Rocker wie Ozzy Osbourne verbargen ihre Triebe und Spleens nicht. Sie machten sie zum Produkt.
Wenn Stars sterben, sterben auch Mythen. Das gilt auch für den gestern 76-jährig verstorbenen Ozzy Osbourne. Als Sänger von Black Sabbath, den britischen Wegbereitern des Heavy Metal, prägte er seit den 1970er Jahren den massenmedialen Stereotyp des exzentrischen Rockers, der sich der Schwerkraft der Gesellschaft entzieht und sich Dinge erlaubt, die für andere den sozialen Tod bedeuten.
Seine 2009 veröffentlichte Autobiografie «I am Ozzy» ist ein atemloser Trip durch Musik, Exzesse, Drogen, Groupies, Abstürze, Krankheit, Scheitern, Comebacks – all dies trug zur Mythologie bei, ebenso wie die neue Form der harten Gitarrenmusik, die Black Sabbath prägte. Alles klang schwerer, dunkler, extremer und vor allem weniger kapriziös als der damals tonangebende Progressive Rock. Flower-Power war das schon gar nicht. Mit Black Sabbath endete die Hippie-Ära definitiv.
Triebe und Spleens
Rockstars der 1970er Jahre wie Osbourne rissen die Bretter über dem doppelten Boden der bürgerlichen Moderne weg. Während der brave Bürger mal ins Bordell schlich, um tags drauf einen Leserbrief über den grassierenden Sittenverfall an die Lokalzeitung zu schicken, verbargen die Rocker ihre Triebe und Spleens nicht. Sie machten sie zum Produkt.
Auf der Foto einer Jam-Session aus den 1970er Jahren steht Ozzy Osbourne neben einer nackten Sängerin ebenfalls nackt auf der Bühne. Er grinst in Richtung Publikum, als wolle er sagen: Gebt’s zu, ihr stündet selber gerne hier. Aber weil ihr euch nicht traut, tu ich es für euch.
Osbourne war kein versierter Sänger, sondern stand für das, was heute, in der Influencer-Ära, hoch gehandelt wird: Authentizität. Seine Stimme war quäkig, sie passte eigentlich nicht recht zur erhabenen Härte des Heavy Metal. Aber es war seine unverkennbare Stimme. Und gerade dieser Mut zum Nonkonformismus machte ihn für viele zum Idol. Wenn Ozzy wieder einmal Wirres von sich gab, war es, als spräche ein Medizinmann der Pop-Musik. Dem Aussenseiter-Image zum Trotz passte der Osbourne-Mythos perfekt in die «Gesellschaft der Singularitäten» (Andreas Reckwitz) des postindustriellen Kreativkapitalismus, in der das Besondere das Allgemeine sticht.
Eine typische Figur des Simulationszeitalters, wie es der Medientheoretiker Jean Baudrillard in den 1970er und 1980er Jahren analysierte, war «The Madman» obendrein. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion lösen sich in diesem Zeitalter auf, in dem alles neu designt werden kann und die Medien selbst zur Message werden. In diesem Sinne rätselten viele: War Ozzys Wahnsinn nur gespielt? Biss er Tauben auch privat den Kopf ab? Bediente er geschickt eine mediale Erwartungshaltung? Oder hatte die Erwartungshaltung in ihm einfach das perfekte Subjekt gefunden?
Der Pantoffelheld
Konsequenterweise mündete Osbournes Mythos ins Reality-TV. Mit der 2002 lancierten Doku-Soap «The Osbournes» trat er endgültig ins Stadium der Hyperrealität ein, in der die Unterschiede zwischen Sein und Schein kollabieren. Unter den Fittichen seiner Frau und Managerin Sharon Osbourne zeigte er sich im Familienkreis nicht mehr als gruseliger Dunkelrocker mit okkulter Aura, sondern als harmloser, trotteliger, von Drogen und Gebrechen gezeichneter Pantoffelpapa.
Auch damit war er auf der Höhe eines Trends, der heute in den sozialen Netzwerken kulminiert: die postheroische Enttabuisierung psychischer und körperlicher Probleme, aber auch die gnaden- und schamlose Ausschlachtung des Intimen, Privaten, Persönlichen. Als mythische Figur hat Osbourne so die Metamorphosen unserer Zeit verkörpert und unterdrückten Sehnsüchten eine Gestalt gegeben. Die Aussenseiter sind dem Zentrum mitunter am nächsten.
Jörg Scheller ist Kunstwissenschafter, Journalist und Musiker. Er lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste.