Der norwegische Starautor Tomas Espedal pflegt «in einer ersten Person zu schreiben, die sich zu einer dritten Person erweitert». Nun hat er in dieser Art seinen Lebensroman verfasst: das mitreissende Buch seiner Erweckung zum kompromisslosen Künstler.
Was der 1961 geborene norwegische Erzähler Tomas Espedal dieses Mal zu bieten hat: eine 300 Seiten lange Suada über das Glück und die Verdammnis, zum Schriftsteller berufen zu sein. Den mitreissenden Lebensbericht eines Menschen, der sich kein anderes Ziel zugesteht, als über jahrelange Exerzitien des Schreibens und Exzesse des Saufens, über private Tragödien und schöpferische Triumphe zu dem Schriftsteller zu werden, als den er sich in jungen Jahren entworfen hat.
Wie aus dem Jüngling, der stolz von sich sagt, «ich bin der Sohn eines Textilarbeiters», einer der bedeutendsten skandinavischen Autoren der Gegenwart wurde, darüber gibt dieser selbst in seinem neuen Roman Auskunft. Und zwar auf die bekenntnishafte und zugleich kunstvolle Weise, die er seit seinen ersten Werken immer neu erprobte: nämlich, «in einer ersten Person zu schreiben, die sich zu einer dritten Person erweiterte; ein Ich, das nicht ich selbst war, sondern ein schreibendes, dichtendes Ich, dem die Freiheit der Lyrik gegeben sein sollte, in einer dichterischen Prosa über alles und jeden zu schreiben».
Selbstentblössung als Kunstform
Es handelt sich also um ein Buch, für das der literaturwissenschaftliche Begriff «autofiktional» gefunden wurde, der sich mit den Welterfolgen von Espedals Landsmann (und Freund) Karl Ove Knausgard als tauglich erwies – die radikale Selbstentblössung als eigene Kunstform zu etablieren und die erzählerische Verflachung als unerschrockene Authentizität auszugeben. Espedal freilich nutzt die Freiheiten des autofiktionalen Erzählens nicht, um seiner Leserschaft die Sensationen der Schamlosigkeit zu offerieren und literarisch mit Seele und Körper der ihm nächsten Menschen zu schachern, sondern um eine Geschichte zu erzählen, die gerade in ihrer intimen Subjektivität exemplarische Züge erhält.
Der Roman hat zwei Teile, «Früchte einer Arbeit» ist der erste überschrieben, «Lesefrüchte» der zweite. Der Autor geht es, fast nach alter Art von Entwicklungsromanen, mit der Geburt, seinen ersten Jahren und der bemerkenswerten Feststellung an: «Und die Mutter war eine gute Mutter, denn sie war eine schwierige Mutter, eine gute Mutter, denn sie war eine abwesende Mutter.»
Der Mutter als Portalfigur eines schwierigen Lebens fällt in «Lust» die Aufgabe zu, den Heranwachsenden unablässig zu kritisieren und damit in ihm die Widerstandskräfte zu steigern; er rechnet ihr nachträglich gerade die Lieblosigkeit hoch an und zeichnet das anrührende Porträt einer unglücklichen Frau. Denn sie stammte aus bürgerlichem Haus, heiratete einen Arbeiter, arbeitete als Sekretärin, rauchte sich zu Tode und starb just, als sie in Pension ging und hoffte, dass endlich auch für sie das «richtige» Leben beginne.
Die Frauen, denen der Erzähler auf seinem Weg zur Existenz als Schriftsteller begegnen wird, sind in der Mutter insofern präfiguriert, als auch sie ihm paradoxerweise am ehesten zu helfen vermögen, indem sie ihn dazu nötigen, sich von ihren Ansprüchen zu befreien, sich selbst also im Widerstreit mit ihnen zu entfalten. Drastisch erlebt er das mit Eli, einer jungen Frau aus grossbürgerlichem Haus, der er jahrelang verbunden bleibt: «Er liebte sie. Darum musste er schauen, dass er wegkam. Sie konnte ihn in einem guten Leben festhalten, er wünschte sich das, ein gutes Leben, mit ihr zusammen zu sein, und darum war es entscheidend für denjenigen, der er werden sollte, dass er es schaffte, sie zu verlassen.»
Metropole der Niedertracht
Der Erzähler teilt mit Espedal viele Erlebnisse und Erfahrungen, womöglich fast alle, darf aber dennoch – Autofiktion! – nicht einfach in eins mit ihm gesetzt werden. Alles, was er an Schönem und Hässlichem sieht, an Erhebendem und Abstossendem erlebt, befragt er danach, was es ihm zur Entwicklung als Schriftsteller nützen könnte.
