Die Stiftung Pro Specie Rara in Basel versucht, selten gewordene Pflanzen vor dem Aussterben zu bewahren – auch, um mit vielfältigen genetischen Ressourcen für die Zukunft gewappnet zu sein. Das tönt gut. Trotzdem sind alte Sorten nicht immer die besseren.
«Schmeckt ihr den Unterschied?», fragt Philipp Holzherr in die Runde. In dem Besprechungsraum, an dem fünf Frauen und Männer an einem langen Tisch jeweils vor einem Teller Salat sitzen, ist es mucksmäuschenstill. Zu hören ist nur das Zupfen, wenn ein Stück von den üppigen Köpfen gerissen wird, die in der Mitte liegen. Ohne Vinaigrette, schliesslich sollen die Salat-Tester herausfinden, ob der «Merveille des quatre saisons» mit seinen rötlich gefärbten Blättern bitterer, knackiger, grasiger schmeckt als das etwas hellere «Rote Butterhäupl».
Jeweils im Sommer probieren sich die Mitarbeiter von Pro Specie Rara jede Woche durch die unterschiedlichsten Gemüse- und Obstsorten. Alle werden in den Merian-Gärten am Rande von Basel angepflanzt. Dort ist auch der Hauptsitz der Stiftung zu finden, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, selten gewordene Pflanzensorten und Tierrassen zu erhalten.
«Erinnert mich an Grüntee», lautet das Urteil, «megabitter» oder «schön buttrig». Normalerweise wird jedes Gemüse zusätzlich gedämpft und grilliert verkostet, aber dafür fehlt heute die Zeit. Die Ergebnisse werden im Anschluss in der Datenbank festgehalten, so kann man auf einen Blick sehen, welche Sorte – in diesem Fall: Blattsalat – für wen geeignet ist: etwa als Allrounder im Supermarkt oder als ungewöhnliche Nuance auf dem Teller in der Spitzengastronomie, für die grosse Betriebskantine oder als Liebhaberstück im heimischen Garten.
Die Sorten sind jahrhundertealt
Fazit am Salat-Tisch: Das «Rote Butterhäupl», eine alte Sorte, die ursprünglich aus Österreich stammt, überzeugt geschmacklich, dafür könne man den «Merveille» das ganze Jahr über anbauen.
Mira Oberer führt in das Labor der Stiftung und öffnet die Datenbank. Sie ist seit zwölf Jahren als Projektleiterin für «alles, was mit Samen zu tun hat» verantwortlich, das macht sie auch zur Hüterin der Samenbibliothek. Dort lagert in einem luftdicht abgeschlossenen Raum bei 15 Grad Celsius und 15 Prozent Luftfeuchtigkeit das Saatgut von rund 1400 Garten- und Ackerpflanzensorten, zudem das Saatgut von 1000 Zierpflanzen, 400 Beeren- und 2400 Obstsorten, alle seit Jahrhunderten in der Schweiz bekannt.
In der Datenbank gibt es zu jeder einzelnen Sorte genaue Beschreibungen zu Geschmack, Struktur, Mundgefühl, dazu Bilder in unterschiedlichen Stadien von Keim bis Frucht, und die Info, woher eine Sorte stammt. Die Bussola-Bohne etwa hat die Stiftung aus dem Tessiner Bleniotal bekommen, dort hatte sie eine Familie über viele Jahre erfolgreich angebaut und dann ein paar Samen an Pro Specie Rara geschickt. Jährlich kommen neue «alte» Sorten dazu, meist versehen mit kleinen Geschichten wie etwa der der Zuckermelone «Boule d’Or», die bereits 1885 zum Verkauf stand.
Die Stiftung Pro Specie Rara beschäftigt viele Helfer, die die alten Sorten im Freiland anbauen. Dazu gehören auch alte Kohlsorten – ein Gemüse, das seit Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden gegessen wird.
