Die Zürcher Verkehrsbetriebe suchen wegen des Fachkräftemangels gezielt ältere Mitarbeiter. Eine von ihnen ist die 61-jährige Scharka Cernochova.
Scharka Cernochova hat ihr Leben lang als Musikerin gearbeitet. Sie war Chorleiterin und Klavierlehrerin. Sie hat aber auch ein Café geführt, für ein Reformhaus gearbeitet. Und jetzt, im Alter von 61 Jahren, ist sie in Ausbildung. Sie will Trampilotin der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) werden.
Ein Montagnachmittag im März. Ein 8er-Tram fährt im Zürcher Paradeplatz ein. Etwas vor dem weissen Haltebalken rattert es, und das «Tram 2000» hält an – 29 Meter lang und 31 Tonnen schwer. Sogar durch die gespiegelten Scheiben lässt sich Cernochovas Lächeln erkennen. Sie hat vor einer Woche die Theorieprüfung bestanden. Derzeit wird sie noch von einer Instruktorin begleitet. Wie beim Autofahren gibt es auch beim Tramfahren eine Art Lernfahrausweis. In 43 Tagen zur Trampilotin.
Der Kassettenrekorder hat sie angesprochen
Vergangenes Jahr mussten die VBZ ihren Fahrplan ausdünnen. Das Personal fehlte, und Krankheitsausfälle führten zu Einschränkungen im Betrieb. Nun haben die VBZ wieder genügend Trampilotinnen und -piloten gefunden, nicht zuletzt wegen ihrer Ü-50-Kampagne.
Weichen stellen, Geschwindigkeiten halten, Signale beachten und dabei auf Fussgänger und andere Verkehrsteilnehmer achten. Der Alltag von Cernochova erfordert viel Konzentration.
Mit der 2024 lancierten Kampagne versuchen die VBZ in Zeiten des Arbeitskräftemangels eine Marktlücke auszunutzen: Personen, über 50 Jahre, oftmals solche, die kurz vor der Pension stehen. Mit Sprüchen wie: «Wir suchen Trampilot*innen, die die Hitparade noch mit dem Kassettenrekorder aufgenommen haben.»
Die Generation über 50 sei die grösste Gruppe der Arbeitnehmenden auf dem Arbeitsmarkt in der Schweiz. Laut den VBZ wird die leistungsbereite Generation über 50 auf dem Arbeitsmarkt zu Unrecht oft benachteiligt. Dazu komme, dass sie wechselwillig seien und nach dem Wechsel auch eher «treuer» dem Unternehmen gegenüber und länger bleiben würden, schreiben die VBZ auf Anfrage.
Für das Jahr 2025 sind die Klassen bereits voll. Seit Mitte Dezember 2024 sind die VBZ wieder mit dem regulären Fahrplan unterwegs. Sogar die Linie 15 fährt wieder das volle Fahrplanangebot. Zusätzlich haben die VBZ wegen des grossen Andrangs ihre Klassengrössen angepasst, von 6 auf 10 Auszubildende.
Am Paradeplatz ist Cernochova spät dran. Ein häufiges Problem im Trampilotinnen-Alltag. Kurzer Stopp, und die Fahrt geht weiter.
Bis ins 70. Lebensjahr darf man Tram fahren
Scharka Cernochova musste sieben Monate warten, bis sie bei den VBZ anfangen konnte. Die Klassen waren alle ausgebucht. Im Vorfeld fanden viele Tests statt. Ihre kognitiven Fähigkeiten sowie ihre Stressresistenz wurden getestet.
Die Frage nach dem Alter stellt sich. Cernochova ist 61 Jahre alt. Lohnt sich da eine Ausbildung überhaupt? In den Augen der VBZ schon. Wenn alles gutgeht, darf man bei den VBZ bis ins 70. Lebensjahr Tram fahren. Neben der Genehmigung des Vertrauensarztes müssen allerdings auch die Leistungen und das Verhalten stimmen. Bis 39 Jahre müssen die Trampiloten alle fünf Jahre zum Vertrauensarzt, ab 40 alle drei Jahre und ab 60 jährlich.
Cernochova hat einen Bekannten, der Tram fährt. Das hat bei der Bewerbung eine Rolle gespielt. Aber was sie wirklich motiviert hat, war der Ausfall von mehreren Kursen auf verschiedenen Tram- und Buslinien im vergangenen Jahr. Sie sagt: «Die Menschen kommen zu spät zur Arbeit, das kann zu Unstimmigkeiten führen.» Und: Cernochova, die selbst keine Familie hat, will andere Trampiloten-Familien unterstützen, indem sie an Weihnachten oder am Muttertag fährt, wie sie sagt.
Selbst ist Cernochova Rollerfahrerin, damit reist sie zu ihren Frühdiensten an. Aber laut Mikrozensus werden in Zürich ungefähr 40 Prozent der Wege mit Bahn, Bus oder Tram zurückgelegt – Schweizer Rekord.
Mittlerweile ist Cernochova auf der Hardbrücke angekommen. Immer wieder muss sie sich mit der Rassel bemerkbar machen, damit ihr die Autos nicht auf die Gleise fahren.
Jedes Modell ist anders
An den Fahrleitungen sind kleine Tafeln mit Zahlen angebracht. Die runden Tafeln sind Kurven-Höchstgeschwindigkeiten. Die rechteckigen Tafeln sind Strecken-Höchstgeschwindigkeiten. Das Maximum sind 60 Kilometer pro Stunde. So schnell darf man aber nur auf Eigentrassees, wie zum Beispiel in Oerlikon stadtauswärts, fahren. In der Regel liegt die Obergrenze zwischen 24 und 48 Kilometern pro Stunde.