Er wächst in Bergen auf, einer Stadt von 300 000 Einwohnern, die in der Welt des Romans vorwiegend aus noblen Vierteln, in denen engstirnige Bürger ihren sozialen Dünkel ausleben, und proletarischen Siedlungen besteht, in denen der tägliche Revierkampf auf den Strassen, in den Parks, vor den Imbissbuden handgreiflich ausgefochten wird. Das Kind wächst zeitweise an der Grenze zwischen dem bourgeoisen und dem proletarischen Bergen auf und erlebt erste soziale Demütigungen, die der Erwachsene später als grossen «Vorteil» rühmt, weil ihm so der frühe Kontakt zu den «schrecklichen Familien» des Bürgertums erspart blieb.
Nebenhin gewährt Espedals Entwicklungsgeschichte vielerlei Einblicke in die norwegische Gesellschaft, und der Autor nimmt dabei konsequent eine plebejische Perspektive ein. Er rühmt sich, keiner Schlägerei in der Arbeitersiedlung aus dem Weg gegangen zu sein und sich unter den Gescheiterten, Deklassierten eher zu Hause gefühlt zu haben als in den Häusern der kultivierten Spiesser. Eine der schönsten Passagen des Buches widmet er der kurzen Zeit, in der er in Bergen als Aushilfslehrer für Flüchtlinge tätig war und Freundschaft mit einem jungen Mann aus Côte d’Ivoire schloss, der ihm die Augen für den sichtbaren und «den unsichtbaren Rassismus» der Norweger öffnete.
Bergen, wie Tomas Espedal es schildert, ist eine Metropole der Niedertracht, der er schon als Gymnasiast zum ersten Mal entläuft, in die er freilich stets wieder zurückkehren wird. Wie gehetzt ist der Schüler, Student, Schreiber, Säufer und Liebhaber unterwegs, um den Ort, die Orte zu finden, an denen ihm das Schreiben gelingt: Er geht nach Oslo, nach Kopenhagen, Rom, Berlin, Paris, um immer wieder die schäbigen Hotels zu finden, in denen er am besten arbeiten kann.
Wenn er es mit seinen Büchern zu ein wenig Geld oder gerade zu einer wohlhabenden Freundin gebracht hat, erliegt er der Versuchung, in grössere Wohnungen zu übersiedeln oder in besseren Hotels zu logieren, immer nur für kurze Zeit. Das Prächtige, Schöne, Bequeme ist nichts für ihn: «Ich schreibe mit billigen Kugelschreibern. Schwarze Schrift in billigen Notizheften, sogenannten Schulheften; ich schreibe gern rasch und schludrig auf billigem Papier. Ich habe auch mal ein teures Notizbuch gekauft, von bester Qualität; aber ich konnte darin nicht schreiben. Ich habe Angst vor teuren Dingen.»
Buch der Erweckung
Wie er beständig auf der Suche nach dem richtigen Schreibort, ja, den angemessenen Schreibutensilien ist, so sucht der Schriftsteller, der angehende wie der längst erfolgreiche, manisch nach den Büchern, die er weniger lesen, als regelrecht studieren möchte. Er liest sie vor und während der Niederschrift seiner eigenen Werke, er benötigt sie, um weiterschreiben zu können, er versteht sich als «leseschreibender und schreibelesender Schriftsteller», denn «was ich schreibe, ist immer eine Antwort auf etwas, das ich gelesen habe, aber auch der Wunsch zu lesen, was ich selbst vielleicht schreiben kann, als hiesse zu schreiben zu lesen, was noch nicht geschrieben ist…».
«Lust» ist das fundamentales Buch einer Erweckung zum Schriftsteller, der sich seiner selbst nie sicher sein kann, sondern mit jedem Buch neu aufs Spiel zu setzen hat. Manches Mal tut Espedal ein bisschen zu viel, etwa wenn er sich mehrfach wohlgefällig als Mann mit einer Leidenschaft für Prügeleien vorstellt, der in zahllose Raufhändel verwickelt wurde, oft «ein Messer mit dabei» hatte und, ob vor, nach oder während der Arbeit, solche Unmengen von Alkohol in sich hineinschüttete, dass er längst ins Koma hätte fallen müssen.
Aber das Buch strömt nicht nur mit Wucht und mancher wuchtigen Wiederholung dahin, sondern hat auch geradezu zarte Stellen. Warmherzig erweist er bekannten und zahlreicher noch vielen im deutschen Sprachraum unbekannten Autoren und Autorinnen die Reverenz. Was sich der Anfänger vorgenommen hat, dazu ist der Meister offenbar bereit und fähig: «Bewunderung ist der Anfang. Du musst die Frauen und Männer bewundern, die geschafft haben, was du so gerne schaffen willst.»
Tomas Espedal: Lust. Früchte einer Arbeit. Lesefrüchte. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz, Berlin 2025, 319 S., Fr. 38.90