Ohne die vielen Helfer, die jeden Herbst abgesammelte Samen der unterschiedlichsten Pflanzen nach Basel senden, würde die Arbeit der Stiftung nicht funktionieren. 400 bis 500 Freiwillige – vom Kleingärtner bis zum Bauern – beteiligen sich an Anzucht und Samenlese. Entstanden ist dieses Konzept aus pragmatischen Gründen. Nachdem der Zürcher Forscher Hans-Peter Grünenfelder Pro Specie Rara 1982 gegründet hatte, war das Geld knapp, und ein Garten stand der Stiftung noch nicht zur Verfügung. Da lag es nahe, die Arbeit auf viele im ganzen Land zu verteilen.
Das Alpenschwein bekommt keinen Sonnenbrand
Nicht nur Pflanzen, sondern auch Tiere gehören zum Aufgabenbereich der Stiftung. Ob Wollschwein, Appenzeller Barthuhn oder Rätisches Grauvieh: 38 Nutztierrassen konnten bisher vor dem endgültigen Aussterben bewahrt werden. Die Stiefelgeiss, eine widerstandsfähige Ziege mit hoher Lebensdauer, war die erste, kaum mehr existente Rasse, von der 1983 ein Exemplar mit dem Schiff über den Walensee zu einer Auffangstation gebracht werden konnte.
Inzwischen gibt es mehrere hundert Stiefelgeissen in der Schweiz. Auch das Schwarze Alpenschwein ist auf vielen Berghöfen wieder zu sehen. Anders als die üblichen Hausschweine bekommt es dank seinem robusten Borstenkleid in exponierter Höhenlage keinen Sonnenbrand, und mit seinen kräftigen Beinchen kann es auf unebenen Böden leicht herumtollen.
Ob Tiere oder Pflanzen: Bei der Erhaltung der Sorten geht es nicht um die romantische Vorstellung einer modernen «Arche Noah» oder einen möglichst bunten Garten mit mehr Vielfalt in Farbe und Geschmack. Es geht vielmehr darum, die Vielfalt, die über lange Zeit gewachsen ist, auch für kommende Generationen zu bewahren und damit deren Versorgung zu sichern.
Oft sind alte Sorten härter im Nehmen
Gibt es mehr Auswahl, so steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die unterschiedlichen Sorten besser mit veränderten Umweltbedingungen aufgrund des Klimawandels zurechtkommen. Oft sind alte Sorten härter im Nehmen, mal vertragen sie Hitze besser, mal Schädlinge. Das Jordan-Virus, das in Europa Tomaten und Paprika in kürzester Zeit befällt und zerstört und das ausserordentlich langlebig ist, verbreitet sich beispielsweise über das Saatgut.
«Wenn das kaputt ist, gibt es keinen Ersatz. Mit einer breiten Vielfalt und damit auch Genetik gibt es hoffentlich immer Sorten, die gegen solche neuen Ereignisse ankommen können und damit unsere Nahrungsmittelsicherheit gewährleisten», sagt Mira Oberer.
In der Samenbibliothek in Basel lagern Weizen, Pastinake, Kürbis und Lauch in den unterschiedlichsten Variationen. Eine weitere «Blaupause» ruht in grossen Gefrierkühltruhen, aus Sicherheitsgründen in einem Nachbargebäude. Die Basler Bibliothek ist nicht die einzige, die sich dieser Aufgabe verschrieben hat. In der «Ex-situ-Genbank» am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) nahe Magdeburg schlummern beispielsweise mehr als 150 000 Neuerwerbungen aus 92 Pflanzenfamilien.
Menschen wollen bewahren, was sie kennen
Über 1,2 Millionen Samenproben sind in der grössten Samenbank Global Seed Vault im norwegischen Spitzbergen aus 99 verschiedenen Genbanken weltweit zu finden. Platz wäre dort sogar für 4,5 Millionen Arten, deren genetische Vielfalt man für das Überleben der Menschheit sichern möchte – für den schlimmsten Fall der Fälle: eine globale Katastrophe.
