2013 wurde Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt. In Argentinien war die Freude nicht ungeteilt. Der Erzbischof von Buenos Aires war umstritten. Bei Bürgerlichen wie bei den Peronisten.
Für einen Moment waren die Moderatoren des argentinischen Fernsehens an jenem 13. März 2013 vollkommen verwirrt. Konnte es sein, dass der Erzbischof von Buenos Aires zum Papst gewählt worden war? Der live vom Petersplatz in Rom zugeschaltete Reporter bestätigte vehement, den Namen Jorge Mario Bergoglio gehört zu haben. Neben ihm weinte eine argentinische Ordensschwester, umarmt von einer Brasilianerin. Es sollte eigentlich das Fest Brasiliens werden, des grössten katholischen Landes, das mit São Paulos Erzbischof Odilo Scherer laut den Experten den ersten lateinamerikanischen Papst stellen sollte. Bergoglio waren lediglich Aussenseiterchancen zugestanden worden.
In den Armenvierteln der Peripherie von Buenos Aires, wo Bergoglio als Erzbischof mit seinen Armenpriestern, den «curas villeros», seit Jahrzehnten arbeitete, weinten an jenem Tag die Menschen vor Freude. Doch im Rest des Landes fielen auch böse Worte über den neuen Papst. Bergoglio war eine Reizfigur: ein Ultrarechter für die Anhänger des damals regierenden progressiven Flügels der Peronisten unter Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, während die bürgerliche Opposition ihn als Peronisten und Kommunisten beschimpfte. Und irgendwie hatten beide Seiten recht.
Das liegt an der besonderen Stellung der katholischen Kirche in Argentinien und am Peronismus, der die Geschichte des Landes seit Jahrzehnten prägt. Die 1930er Jahre, in denen Bergoglio geboren wurde, markierten das Ende des liberalen Wirtschaftsmodells, das Argentinien dank britischem Kapital zur erfolgreichen Exportnation gemacht hatte. Unter dem Schutzmantel eines Militärputsches gewann nun auch die Kirche wieder an Einfluss. Der Katholizismus war das verbindende Glied im Einwandererland, in das hauptsächlich Spanier und Italiener gekommen waren. Schwert und Kreuz – die Allianz der Militärs mit der Kirche war stark.
Bollwerk der Gegenreform
Mitte der vierziger Jahre gelangte mit General Juan Domingo Perón jener Mann an die Macht, der Argentiniens Politik wie kein anderer beeinflussen sollte – bis heute. Er stellte die arme Bevölkerung in den Mittelpunkt seines politischen Programms: die «descamisados», die Hemdlosen. Argentinien wollte autark werden, besonders der Einfluss der Kapitalisten sollte ausgegrenzt werden. Es entstand der «grieta», der tiefe ideologische und kulturelle Graben, der die Argentinier seitdem in Peronisten und Antiperonisten trennt. Ihn konnte auch Bergoglio nicht umschiffen.
Wie in Polen sieht sich auch in Argentinien die katholische Kirche als Bollwerk der Gegenreform. Man hält sich für die Bastion des Katholizismus iberischer Tradition gegen den Protestantismus und die Neuerungen, die dieser über die einst katholisch geprägte Welt brachte: Pluralismus, Individualismus, Kapitalismus und damit für viele Gläubige auch die Zerstörung von Mensch und Natur. Themen, die in Bergoglios Kapitalismuskritik stets wichtig waren und die seinen latenten Antiamerikanismus und seine Nachsicht mit den linken Diktaturen in Lateinamerika begründeten.
Während sich in anderen lateinamerikanischen Ländern die marxistisch geprägte Befreiungstheologie ausbreitete, hatte Argentinien seine eigene Variante, die Theologie des Volkes. Diese lehnte den marxistischen Einfluss der Befreiungstheologie ab, traf sich aber mit dieser in der Überzeugung, das arme Volk sei das wahre Volk Gottes.
