Ein Verwaltungsrat ist nicht unabhängig, wenn sein Vorsitzender zugleich die Geschäftsleitung anführt. Dennoch häufen sich Doppelmandate in der Schweiz wieder. Bei Sulzer, OC Oerlikon und Schindler sind sie sogar unbefristet.
Früher war es einfach, eine Firma zu führen. Daniel Vasella übte das Doppelmandat beim Pharmakonzern Novartis von 1999 bis 2010 aus. Ernst Tanner wirkte beim Schokoladenhersteller Lindt & Sprüngli sogar während 23 Jahren, von 1994 bis 2016, gleichzeitig als Verwaltungsratspräsident und als Konzernchef. Doch was in der Schweizer Unternehmenswelt früher gang und gäbe war, gilt heute weitgehend als verpönt.
Holcim setzt temporär darauf
Dennoch ist das Doppelmandat nicht völlig aus der Schweizer Unternehmenslandschaft verschwunden. Jüngst macht es sogar den Anschein, als ob es eine Renaissance erlebt. So entschied sich der Zementkonzern Holcim im vergangenen Jahr, Jan Jenisch als Nachfolger des abtretenden langjährigen Präsidenten Beat Hess zu ernennen. Jenisch sollte zugleich seinen Posten als CEO behalten, allerdings nur so lange, bis ein neuer Konzernchef antreten würde.
Inzwischen wurde mit Miljan Gutovic ein neuer CEO gefunden. Er wird seine Arbeit Anfang Mai 2024 aufnehmen. Jenisch wird sich ab diesem Zeitpunkt auf das Präsidium konzentrieren, womit die Doppelspitze bei Holcim wieder der Vergangenheit angehören wird.
Keine Regel ohne Ausnahme
Der Verhaltenskodex des Dachverbands der Schweizer Wirtschaft Economiesuisse zur guten Unternehmensführung (Corporate Governance) empfiehlt Firmen, das Präsidium und den Vorsitz der Geschäftsleitung «zwei verschiedenen Personen» anzuvertrauen. Ausnahmen sieht das Regelwerk nur bei «unternehmensspezifischen Gründen» vor.
Als Beispiel wird – etwas umständlich formuliert – «die Konstellation der verfügbaren Personen» erwähnt. Gemeint ist damit, dass etwa nach einem ungeplanten Rücktritt des CEO noch kein Nachfolger vorhanden ist und der Verwaltungsratspräsident interimistisch auch den Vorsitz der Geschäftsleitung übernimmt. Dies war jüngst beim Pharmahersteller Lonza der Fall. Albert Baehny sah sich im vergangenen September als Verwaltungsratspräsident schon zum zweiten Mal gezwungen, temporär auch die Funktion des CEO zu erfüllen. Der bisherige Konzernchef hatte die Erwartungen, die der Verwaltungsrat in ihn gesetzt hatte, nicht erfüllt.
Neu zur Doppelspitze kommt es beim Winterthurer Textilmaschinenhersteller Rieter. Thomas Oetterli soll als Konzernchef ab Mitte April auch das Präsidium übernehmen. Den Aktionären, die dem Vorschlag noch zustimmen müssen, wird das Ganze als «Übergangslösung» verkauft. Oetterli soll, mit noch grösserer Machtfülle als bisher ausgestattet, die bereits begonnene Restrukturierung des Konzerns zu einem erfolgreichen Abschluss bringen.
Stimmrechtsberater sind dagegen
Allerdings hat das Unternehmen bis anhin noch offengelassen, wie lange das Doppelmandat Oetterlis dauern soll. Das Unternehmen riskiert dadurch, Widerstand aufseiten der Stimmrechtsberater zu provozieren. Deren Empfehlungen haben grosses Gewicht, weil sich viele institutionelle Investoren bei ihrem Abstimmungsverhalten darauf abstützen.
Die einflussreichen Stimmrechtsberater nehmen generell eine kritische Haltung zum Doppelmandat ein. So weist die amerikanische Organisation ISS in ihren Richtlinien zum Stimmverhalten bei europäischen Firmen darauf hin, dass man Kandidaturen für den Posten des Verwaltungsratspräsidenten und des CEO durch ein und dieselbe Person ablehne.
Einzige Ausnahme: Versichere das Unternehmen, das Doppelmandat auf maximal zwei Jahre zu beschränken, beurteile man den Wahlvorschlag von Fall zu Fall. Auch der ebenfalls amerikanische Konkurrent von ISS, Glass Lewis, ist gegenüber temporären Lösungen beim Doppelmandat aufgeschlossener als gegenüber solchen, die unbefristet sind.
Ämterkumulation zulasten der Performance
Für den Corporate-Governance-Experten Kuno Schedler ist es naheliegend, dass vor allem grosse Schweizer Unternehmen das Doppelmandat längst abgeschafft haben. «So etwas passiert nicht zufällig», sagt der Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen.
Schedler weist darauf hin, dass wissenschaftliche Studien schon seit den 1950er Jahren gezeigt hätten, dass die Leistung von Unternehmen beeinträchtigt werde, wenn der Verwaltungsrat seine Aufsichtsfunktion nicht unabhängig von der Geschäftsleitung wahrnehmen könne.
Für die Messung der Leistung würden verschiedene Grössen beigezogen. Typischerweise richte sich der Fokus in den Studien aber auf die Gewinnentwicklung und den Aktienkurs, und es zeige sich: «Firmen, die das Doppelmandat kennen, weisen eine schlechtere Performance auf.»
Sparringpartner fehlt
Christian Arnold, Analyst beim Wertschriftenhaus Stifel, hält das Doppelmandat grundsätzlich ebenfalls für keine gute Idee – auch wenn es, wie er anmerkt, Spezialsituationen gebe, in denen temporär eine solche Lösung durchaus einen Sinn ergeben könne. Verwaltungsratspräsident und CEO seien, meint er, füreinander wichtige Sparringpartner, die Ideen miteinander austauschten. «Befinden sich beide Ämter in den Händen derselben Person, fällt dieser Austausch weg.»
Den Widerstand des Stimmrechtsberaters ISS bekamen wegen des Doppelmandats im vergangenen Jahr bereits Sulzer und OC Oerlikon zu spüren. Bei beiden Konzernen präsidiert ein sogenannter Executive Chairman nicht nur den Verwaltungsrat, sondern leitet auch die Geschäftsführung. Wie lange dieses Modell gelten soll, ist weder bei Sulzer noch bei Oerlikon bekannt.
Mehr Macht bei der Überarbeitung der Strategie
Zum Executive Chairman von Sulzer wurde Anfang November 2022 Suzanne Thoma ernannt, die zuvor bereits während eines guten halben Jahrs dem Verwaltungsrat des Winterthurer Pumpenherstellers vorgestanden war. Begründet wurde der Schritt damit, dass «dringender Handlungsbedarf» wegen Verschiebungen bei der Nachfrage bestehe. Die Strategie der Firma müsse überarbeitet werden.
Beim Pfäffiker Industriekonglomerat Oerlikon, das im Textilmaschinenbau ebenso wie in der Oberflächentechnologie tätig ist, wurde die Macht von Michael Süss ausgeweitet. Süss hatte den Verwaltungsrat bereits seit April 2015 geleitet. Per Anfang Juli 2022 wurde er zum Executive Chairman ernannt. In seinem Fall hiess es, es gehe darum, «den strategischen Fokus des Konzerns zu stärken». Die neue Führungsstruktur ermögliche zudem «schnellere Entscheidungen», und sie biete die Voraussetzung dafür, «um ein nachhaltiges rentables Wachstum sicherzustellen».
Die Begründungen beider Konzerne überzeugten ISS nicht. Der Stimmrechtsberater empfahl im Vorfeld der letztjährigen GV, weder Thoma noch Süss zu wählen. Das Modell des Executive Chairman verstosse gegen Best-Practice-Regeln in der Führung von börsenkotierten Firmen, befand die Organisation.
Thoma und Süss wurden schliesslich mit rund 83 bzw. 85 Prozent der Stimmen gewählt. Gemessen an Wahlergebnissen von weit über 90 Prozent, die Verwaltungsräte an Generalversammlungen gemeinhin erzielen, erreichten die beiden ein dürftiges Resultat. Man könnte auch von einem Denkzettel sprechen.
Viktor Vekselberg billigt Doppelspitze
Zugleich konnten sich Thoma und Süss auf die Zustimmung ihres Hauptaktionärs Viktor Vekselberg verlassen. Der russische Investor, der wegen seiner Verbindungen zum Kreml von den USA mit Sanktionen belegt wurde, verfügt zwar über keine Kapitalmehrheit, ist aber bei beiden Gesellschaften mit Abstand der grösste Anteilseigner. Seine Interessen werden zudem im Verwaltungsrat von Sulzer von zwei Mitgliedern und bei Oerlikon von einem Delegierten vertreten.
Im Verlauf dieser Woche werden beide Konzerne ihren Jahresabschluss präsentieren. Thoma wird zugleich ihre mit Spannung erwartete Präsentation zur neuen Unternehmensstrategie «Sulzer 2028» halten. Diese hatte sich mehrfach verzögert, was Sulzer auf Anfrage «mit der Komplexität und der Tiefe der Überprüfung» begründet. Insgesamt seien «80 Kaderleute in der ganzen Welt» in das Projekt involviert gewesen.
Mit gewissen Ausführungen zur künftigen strategischen Ausrichtung ist auch bei Oerlikon zu rechnen. Das Unternehmen steht wegen der schwachen Verfassung, in der sich viele seiner Kunden vor allem im Textil- und im Automobilbereich befinden, stärker unter Druck als Sulzer. Die Geschäfte des Pumpenherstellers liefen in letzter Zeit eher besser als erwartet.
Sulzer, Oerlikon und Schindler nehmen sich Zeit
Bei beiden Unternehmen würde es Marktbeobachter indes überraschen, wenn sie etwas zur geplanten Dauer des Doppelmandats sagen würden. Thoma antwortete auf diese Frage bis anhin jeweils knapp: «Ich bin hier, um zu bleiben.» Nun lässt die Pressestelle von Sulzer zum wiederholten Mal verlauten, dass neben der Überprüfung der Unternehmensstrategie auch die Sicherstellung der erfolgreichen Implementierung ihrer Ergebnisse darüber bestimme, wie lange Thoma das Doppelmandat ausübe.
Beinahe identisch äussert sich Oerlikon: «Das Doppelmandat von Herrn Süss läuft so lange, wie die erfolgreiche Umsetzung der Unternehmensstrategie dies erforderlich machen wird.»
Beide Konzerne scheinen damit keinerlei Eile zu haben, die Rollen des Präsidenten und des CEO zu trennen. Aktionäre, die auf eine zeitgemässere Corporate Governance pochen, müssen warten.
Das kann dauern. Beim Lifthersteller Schindler hält der Manager Silvio Napoli das Doppelmandat schon seit zwei Jahren. Sein Start fiel bezeichnenderweise mit dem Ausscheiden Oetterlis als CEO zusammen – also desselben Managers, der nun bei Rieter durchregieren soll.