Das Saatgut so wie in Spitzbergen ausschliesslich in einem abgeschotteten Archiv zu bewahren, hält Mira Oberer jedoch für keine gute Idee. «Ganz einfach, weil wir glauben, dass Menschen die Sorten, die sie kennen und gebrauchen, auch bewahren möchten. Der Rest gerät schnell in Vergessenheit.» Zudem sei es wichtig, Sorten an sich verändernde Umweltbedingungen anzupassen. «Dazu müssen sie regelmässig im Freiland angebaut werden», so Oberer.
Dem stimmen Wissenschafter der Königlichen Botanischen Gärten von Kew bei London zu, die festgestellt haben wollen, dass viele Pflanzen mit der derzeit gängigen Lagerungsmethode bei Minusgraden nicht gerettet werden können. Manche Baumarten wie Eichen oder Süsskastanien, aber auch Avocados und Mangos könnten gar nicht mehr auskeimen, wenn man sie einmal getrocknet habe.
Verkreuzung unerwünscht
Damit das Saatgut im Herbst nach dem Anbau im Freiland auch korrekt abgesammelt wieder zurück nach Basel kommt, müssen seine Bewahrer gut ausgebildet sein. «Es ist nicht damit getan, dass man ein paar Samen in die Erde steckt und fertig», sagt Oberer. Würden etwa zwei Karottensorten gleichzeitig blühen, käme es zu einer Verkreuzung – damit sei eine Sorte nicht mehr sortenrein und zeige nicht mehr ihre charakteristischen Merkmale. «Wir erhalten nur samenfeste Sorten, die sich problemlos vermehren lassen.» Aus samenfesten Sorten lassen sich Pflanzen ziehen, die die gleichen Eigenschaften wie die Mutterpflanze zeigen.
Der Einstieg als Sorten-Erhalter erfolgt meist über ein Probierset aus Salat, Stangenbohne und Tomate, das die Stiftung Interessenten zur Verfügung stellt. Will sich jemand längerfristig engagieren, ist eine Teilnahme an einem Kurs erwünscht, um beispielsweise zu verstehen, wie viel Abstand es im Garten braucht, um eine Bestäubung durch Wind oder Insekten zwischen unterschiedlichen Sorten zu verhindern.
Im Herbst werden die Samen der jeweiligen Pflanzen dann abgesammelt, von welken Blättern, Stengeln, Blüten befreit und per Post nach Basel geschickt, damit das Archiv durch das in Wind und Wetter erprobte Gut wieder aufgestockt werden kann. Das Saatgut bleibt je nach Pflanze unterschiedlich lang keimfähig: Karottensamen halten sich bei guten Lagerbedingungen zwei bis drei Jahre, Tomaten problemlos bis zu zehn Jahre.
Die Auswahl im Supermarkt ist winzig – dabei gibt es so viel
Klickt man sich im Internet durch die Datenbank, die in grossen Teilen online zur Verfügung steht, scheint es ein bisschen verrückt, wie überschaubar die Auswahl beim Gemüsehändler oder im Supermarkt ist – auch dann, wenn dort seit einigen Jahren deutlich mehr Vielfalt zu finden ist. Eine Alternative auf dem Speisezettel stellt die Ackerbohne «Vicia faba» dar, sozusagen die Ur-Bohne, die schon in der Bronzezeit angebaut wurde, so haben es verkohlte Funde in Unterengadin und Graubünden belegt. War sie bis ins Spätmittelalter noch die wichtigste Hülsenfrucht Europas, diente sie ab dem 20. Jahrhundert lediglich als Tierfutter.
Philipp Holzherr, der zuvor noch durch die Salat-Degustation geführt hat, zeigt nun im Garten auf die buschige Pflanze im Beet. Der Bereichsleiter «Ackerpflanzen und Gemüse» ist mit dafür verantwortlich, dass die alte Kultur wieder eingeführt wurde. Wuchs sie zunächst überwiegend in den Bergen, weil die robuste Bohne gut mit Kälte zurechtkommt, klappt das inzwischen auch in wärmeren Regionen, so wie in Basel. Auch wenn sie dort mehr mit Käfern und Blattläusen zu kämpfen hat als zuvor in höheren Lagen.