Bergoglios bescheidenes Auftreten war stets Ausdruck dieser Haltung. Auch nachdem er 1998 zum Erzbischof von Buenos Aires und 2001 zum Kardinal ernannt worden war, gab er sich volksnah und fuhr mit der U-Bahn und dem Autobus durch Buenos Aires. Oder führte die Gläubigen über die schlammigen Wege in den Villas, den Slums an der Peripherie von Buenos Aires, dort, wo die «curas villeros» arbeiten, die Armenpriester. Bis heute erinnern sich die Slumbewohner der Hauptstadt dankbar daran.
Kollaborateur der Militärs?
Sein Ruf als Kollaborateur der Militärjunta geht auf Bergoglios Zeit als Provinzoberer der Jesuiten in Argentinien zwischen 1973 und 1979 zurück. In dieser Funktion sollte er die marxistischen Einflüsse im Orden und in den Jesuitenuniversitäten eindämmen. Damals erlebte Argentinien den Terror der Montoneros, einer peronistischen Guerillabewegung unter marxistischem Einfluss. Bergoglio hingegen hatte Anfang der siebziger Jahre Verbindungen zur Guardia de Hierro (Eisernen Garde), einer ultrarechten, mit Kirche und Armee verbundenen Bewegung, die manche Historiker heute als faschistisch einstufen.
Bis heute nicht geklärt ist Bergoglios Rolle im Fall der Jesuitenpater Orlando Yorio und Franz Jalics, die 1976 für fünf Monate in den Kerkern des Militärregimes verschwanden und dort gefoltert wurden. Der Journalist Horacio Verbitsky veröffentlichte ab 1999 mehrere Berichte über den Fall. Jalics und Yorio, schrieb er, hätten ihm gegenüber angegeben, dass Bergoglio sie an die Militärs verraten habe. Yorio blieb bis zu seinem Tod im Jahr 2000 bei dieser Behauptung.
Jalics hingegen revidierte seine Vorwürfe gegen Bergoglio, als dieser 2013 zum Papst gewählt wurde. Verbitsky selber kam zum Schluss, dass Bergoglio sich für die Freilassung der beiden eingesetzt, sie zuvor aber auch durch interne Berichte belastet hatte. In seiner Autobiografie widmet Bergoglio der Episode wenig Raum. Er habe sich bei den Generälen der Militärjunta, die Argentinien von 1976 bis 1983 regierten, für die Priester eingesetzt und ihre Freilassung erreicht, schreibt er.
Mileis Hass
Zu seinem Verhältnis zu den Regierenden verlor der Papst in seiner Autobiografie wenig Worte. Aufgrund von deren progressiver Politik, darunter dem Kampf für die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Abtreibung, hatte er ein angespanntes Verhältnis zu dem Präsidenten Néstor Kirchner und dessen Frau Cristina Fernández de Kirchner, auch wenn er sich als Papst der Peronistin Fernández de Kirchner annäherte.
Besonders schlecht war seine Beziehung dagegen zu deren konservativ-liberalem Nachfolger Mauricio Macri (2015–2019). Mit diesem sei der Kapitalismus wieder in Argentinien eingezogen, hiess es damals in kirchlichen Kreisen. Auf Fotos mit dem Präsidenten konnte sich Franziskus nicht einmal zu einem Lächeln bewegen lassen.
Dass Cristina Fernández de Kirchner 2019 eine Allianz mit ihrem innerparteilichen Widersacher Alberto Fernández einging, um die Peronisten zurück an die Macht zu bringen, soll auch auf Initiative des Papstes geschehen sein. Diese Parteinahme brachte ihm den offenen Hass von Javier Milei ein, der den Papst im Wahlkampf 2023 als «Kommunisten», «Repräsentanten des Bösen auf der Erde» und «Idioten, der die soziale Gerechtigkeit verteidigt» beschimpfte.
Die Wogen zwischen den beiden glätteten sich erst, als Milei Anfang 2024 als Präsident nach Rom pilgerte und um Entschuldigung bat. Der Einladung Mileis, seine Heimat zum ersten Mal seit seiner Wahl zum Papst im Jahr 2013 zu besuchen, konnte der Papst nicht mehr nachkommen.