Mal für Mal sind die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über einen Waffenstillstand und die Freilassung von Geiseln gescheitert – wird es diesmal anders kommen?
Neun Monate nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober ist zum erneuten Mal Hoffnung aufgekeimt, dass die Waffen im Gazastreifen bald schweigen könnten. Zahlreiche Verhandlungsdelegationen schwirren zwischen Doha, Kairo und Jerusalem umher, in den Medien kursieren Gerüchte und Spekulationen. Anonyme israelische Beamte sprachen vergangene Woche von einem «Durchbruch», und aus den USA heisst es, es gebe eine «ziemlich grosse Chance», eine Einigung zu erzielen.
Seit Monaten zeigt sich dasselbe Muster: Verhandlungen werden aufgenommen, bevor sie inmitten gegenseitiger Schuldzuweisungen abgebrochen werden. Die Streitpunkte sind zahlreich, doch der Kern des Problems blieb stets der gleiche: Die Hamas fordert, dass sich Israel auf ein endgültiges Ende des Krieges verpflichtet, was die Netanyahu-Regierung jedoch kategorisch ablehnt. Nun hat die Hamas diese Forderung laut mehreren Berichten aufgegeben. Steht nun eine Einigung bevor?
Neue Forderung der Hamas
Als Basis für die Verhandlungen dient weiterhin der dreistufige Plan, den Joe Biden Ende Mai vorgestellt und den Israel angeblich akzeptiert hat. Er sieht vor, dass sich Israel in einer ersten sechswöchigen Phase aus den Bevölkerungszentren im Gazastreifen zurückzieht, während die Hamas weibliche, betagte und kranke Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge freilässt. Gleichzeitig sollen die Bedingungen für die zweite Phase ausgehandelt werden, in der dann auch männliche Geiseln und Soldaten freikommen sollen. In einer dritten Phase soll schliesslich der Wiederaufbau des Küstengebiets beginnen.
Obwohl die Hamas ein endgültiges Ende des Krieges nicht mehr als Vorbedingung für ein solches Abkommen sieht, fordert sie Garantien von den USA, Katar und Ägypten: Die Verhandlungen in der ersten Phase sollen so lange weitergehen, bis sich Israel auf einen permanenten Waffenstillstand einlässt. Dies würde es den Terroristen theoretisch ermöglichen, den Übergang zur zweiten Phase auf unbestimmte Zeit hinauszuzögern, ohne alle Geiseln freizulassen. Und es könnte Israel Vertragsbruch vorwerfen, wenn dieses die Kämpfe wieder aufnähme.
Am Sonntag sorgte derweil Ministerpräsident Benjamin Netanyahu inmitten der zaghaften Zuversicht für Aufregung. Er veröffentlichte eine Liste mit angeblich nicht verhandelbaren Grundsätzen, offenbar ohne die israelische Verhandlungsdelegation informiert zu haben. Unter anderem verlangt er, dass jedes Abkommen Israel erlauben müsse, weiterzukämpfen, bis alle Kriegsziele erreicht seien. Das Manöver sorgte für Entrüstung: «Verhandlungen werden hinter verschlossenen Türen geführt, nicht in Pressemitteilungen», sagte ein anonymer israelischer Beamter gegenüber Journalisten.
Ist also auch die jüngste Verhandlungsrunde zum Scheitern verdammt? Klar ist: Beide Seiten haben aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse daran, den Krieg fortzuführen. Dennoch scheint es, dass eine Einigung realistischer ist als auch schon – weil beide Seiten zunehmend unter Druck geraten.
Netanyahus Kalkül bleibt schleierhaft
In Israel dreht sich dabei alles um die Person von Benjamin Netanyahu. Er ist gleich von mehreren Seiten in Bedrängnis geraten. Die Proteste auf den Strassen, die ein Geisel-Abkommen und Neuwahlen fordern, sind seine kleinste Sorge – noch sind sie nicht gross genug, um ihn ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Ein grösseres Problem ist das zerrüttete Verhältnis zur Armeeführung, das sich jüngst weiter verschlechtert hat.
Die israelischen Streitkräfte (IDF) zeigen sich zunehmend frustriert darüber, dass sie immer wieder an Orte zurückkehren müssen, an denen sich die Hamas neu aufstellen konnte, etwa in Gaza-Stadt. Fast täglich meldet die Armee getötete Soldaten – 326 sind seit Beginn der Bodenoffensive gefallen, Tausende wurden verletzt. Die Armee beklagt, dass die Regierung keinen politischen Plan für die Zukunft des Gazastreifens formuliert habe, und befürchtet einen endlosen Krieg.
Ende Juni wandte sich der IDF-Sprecher Daniel Hagari mit überraschend deutlichen Worten an die Öffentlichkeit. Mit der Idee einer totalen Zerstörung der Hamas werde der Öffentlichkeit Sand in die Augen gestreut, sagte er in einem Interview und forderte die Regierung auf, eine Alternative zur Hamas zu finden. Anfang Juli zitierte die «New York Times» ausserdem mehrere Generäle, die sich dafür aussprachen, die Hamas zumindest vorübergehend an der Macht zu lassen und ein Abkommen zur Befreiung der Geiseln zu schliessen. Dies würde es laut den Militärs auch erlauben, die Situation an der Nordgrenze zu entschärfen, wo der Konflikt mit dem Hizbullah zu eskalieren droht.
Doch Netanyahus rechtsextreme Koalitionspartner haben andere Pläne. In regelmässigen Abständen drohen sie ihm damit, die Koalition platzen zu lassen, sollte Israel einem Waffenstillstand zustimmen. Sie sprechen sich für absolute militärische Härte aus – und treiben derweil im Westjordanland relativ ungestört den Siedlungsbau voran.
In diesem Balanceakt zwischen der Armee, den Koalitionspartnern und der israelischen Öffentlichkeit bleibt Netanyahus Kalkül schleierhaft. Er scheint sich vorerst alle Optionen offenhalten zu wollen, ohne seine Macht zu riskieren. Mit seiner Verzögerungstaktik hat er sich allerdings gerade in Washington keine Freunde gemacht. So ist es unwahrscheinlich, dass er die Aussicht auf ein Abkommen platzen lässt, bevor er am 24. Juli vor dem amerikanischen Kongress auftritt.
Hamas-Kader drängen auf Abkommen
Im Gazastreifen sind derweil alle Augen auf Yahya Sinwar gerichtet. Der Hamas-Chef versteckt sich zwar in einem Tunnel, doch ist er in den Verhandlungen stets die entscheidende Stimme, die immer neue Maximalforderungen aufstellt. Gemäss einem Bericht der «Washington Post» sieht sich der Terrorfürst derzeit im Vorteil: «Wir haben die Israeli genau da, wo wir sie haben wollen», soll er kürzlich gesagt haben. Er scheint darauf zu vertrauen, dass Israel durch internationalen Druck gezwungen wird, den Krieg aufzugeben.
Doch auch im Gazastreifen, wo die Versorgungslage nach wie vor prekär ist, scheint sich das Blatt langsam zu wenden. Die Berichte über wachsenden Unmut der Bevölkerung gegenüber der Hamas dürften Sinwar zwar nicht umstimmen – getötete Zivilisten bezeichnet er als «notwendige Opfer». Laut dem Gesundheitsministerium der Hamas sind mehr als 38 000 Menschen seit Kriegsbeginn getötet worden.
Allerdings nimmt offenbar auch im Innern der Terrororganisation die Frustration zu. Die Nachrichtenagentur AP hatte Einsicht in interne Hamas-Korrespondenz, in der hochrangige Kaderleute die Exilführung in Katar drängten, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Sie sollen sich dabei auf hohe Verluste und die schlechten Bedingungen im Gazastreifen berufen haben.
Inwiefern dies einen Einfluss auf die laufenden Verhandlungen hat, ist nicht bekannt. Sowohl Sinwar als auch Netanyahu dürften sich aber bewusst sein, dass der Krieg in einer Sackgasse angelangt ist, in der beide Seiten mit militärischen Mitteln kaum mehr etwas erreichen können. Nun spielen sie auf Zeit, um sich möglichst vorteilhafte Bedingungen auszuhandeln – auf Kosten der Geiseln und der palästinensischen Zivilbevölkerung.
Ob sich die beiden angesichts dieser Ausgangslage zu einem Abkommen durchringen können, ist fraglich. Laut israelischen Quellen dürften die Verhandlungen noch mindestens drei Wochen andauern, bevor eine Einigung denkbar wird.