In seinem Roman «Auf den Flügeln» inszeniert sich der Schweizer Schriftsteller als Entfesselungskünstler.
Luke Wilkins war einst weitherum bekannt als Christian Toppe in der ARD-Seifenoper «Verbotene Liebe», angeschmachtet von ganzen Engelsscharen junger Mädchenblüten. Von diesem Ich muss er sich nun als Autor befreien, um hinter der Maske des Schauspielers sein wahres Selbst zu finden. Das Buch wird so zum Drama einer Entfesselung, wobei deren Ahnherr Arthur Rimbaud ist: «Der Dichter macht sich zum Seher durch eine lange, ungeheure und wohlüberlegte Entregelung aller Sinne.» Wohlüberlegt ist nicht alles in diesem Roman, aber die Entregelung und Regelübertretung hat Methode und bietet der Kritik eine offene Flanke.
Denn zunächst inszeniert der Autor radikal seine toxische Männlichkeit. Als «Teufelsgeiger» in Biel, wo er das Literaturinstitut besucht, empfängt er seine erste Schülerin, Ruth. In ihr sieht er zwar, wie in allen Frauen, nicht nur Fleisch. Aber eben doch sehr viel Fleisch. Wie ein brutaler «Tiger» will er sie «von hinten anfallen», um im nächsten Satz schwarmselig den Softie herauszukehren: «Was für eine glitzernde Beziehung da wie eine frisch gefallene Schneedecke vor uns liegt.»
Um ihre vermurkste Geigentechnik zu befreien, müsste er, so denkt er, zunächst «ihre Sexualität entfesseln» und selbst ein Geigenkasten reiner Lust werden: «Die Schlange um den Asklepios-Stab ihrer Musikalität ist falsch gewickelt.»
Falsch gewickelt ist natürlich auch sein männlicher Blick auf sie. Die Sprache fährt mit seinen Hormonen Achterbahn, und schon pflückt er im Schatten der jungen Mädchenblüten in hemmungsloser Selbstbegeisterung Stilblüten: «Schau wie ich, der ich seit Jahrtausenden in tiefstem Begehren nach dir verglühe, als schneeweisse Asche zerfalle, als Liliengischt, als Milch, als sahnige Leere aus dem Innern der kosmischen Lilie falle.»
Dass dieser Überschwang eigentlich nicht geht, genauso wenig wie der erotische Furor eines jungen weissen Mannes, weiss der Autor natürlich. Trotzdem entregelt er neben den Regeln des Anstands auch alle herrschenden Stilregeln, wobei die Sprache immer überschäumender wird.
Echte Gefühle
In der wohl virtuosesten Passage überblendet Luke Wilkins drei Szenen in seitenlangen Sätzen: Während vor ihm in einem Secondhand-Shop die schöne Leila ihre Brüste entblösst und ihm seine Unschuld raubt, verfolgt der Vater im Kinosaal – mit Gegenschnitten über einen Unfall des kleinen Bruders im väterlichen Auto – eine Karambolage, die letztlich das Ende der Schauspielerkarriere seines Sohnes und damit dessen Ausstieg aus der Rolle des TV-Sternchens bedeutet.
Angeschmachtet wurde er bis dahin nicht zuletzt, weil seine Gefühle – soweit der literarischen Selbstdarstellung des Autors zu trauen ist – zur Serien-Partnerin nicht gespielt, sondern echt waren. Und tatsächlich kam es auch zu einer Affäre mit Cosma Shiva Hagen, was wiederum in allen Farben der Regenbogenpresse schillerte, da sie ja die Tochter von Nina Hagen ist.
Kein Wunder, ziert das Konterfei des jungen TV-Stars Wilkins das Buch-Cover. Und innen im Buch findet man als Schmachtfetzen auch eine Foto aus dem «Bravo»-Magazin mit tief sitzender Jeans und einem Bauch wie einer Bircher-Benner-Raffel. Vielleicht wäre das ehrlichere und auch idealere Titelbild gewesen: Trash und Text in grösster Diskrepanz. Denn der Text ist hochkomplex.
Nach dem toxischen und dem medialen Ich tritt nämlich die nächste Maske auf: das Theorie-Ich. Es zitiert alle Stichwörter, um auf Georges Batailles heilige Erotik der Überschreitung zu verweisen. Dann lässt es kurz Michel Foucault aufzüngeln, ehe es sich aber ganz in den Schatten von Klaus Theweleit stellt, dessen Buch «Männerphantasien» auch durch suggestive Bilder evoziert wird: die hart gepanzerte Männlichkeit, die einst in den Faschismus führte.