Als ganze Schote frisch vom Strauch verspeist, erinnert sie ein bisschen an eine Zuckererbse, auch wenn sie weniger süss schmeckt. Getrocknet machen sich die zuvor eingeweichten Bohnen gut in Suppen und Eintöpfen, als Mehl verfeinern sie selbstgebackenes Brot oder geben die Basis in Bohnentofu oder Hummus. Gleichzeitig ist die Ackerbohne als Leguminose ein Gewinn für jeden Boden: Sie düngt die Erde, in der sie steckt, gleich mit. In den Wurzelknöllchen verbindet sie sich mit Bakterien, die Stickstoff fixieren. Eine künstliche Stickstoffdüngung braucht es bei diesen Kulturen nicht.
Für neue Sorten braucht es die alten dringend
In vielen alten Sorten stecken allerdings nicht nur «neue» Geschmackserlebnisse, sie bringen auch das Rüstzeug für die Zukunft mit. Während viel Blattwerk oder dicke Wurzeln in der industriellen Landwirtschaft bisher eher nicht erwünscht waren, könnten ebendiese nun hilfreich werden. Beispiel Kürbis: Viele alte Sorten plustern sich mit grossen Blättern auf dem Feld auf und bilden damit eine Art Sonnenschirm für die Früchte darunter. Sie schützen sich dadurch selbst und bewahren gleichzeitig den Boden vor schnellem Austrocknen.
Darüber hinaus sind nur mit einer ausreichend grossen Varianz «alter» Sorten Neuzüchtungen möglich, die sozusagen als «genetische Ressource» die besten Eigenschaften mehrerer Sorten vereinen. Das hat auch eine Studie gezeigt, die 2019 unter der Leitung der Justus-Liebig-Universität in Giessen durchgeführt wurde. Um herauszufinden, ob moderne Weizen-Züchtungen anfälliger sind für Krankheiten, wurden knapp 200 Sorten Winterweizen drei Jahre lang an sechs Standorten getestet.
Dabei wurde deutlich, dass diese Sorten auch unter schwierigen Anbaubedingungen die höchsten Erträge aufweisen konnten. Und es zeigte sich: «Für die Züchtung neuer und noch widerstandsfähigerer Sorten werden die genetischen Ressourcen alter Sorten dringend benötigt», sagt Kai Voss-Fels, der Erstautor der Studie. Gerade wenn es darum gehe, Resistenzeigenschaften zu verbessern.
Manchmal lohnt auch der Abschied
Gleichwohl wollen die Experten aus Basel trotz allen Bemühungen auf dem Feld und im Garten mit einem Mythos aufräumen: «Alte Sorte gleich automatisch besser, das ist zu pauschalisiert. Denn nicht jede seltene Paprikasorte schmeckt automatisch gut und wächst gesund», sagt Mira Oberer.
Manchmal muss man sich auch von Sorten verabschieden. Oft könnten sie beispielsweise mit den heutigen Ansprüchen auf Ertrag und Einheitlichkeit nicht mehr mithalten. «Klar ist es schade, wenn man eine Sorte nicht erhalten kann. Aber das gehörte schon immer dazu.» Auch Philipp Holzherr sagt: «Man muss sich fragen, welchen Grund es hat, eine Sorte zu erhalten, sei es Geschmack, Widerstandsfähigkeit oder weil sie besonders ungewöhnlich ist. Manchmal können wir aktuell einfach keine guten Argumente dafür erkennen.»
Er habe in seinem Garten lange ausschliesslich auf alte Sorten gesetzt und geglaubt, dass er kein guter Gärtner sei, weil so vieles nicht klappen wollte. «Bis ich verstanden habe, dass ‹alt› nicht das einzige Kriterium sein kann. Man sollte immer verschiedene Sorten ausprobieren, um zu erkennen, welche am besten zum eigenen Garten passen – ob alt oder modern.»
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»