Niemand hat so viel zur Batterieforschung beigetragen: Die Chemikerin Clare Grey studiert, was beim Laden und Entladen von Lithiumionen-Akkus passiert und warum sie mit der Zeit an Leistung verlieren – und macht sie dann besser. Ihre Ziele sind aber noch weit grösser.
Für den Vater muss es erst einmal eine Enttäuschung gewesen sein. Er war Chemiker; um sein Kind für das Fach zu begeistern, schenkte er ihm einen Experimentierkasten. Da liessen sich Flammen erzeugen, Funken sprühten. Doch das Kind wandte sich gelangweilt ab. Später studierte es trotzdem Chemie, wurde Professorin in Cambridge – und entwickelte eine Batterie, die die Elektromobilität revolutionieren könnte: Sie lässt sich in weniger als fünf Minuten laden.
Flammen und sprühende Funken ziehen Clare Grey immer noch nicht an, im Gegenteil: Ihre grösste Angst ist, dass ihre ultraschnell ladende Batterie Feuer fangen könnte. Warum das bei Lithiumionen-Akkus überhaupt passieren kann – und wie es sich verhindern lässt –, das hat Grey herausgefunden, mit einer Methode, die andere für unmöglich hielten. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat wohl keine Wissenschafterin so viel zur Batterieforschung beigetragen wie sie. Ohne Grey könnte niemand genau sagen, was eigentlich im Akku eines jeden Handys, eines jeden Laptops und in Zukunft auch der meisten Autos vor sich geht.
Wenn sie eine Idee hat, verfolgt sie sie so lange, bis sie sie umgesetzt hat. Wird sie gefragt, was die Lösung für die Energiewende sei, antwortet sie: «Wenn ich es wüsste, würde ich daran arbeiten.» Das ist, wie sie heute erkennt, auch der Grund, weshalb der Chemiekasten sie nicht interessierte: Alles ist vorgegeben, es gibt nichts Neues herauszufinden. Neugier und Resilienz aber sind Greys wichtigste Eigenschaften, und sie will sie einsetzen, um etwas zu verändern.
Grey war die Erste, die mit Kernspinresonanz in Batterien hineinschaute
Gleich ihre erste wissenschaftliche Publikation brachte sie in der angesehenen Fachzeitschrift «Nature» unter, noch vor dem Abschluss in Oxford. Grey stellte darin die Anwendung einer Methode vor, die bis heute das Fundament ihrer Forschung bildet: Kernspinresonanz, kurz NMR.
Es ist im Grunde das Gleiche, was im medizinischen Bereich als MRI bezeichnet wird: Mithilfe extrem starker Magneten ändern die Atomkerne die Orientierung ihres Eigendrehimpulses; das daraus resultierende Signalspektrum ermöglicht es, die chemische Struktur von Molekülen zu klären. Das gehe nicht immer glatt, erzählt Grey bei einem Besuch an der ETH in Zürich, wo sie wieder einmal einen Preis bekommt. «Die Frequenz von NMR ist Megahertz, so wie das Lokalradio. Dieses taucht dann mitunter auch als Signal im Spektrum auf.»
Nach der Promotion ging Grey als Forscherin erst in die Niederlande, wo sie grosse Teile ihrer Kindheit verbracht hatte, dann in die USA. Bei dem Chemieunternehmen DuPont arbeitete sie an Ersatzstoffen für FCKW. Sie steckten als Kältemittel in jedem Kühlschrank, zerstören aber die Ozonschicht und wurden deshalb 1987 im Montreal-Protokoll verboten. Aufgrund dieser Erfahrung ist Grey heute überzeugt, dass Regulierung für die Industrie nicht unbedingt ein Nachteil ist, sondern zu Innovation führen kann.
Als Studentin hatte sie NMR noch nicht auf Lithiumionen-Akkus angewendet. Niemand tat das, es galt als unmöglich. Ihre Kollegin und Freundin Melinda Duer, die ebenfalls NMR nutzt, erinnert sich an ein Treffen in den 1990er Jahren in New York; Grey arbeitete damals an der University of New York in Stony Brook auf Long Island. «Sie erzählte mir, dass sie sich mit NMR Batterien anschauen wollte. Ich konnte das nicht verstehen. Das ist so schwierig; die Leute haben gesagt, das lässt sich nicht umsetzen. Aber sie hat es umgesetzt. Sie hat da wirklich die Grenze verschoben.»
Der Lehrstuhl an der Eliteuni Cambridge hat viele Vorteile
Grey ist bis heute mit Stony Brook assoziiert. Das, erzählt sie, sei eine ganz andere Welt als die Harry-Potter-Kulisse des Christchurch College in Oxford, dessen Mitglied sie während des Studiums gewesen war. In Stony Brook lebten 20 Prozent der Studenten unterhalb der Armutsgrenze, ein viel besseres Abbild der Welt da draussen als das privilegierte und relativ homogene Publikum in Oxford. Das Letzte, was sie wollte, war wieder zurückzukehren in das Paralleluniversum der englischen Eliteunis.
Doch dann wurde an der Universität Cambridge einer der begehrten und traditionsreichen Lehrstühle frei. Diese Gelegenheit wollte Grey sich dann doch nicht entgehen lassen. Sie bewarb sich und trat den Posten 2009 an. Es ist Usus, dass Professoren sich auch einem College anschliessen. Grey bekam ein Angebot vom Pembroke College, in dessen Innenhof jeden Tag Touristen stehen und unter «Genau wie bei ‹Harry Potter›»-Rufen Fotos machen – das Gegenteil von dem, was ihr vorschwebte. «Ich wollte ein modernes College», sagt sie. Dass sie sich am Ende trotzdem für Pembroke entschied, liegt daran, dass es «meine drei wichtigsten Kriterien erfüllt: Akademische Exzellenz. Räumliche Nähe zum Institut. Und ein Salatbuffet. Die Reihenfolge überlasse ich Ihnen.»
Im Labor analysiert sie Batterien beim Laden und Entladen
Am Institut, in Laufnähe zum Salatbuffet, analysiert sie mithilfe von NMR Batterien während des Ladens und Entladens – auch diese Methode hat sie selbst entwickelt. Früher musste die Batterie in verschiedenen Stadien des Zyklus auseinandergebaut werden. Doch viele der chemischen Verbindungen, die sich beim Laden und Entladen bilden, sind nur kurzlebig, sie zerfallen schnell wieder oder würden beim Zerlegen der Batterie zerstört.
Durch die Analyse der arbeitenden Batterie konnte Grey zeigen, wie genau sich im Laufe des Lebens eines Lithiumionen-Akkus auf den beiden Elektroden Wucherungen bilden, sogenannte Dendriten. Schlagen sie eine Brücke von einer Elektrode zur anderen, kommt es zum Kurzschluss.
Das Element Niob sorgt für besonders schnelle Ladefähigkeit
Greys Erkenntnisse helfen nicht nur Batterieherstellern, ihre bereits existierenden Produkte sicherer und effizienter zu machen. Sie sucht auch neue Materialien. Wenn die Staaten ihre Klimaziele erreichen wollen – im Vereinigten Königreich ist das netto null bis 2050 –, dann braucht es an vielen Stellen Batterien: in Milliarden Geräten und Maschinen, in E-Autos, zur Stabilisierung des Stromnetzes. Für jede Anwendung ist eine andere Batterie die passende.
Autofahrer sorgen sich vor allem um die Reichweite, also wie weit sie mit dem Auto fahren können, bevor es wieder geladen werden muss. Es muss nicht nur eine Stromquelle geben, das Laden dauert auch Stunden. Mehr Reichweite geht nur mit mehr energiespeicherndem Material, deshalb sind bisherige Lithiumionen-Akkus in E-Autos voluminös und schwer. Sie enthalten grosse Mengen an Rohstoffen, deren Gewinnung Umweltschäden nach sich zieht und die teuer sind.
Nicht jeder wird sich so ein Auto leisten können. Greys Lösung: Geringere Reichweite ist kein Problem, wenn die leere Batterie schnell wieder voll ist. Die von ihrer Forschungsgruppe entwickelte Batterie kann deshalb kleiner und leichter sein. Die Anode enthält neben Lithium auch die Elemente Niob und Wolfram; die Lithiumionen können sich in diesem Material besonders schnell bewegen, daher die kurze Ladezeit.
Ob sich ihre Erfindung jemals durchsetzen wird, ist offen. Greys Startup-Unternehmen Nyobolt wirbt zwar mit Fotos eines Sportwagens, stellt aber momentan nur Batterien für Roboter und schwere Fahrzeuge für Bergwerke her.
Ihre Antwort auf die Frage, wie gut sie sei im Scheitern: Wenn ein Experiment im Labor schiefgehe, mache sie einfach weiter. Aber wenn sie mit ihrem eigenen Scheitern andere Leute im Stich liesse, wenn Nyobolt zugrunde ginge – «dann wäre ich wirklich bedrückt».
Manchmal, sagt eine Ehemalige aus ihrer Gruppe, manchmal sei es beinahe ärgerlich, wie unbeirrbar Grey eine Idee verfolge. Sie lasse ihre Doktoranden monatelang probieren – so lange, bis sie Erfolg hätten. Sie treibe sie an, im guten Sinne, aber sie kümmere sich auch um sie. Das kann auch Duer für den privaten Kontext bestätigen.
Die Queen hat sie geadelt, sie ist Dame Clare Grey
Dass ihre Forschung etwas bewirken könnte, weit über ihre Mitarbeiter hinaus: Das ist Grey nicht nur bewusst, sondern so gewählt. In einem Interview sagte sie einmal, sie interessiere sich für «Wissenschaft mit Breitenwirkung». Nachfrage beim Gespräch in Zürich: Heisst das, sie will die Welt retten? «Absolut», antwortet sie. «Das soll nicht arrogant klingen, es geht nicht nur um mich, alle werden gebraucht. Aber es ist wichtig, dass Wissenschafter sich den Kontext ihres Forschungsfeldes vergegenwärtigen. Ich will Dinge verstehen, aber auch die weiteren Implikationen.»
In dem Interview aus Anlass der Verleihung eines der vielen Preise und Ehrungen, die sie schon erhalten hat – nicht zuletzt hat die Queen sie im Sommer 2022 für Verdienste um die Wissenschaft in den Adelsstand erhoben, sie ist Dame Clare Grey –, hat sie zugegeben, dass der von ihr beschworene Kontext des Forschungsfeldes auch anstrengend sein kann: Weil sie sich mit einem wichtigen Bestandteil der postfossilen Energiewelt beschäftige, erwarteten die Leute von ihr, dass sie auch alle Zahlen zum Klimawandel kenne. Und als Professorin, seufzt sie beim Besuch in Zürich, solle man alles gut können: Forschung, Lehre, Geldbeschaffung, Verwaltung.
In diesem Jahr wird Clare Grey 60. Immer gibt es mehr zu tun; immer gilt es, die punktuellen Erkenntnisse zum grossen Ganzen zu verbinden – das sei schwierig, gibt sie zu und schiebt sofort hinterher: «Aber es macht Spass.» Dass sie auf die Frage nach ihrer Lieblingszeit in Cambridge antwortet: «Schlafenszeit», das muss wohl ein Witz gewesen sein.
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