Diese überführt Wilkins in die Zeit von #MeToo und vor allem auch in die Frequenz des «Mutterradios»: Als solches empfängt er Wellen aus den Tiefen des Matriarchats und lässt sich durchströmen von alten Ahnungen und neuen Technologien, er möchte weich werden. Doch da plötzlich schaltet er als Theorie-Panzer alte Essays zwischen die Kapitel des Romans. Darunter auch ein Aufsatz, der 2020 in der NZZ unter dem Titel «Mein Leben als Sohn und Gespenst» erschienen ist und mit dem neuen Titel die These des Buches benennt: «Die Mutterradio-Frequenz».
Da die Geigenschülerin Ruth letztlich die tote Mutter ist, die den Sohn besucht bzw. heimsucht, kann man darin eine ödipale Verstrickung erkennen, die auf Freud und dessen Theorie der Libido verweist. Deren Ströme werden lustvoll ausgelebt und zugleich ins Mediale übertragen, als würde der Autor die Nummer von Freuds Telefon an der Berggasse in Wien mit Theweleits Handy in Freiburg im Breisgau kurzschalten. So treffen sich Sex, Free Jazz und Frequenzen – das ist bald lustig, bald kompliziert. Immer wieder aber kommt dem Autor zu Hilfe, dass er selbst Musiker und Performer ist sowie ein Kenner der Lautpoesie, der er im letzten Herbst in Freiburg im Breisgau und in Basel ein Festival gewidmet hat. Dann gewinnt die Sprache im freien Strom.
Der zentrale Mutter-Kuss
Doch auch dieses Theorie-Ich, stolz in fünf eingeschalteten Essays paradierend, müsste überwunden werden, um zu jenem Selbst zu finden, nach dem schon Marcel Proust lange gesucht hat: Es ist jener «kleine Junge, der zwischen mir in Ruinen spielt» und als Einziger in der Lage wäre, «meine Bücher» zu schreiben. Jener Junge hinter den Masken des Ichs – also hinter dem toxischen Mann, hinter dem TV-Star und hinter dem Theorie-Ich – kommt in der Tat zuweilen zum Vorschein, wenn Luke Wilkins auf Mutterfrequenz schaltet und übersteuerte Theorie-Fetzen mit Free Jazz unterlegt werden. Dann hebt das Buch ab in rauschhafte Übergänge, wo aquarellartig die Poesie mit der Philosophie verschmilzt.
Wie bei Proust in der «Recherche» kommt es zum zentralen Mutter-Kuss. «Dann las sie mir Märchen vor und am Ende sang sie die alten schweizerischen Volkslieder, die sie selbst als Kind von ihrer Mutter vorgesungen bekommen hat, Lieder, in denen das dunkle, wilde Herz unseres Volks schlägt. Das anarchische, unzivilisierbare Herz der Eidgenossen. Auf den Flügeln dieser Lieder, gesungen von der süssen Stimme meiner Mutter, eine Art akustischer Muttermilchstrom, wurde ich in Richtung Schlaf gezogen. Kurz bevor ich die Grenze zum Reich von Morpheus überflog, spürte ich, wie meine Mutter aufstand und mir einen Kuss auf die Lippen gab, mit dem sie auf sexuelle Art meinen Körper versiegelte, das feingesponnene mütterliche Schutzkleid mit einem letzten Knoten verschloss.»
In diesen Passagen ahnt man, was das nächste Werk des Autors werden könnte. Ein Buch, das die Stützen der TV-Prominenz nicht nur überwindet, sondern ganz abwirft und sich auch jenseits von Theorie und Theweleit quasi wehrlos und ungeschützt ins Offene wagt. Das wird hier leider durch ein Nachwort des Autors sowie durch ein ganz kurzes Vorwort «verschlossen».
Das Lektorat und der Autor hätten gut daran getan, mehr auf den eigentlichen Romantext zu vertrauen. Aber vielleicht muss sich Luke Wilkins selber erst von jener Angst befreien, die er im Alpenglühen zwischen Eiger, Mönch und Jungfrau als erotisch-helvetische Urfrequenz erahnt: «Dies ist die grundsätzlichste Eigenschaft der Schweizer: Angst zu haben vor der eigenen, unermesslichen revolutionären Energie der Liebe.»
Luke Wilkins: Auf den Flügeln. Roman. Telegramme-Verlag 2024, Zürich. 340 S., Fr. 36.90.