Mit ihren fingerlosen Handschuhen bedient Cernochova das Steuerrad. Damit navigiert sie durch Geschwindigkeitsangaben, die bei Weichen, Kurven und geraden Strecken innert wenigen Metern wechseln können.
Wenn Cernochova ihren Berufsalltag erzählt, dringt die Pädagogin, die sie einst war, durch. «Ich kann erst losfahren, wenn das Signal offen ist», sagt sie. Das Signal wechselt auf Fahrt. Die Weiche ist verschlossen. Sie kann weiterfahren.
Das erste Mal, dass Cernochova selbst Tram gefahren ist, war «furchtbar», wie sie scherzt. Eine besondere Herausforderung sei das Bremsen. Dabei verspanne sie sich konstant. Die Verantwortung, ein 31-Tonnen-Gefährt zum Stillstand zu bringen, wirke sich auf den ganzen Körper aus.
Besonders ihr unterer Rücken schmerzt. Sie sagt: «Ich muss mir sagen, dass, nur weil ich mich verkrampfe, das Tram nicht schneller anhält.» Sie versuche oft ins Thermalbad zu gehen und zu meditieren. Einen Monat nach Ausbildungsbeginn geht es ihr aber schon besser.
Jedes Trammodell fährt sich anders. Die VBZ nutzen drei Tramtypen. Das älteste «Tram 2000», das «Cobra-Tram» und das neuere «Flexity-Tram».
Die grössten Herausforderungen
Cernochova hat die Wendeschlaufe beim Hardturmareal erreicht – mit sieben Minuten Verspätung. Sie hat keine Zeit für eine WC-Pause, sondern muss gleich weiterfahren.
Der Trampiloten-Alltag ist durchgetaktet. Aber genau das liebt Cernochova. Sie sagt: «Wenn jemand nicht gerne Strukturen hat, dann ist er am falschen Ort. Als Trampilotin gibt es wenig Freiheiten. Dafür profitiert man von einer super Organisation.»
Aber den Schichtbetrieb vertragen nicht alle gleich gut. Das wissen auch die VBZ. So solle man sich, bevor man sich zum Trampiloten ausbilden lasse, selbst einige kritische Fragen stellen. Sie sind auf der VBZ-Website zu finden. Man solle sich fragen, ob man damit leben könne, dass man Familienfeste verpasse. «Oder ob du damit klarkommst, jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten zu essen, Sport zu machen, aufzustehen oder ins Bett zu gehen.»
Die 8er-Strecke gilt als die hektischste Strecke für Trampiloten, das liegt nicht zuletzt an den kurzen Wendezeiten.
Laut VBZ sind derzeit Änderungen im Gesundheitsmanagement im Gange. Beispielsweise wurden die Schichten verkürzt. So müsse man nicht mehr 5, sondern maximal 3,5 bis 4 Stunden Pause einlegen zwischen zwei Dienstteilen. Auch wenn ein Arbeitstag bis zu 13 Stunden Präsenzzeit umfassen kann.
Seit sie Tram fahre, habe sie gemerkt, dass nur schon ein kleiner Fehler eine grosse Auswirkung haben könne, sagt Cernochova. So könne sie bei einem kleinen Fehler eine Weiche kaputtfahren, im schlimmsten Fall könne ein Tram dadurch entgleisen. Aber die grösste Herausforderung sei der Strassenverkehr, sagt Cernochova. Dabei müsse man immer vorbereitet sein, falls ein überholendes Auto, ein Musik hörender Velofahrer oder ein Passant am Handy vors Tram laufe. Und sie sagt: «Bitte, liebe Verkehrsteilnehmende: Erschreckt uns nicht ständig!»
Denn die Realität lautet leider: «Als VBZ-Trampilot fragt man sich nicht, ob man in einen Unfall verwickelt wird. Sondern wann.» Das hat man Cernochova nach nur einem Monat im Betrieb gesagt. Und das sagt auch Heinz Schulthess. Er fährt seit 19 Jahren Tram und ist Präsident des Personalverbands Transfair.
Handys und E-Trottinette sind ein grosses Problem
2024 sind sechs Personen bei Tramunfällen gestorben: Allein im März kamen innert weniger Tage drei Personen bei Unfällen zu Tode. Das ist ein Negativrekord für die VBZ. Woran liegt das?
Laut Schulthess ist der Stress auf den Strassen in den vergangenen Jahren grösser geworden. Alle Verkehrsteilnehmer seien abgelenkter und hätten weniger Geduld: Fussgänger, die aufs Handy starren und Noise-Cancelling-Kopfhörer tragen.
Ein weiteres Problem sei: Trotz der Mehrbelastung seien die Arbeitsbedingungen der Trampiloten nicht angepasst worden.
Heinz Schulthess meint vor allem die kurzen Wendezeiten, die stellen für viele VBZ-Mitarbeiter ein Problem dar. Schulthess sagt: «Der Stress auf den Strassen hat massiv zugenommen, und die Wendezeiten wurden nicht daran angepasst.»
Scharka Cernochovas 8er-Tram tuckert am Stauffacher ein. Die Verspätung konnte sie nicht mehr einholen. Ihre Stimme erklingt durchs Mikrofon: «Uf Widerluege mitenand und no en schöne Namittag.» Sie macht die Tür ihrer Kabine auf, zieht ihre Jacke an und steigt aus dem Tram. Schichtende für heute. Endlich kann sie auf die Toilette.