Die französische Salondame und Schriftstellerin reiste 1839 auf einem Forschungsschiff in die Polarregion und schrieb darüber ein faszinierendes Buch.
Léonie d’Aunet (1820–1879) erging es wie ihrer Zeitgenossin Louise Colet: Man kennt sie vielleicht noch als Geliebte und Korrespondentin grosser Schriftsteller. Doch in Vergessenheit geriet, dass sie selbstbewusste Frauen, Habituées der Pariser Salons, Autorinnen und grosse Reisende waren.
Das Sehnsuchtsland der Reisenden war schon damals der Süden, d’Aunets Grand Tour aber ging zum Nordpol. Nun hat der Mare-Verlag in deutscher Erstübersetzung ihren Bericht «Reise einer Frau in die Arktis» herausgegeben. Erzählt wird ein erstaunliches Abenteuer, das sich offenbar einem Zufall verdankte.
1839 findet im Atelier des Orientmalers François Auguste Biard an der Pariser Place Vendôme eine Geselligkeit statt. Unter den Gästen ist der Arzt, Naturforscher und Weltumsegler Joseph Paul Gaimard, der drei Wochen später auf der Suche nach der Nordwestpassage zu einer Polarexpedition aufbrechen wird. Er bittet die 19-jährige Léonie d’Aunet, ihren Geliebten Biard zur Teilnahme an dieser Reise zu überreden. Er soll Zeichnungen des hohen Nordens anfertigen, da die gerade erst erfundene Fotografie noch nicht geeignet ist für ein solches Unternehmen.
D’Aunet willigt unter der Bedingung ein, Biard bei der Expedition begleiten zu können, und setzt ihren kühnen Plan in die Tat um. Im Juni bricht sie mit ihm von Paris auf, nimmt in Le Havre den Dampfer nach Rotterdam, durchquert mit Postkutschen und Fährschiffen die Niederlande, Dänemark, Westschweden und Norwegen.
Am Nordkap angekommen, heuert sie in Männerkleidung auf dem Forschungsschiff «La Recherche» an und reist, nicht erkannt von der Besatzung und den Wissenschaftern, von Hammerfest nach Spitzbergen. Der Rückweg führt durch Finnisch-Lappland, Ostschweden, Preussen, Sachsen und über den Rhein.
Mit Witz geschrieben
D’Aunets Reisebericht besteht aus neun langen, wohl fiktiven Briefen an ihren erst 12-jährigen «lieben Bruder, Monsieur Léon de Boynest, in New York». Wie im 19. Jahrhundert in der beliebten Gattung der Reiseliteratur üblich, verstärkt die Briefform den Eindruck der Direktheit und Echtheit der Betrachtungen, die d’Aunet als wahrheitsgetreues Porträt der von ihr durchquerten Länder in Aussicht stellt.
So schreibt sie lebhaft und eigenwillig über Landschaften, Klima, Geschichte, Architektur, Kunst, Menschen und Sitten, über Kleidung, Trink- und Essgewohnheiten, nicht ohne sie mit viel Witz, Ironie und einem gewissen Ton der Überlegenheit dem französischen, will sagen: zivilisierten, Lebensstil gegenüberzustellen.
Skandinavische Volkslegenden nennt sie in romantischer Manier «Poesie des Nebels», technische und nautische Erklärungen überlässt sie den Forschungsprotokollen der Männer. Sie wird seekrank, durchlebt Gefahren, erschauert beim Anblick von Walrossen, nächtigt bei Rentierzüchtern und steigt hinab in die Bergwerke von Falun.
Sie staunt über die Erhabenheit der nordischen Natur, nimmt diese mit allen Sinnen wahr und gibt ihre Eindrücke in beeindruckender Anschaulichkeit wieder: «Dieses Polareis, das kein Staubkorn je beschmutzt hat, unbefleckt wie am ersten Schöpfungstag, leuchtete in kräftigen Farben, es sah aus, als trieben grosse Edelsteine im Wasser: hier der Glanz des Diamanten, dort die funkelnden Nuancen von Saphir und Smaragd, allesamt vereint in einer unbekannten und zauberhaften Substanz. Diese schwimmenden, ständig vom Meer umspülten Inseln ändern ihre Form im Handumdrehen.»
In ihrem Bericht schreibt sie sich in einen wahren Rausch: «Das von Eiskeilen übersäte Meer gluckst laut, die hoch aufragenden Klippen an der Küste verrutschen, lösen sich und stürzen mit unerhörtem Getöse in den Fjord, die Berge krachen und bersten, die Wellen brechen sich schäumend an den Landspitzen aus Granit; die Eisinseln erzeugen während ihrer Verwandlungen ein Sprudeln wie unter andauerndem Musketenbeschuss; der Wind wirbelt mit rauen Tönen Schneewehen auf; das ist schrecklich und erhebend. Man meint, dem Chor aus den Tiefen der alten Welt beim Präludium zu einem neuen Chaos zu lauschen.»
Léonie d’Aunets Reisebericht erschien 1852 in Auszügen in der renommierten «Revue de Paris» und 1854 unter dem Titel «Voyage d’UNE FEMME au Spitzberg» im Verlag Hachette. Die Grossbuchstaben unterstreichen das Unerhörte dieses Abenteuers, das bis dahin keine Frau gewagt hatte. Warum der Bericht so spät veröffentlicht wurde, ist hingegen nicht geklärt, ungewiss bleibt auch, inwieweit d’Aunet auf Reisenotizen zurückgriff, die verschollen sind.
Erfolglose späte Jahre
Das Buch war mit sieben Auflagen in knapp dreissig Jahren ein grosser Erfolg. Es wurde zuletzt ins Norwegische, Italienische und Spanische übersetzt und in Frankreich mehrfach neu herausgegeben, unter anderem 1995 bei Actes Sud.
Im deutschsprachigen Raum aber blieb Léonie d’Aunet weitgehend unbekannt. Die Ausgabe des Mare-Verlags von «Reise einer Frau in die Arktis» ist ein rundum überzeugendes Buch: Die Gestaltung ist schön, die Übersetzung gelungen, und auch Varianten der frühen Auflagen, die mutmasslich auf d’Aunet selbst zurückgehen, werden angemerkt. Bezeichnungen wie «Lappe» und «Eskimo», wenngleich inzwischen verpönt, sind klugerweise beibehalten. Hinzu kommt ein vorzügliches Nachwort.
So ist eine Edition entstanden, die Leserinnen und Leser mit dem Bericht von der Schönheit des hohen Nordens entzücken und angesichts des Klimawandels und des Luxustourismus melancholisch stimmen kann. Die gebildete, scharfsinnige und verwegene Autorin schrieb lebenslang, konnte jedoch an den Erfolg der «Reise einer Frau in die Arktis» nicht anknüpfen.
Einige Jahre nach ihrer Nordlandfahrt wurde Léonie d’Aunet, verheiratete Madame Biard und Mutter einer Tochter, in flagranti mit dem bereits hochdekorierten Dichter Victor Hugo ertappt und zu sechs Monaten Haft verurteilt. Das aber ist eine andere Geschichte.
Léonie d’Aunet: Reise einer Frau in die Arktis. Aus dem Französischen von Birgit Leib. Nachwort Kristina Maidt-Zinke. Mare-Verlag, Hamburg 2024. 352 S., Fr. 44.90.