsstrukturen der Nato zurückgreifen würde. Sofern keine amerikanischen Soldaten Teil der Mission sind, könnten die USA dazu Hand bieten.
Wie auch immer die Truppen aussehen würden: Die finanzielle Last für die Geberländer wäre enorm. Verlässliche Schätzungen sind zum jetzigen Stand der Diskussionen nicht möglich.
Was geschieht, wenn Russland die europäischen Truppen angreift?
Russlands Aussenministers Sergei Lawrow hat die Stationierung von europäischen Truppen in der Ukraine als «inakzeptabel» und «Schritt zur Eskalation» bezeichnet. Allerdings müssen Europa und die USA Russland nicht um Erlaubnis bitten, Streitkräfte auf dem Territorium ihres Partnerstaates zu stationieren – die Ukraine befürwortet es, wie Selenski verschiedentlich gesagt hat.
Die Abschreckungswirkung der Sicherheitstruppen sollte natürlich genügend gross sein, um Putin davon abzuhalten, diese zu «testen» – eine Eskalation wäre aber alles andere als ausgeschlossen. Das Zeitfenster für Russland wäre in näherer Zukunft interessant, auch wenn es für seinen Ukraine-Feldzug einen hohen Blutzoll bezahlt hat: Im Weissen Haus sitzt ein Präsident, der regelrechte Russland-Propaganda verbreitet, und die europäischen Armeen sind weniger schlagkräftig, als dies in ein paar Jahren der Fall sein wird.
Selbst wenn alle an den Sicherheitstruppen beteiligten Staaten Mitglieder der Nato sein sollten, hat der amerikanische Verteidigungsminister Pete Hegseth ausgeschlossen, dass ein Angriff als Bündnisfall betrachtet würde.
Sven Biscop, Professor an der Universität Gent und am Egmont Institute in Brüssel, glaubt aber, dass die USA dennoch eingreifen würden, wenn es hart auf hart käme. «Andernfalls wäre es das Ende der Nato. Und das können sich die Amerikaner – bei aller aktuellen Kritik – angesichts ihrer wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bindungen mit Europa nicht leisten.» Zudem wolle Trump, der nichts mehr verachte als Niederlagen, kaum als Totengräber der wichtigsten Militärallianz der Welt in die Geschichte eingehen.
Karten: Anja Lemcke und Roland Shaw
Truppen-Grafik: Jonas Oesch