Die Deutsche Demokratische Republik war der Musterknabe des ehemaligen Ostblocks. Institutionalisierte Opposition und spontane Massenproteste brachten das scheinbar festgefügte Regime zu Fall. Ohne Gewalt.
«Ich hoffe, dass von den hier Anwesenden niemand an den Unsinn glaubt, dass eine der Seiten den Sieg im ‹Kalten Krieg› davongetragen habe»: Was Michail Gorbatschow am 31. Mai 1990 gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George Bush sagte, war eine der gigantischsten Fehleinschätzungen des 20. Jahrhunderts. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Ostmittel- und Osteuropa und die deutsche Wiedervereinigung markierten die epochale Niederlage der Sowjetunion.
Das Ende des Ostblocks revidierte die Nachkriegsordnung von 1945. Es überwand das «Zeitalter der Ideologien», den Gegensatz von marktwirtschaftlicher westlicher Demokratie und planwirtschaftlicher kommunistischer Diktatur, der ab 1917 zur weltpolitischen Grundkonstellation geworden war. Und am Ende wurde Russland durch den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 machtpolitisch auf die Grenzen von etwa 1650 zurückgeworfen.
Was die Zeitgenossen als «friedliche», «stille» oder «samtene Revolution» oder auch als «Wende» bezeichneten, war einer jener historischen Momente, in denen der «Weltprozess», wie es Jacob Burckhardt 120 Jahre zuvor beschrieben hatte, «plötzlich in furchtbare Schnelligkeit» gerät: «Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phänomene vorüberzugehen und damit erledigt zu sein.» Und was ab 1988 in Polen und in Ungarn Monate dauerte, vollzog sich 1989 in der DDR innerhalb von Wochen und dann in der Tschechoslowakei und in Rumänien innerhalb von Tagen.
Die DDR war Sonderfall und Musterknabe des Ostblocks in einem. Wohlhabend im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten und ärmlich im Vergleich zur Bundesrepublik im Westen, erlebte sie in den achtziger Jahren zunehmend Versorgungs-, Finanz- und Legitimationskrisen des Regimes. Zugleich schien die Herrschaft der SED Anfang 1989 in Stein gemeisselt. Die staatlichen Organe hatten alle Ansätze einer Opposition im Land nicht nur im Blick, sondern auch im Griff.
Ein Riss tat sich freilich mit den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 auf. Einzelne Personen, vor allem aus kirchlichen Gruppen und solche, die einen Antrag auf ständige Ausreise gestellt hatten, erschienen in den Wahllokalen, um die Stimmenauszählung zu kontrollieren. Nach der offiziellen Auszählung, die ein offenkundig gefälschtes Ergebnis von 98,85 Prozent ergab, monierten Bürgerrechtler «Abweichungen von in den Wahllokalen verkündeten Zahlen». Einsicht in die Wahlunterlagen gewährten die amtlichen Stellen ihnen nicht: «Ein Fünkchen Vertrauen müssen sie schon in uns haben.»
Ungarn öffnet die Grenzen
Davon freilich konnte keine Rede sein. Protestresolutionen, Strafanzeigen wegen Wahlfälschung und kleinere Demonstrationen – das war neu. Der Vorwurf beziehungsweise die Enthüllung von Manipulationen sorgte für eine ungekannte Mobilisierung von Protesten. Er brachte bisher marginalisierte Oppositionskräfte und Ausreisewillige zusammen und wirkte auch in bis anhin regimeloyale Bevölkerungskreise hinein. Während sich im Sommer 1989 eine öffentliche Oppositionsbewegung formierte, brachte die Bewegung für eine Ausreise aus der DDR die Entwicklung in der DDR in Bewegung.
Ungarn, das beliebteste Ferienland der Ostdeutschen, hatte im Mai 1989 medienwirksam begonnen, den Grenzzaun gegenüber Österreich abzubauen. Damit wurde das Land zur Verheissung für ausreisewillige Ostdeutsche, denen die DDR eine ständige Ausreisegenehmigung versagte. Allerdings war die Lage nicht klar, denn weder wurden die Grenzen geöffnet noch die Kontrollen beseitigt. So sammelten sich während der Sommerferien Tausende DDR-Bürger im Land – bis ihnen die ungarische Regierung am 11. September die Grenzen öffnete und damit eine erste Ausreisewelle von 30 000 Ostdeutschen in Gang setzte.
Hatte die DDR-Führung jede Beteiligung an einer Lösung verweigert, so verweigerte sie nun Genehmigungen für Reisen nach Ungarn – mit der Folge, dass ausreisewillige Ostdeutsche die bundesdeutschen Botschaften in Prag und in Warschau aufsuchten. Die Bilder der überfüllten Botschaften wurden zu Ikonen, die medial in die DDR zurückgespielt wurden. Das galt vor allem für den Auftritt von Bundesaussenminister Genscher auf dem Balkon der Botschaft in Prag, dessen Aussage – ihre Ausreise zu verkünden – im Jubel der Botschaftsflüchtlinge unterging.
Diesmal hatte die DDR-Führung einer Einigung zugestimmt, weil die Bilder aus Prag und Warschau das 40-Jahre-Jubiläum der Staatsgründung zu überschatten drohten, das die SED am 7. Oktober mit grossem Aufwand feiern wollte. Unter diesem Druck liess sie die Botschaftsflüchtlinge mit Sonderzügen über das Territorium der DDR ausreisen.
Nur so, indem sie ihre Pässe einsammelte, konnte sie in Erfahrung bringen, wer das Land überhaupt verliess. Aber dieser vermeintliche Akt der Kontrolle trug die Krise endgültig in die DDR zurück: Entlang der Bahnstrecke versuchten Menschen, auf die Züge aufzuspringen, und am Dresdner Hauptbahnhof kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Die Proteste sprangen nach Berlin über und überschatteten die Jubiläumsfeierlichkeiten. Aus der Flüchtlingskrise wurde eine Systemkrise.
«So beschissen wie noch nie»
Am Montag darauf, dem 9. Oktober, überschritt die Bürgerbewegung in Leipzig den Rubikon: Waren die Staatsorgane am Wochenende noch gewaltsam gegen öffentliche Proteste vorgegangen, so schreckten sie an diesem Abend vor der unerwartet hohen Zahl von 70 000 Demonstranten zurück. Diese konnten daraufhin unter der Losung «Wir sind das Volk» unbehelligt und friedlich über den Leipziger Ring ziehen. Damit hatte die SED-Führung die Kontrolle über die Entwicklung verloren.
In Leipzig manifestierte sich das entscheidende Zusammenspiel aus einer Oppositionsbewegung, die sich über den Sommer in verschiedenen Gruppierungen institutionalisiert hatte, und einer spontan entstandenen Massenbewegung auf den Strassen. Als Bürgerbewegung ohne zentrale Koordination brachte sie in vier Wochen zwischen dem 9. Oktober in Leipzig und dem 9. November in Berlin ein vermeintlich festgefügtes und tatsächlich fragiles SED-Regime zum Einsturz.
Bis zuletzt hatten die wenigsten Mitglieder des Politbüros den Ernst ihrer Lage überhaupt erfasst. Nun aber brach Panik aus: Die «Lage ist so beschissen, wie sie noch nie in der SED war», so brachte ein Mitglied die Dinge eine Woche nach den Leipziger Ereignissen ohne Rücksicht auf das Protokoll auf den Punkt, nachdem dort tags zuvor über 100 000 Menschen auf die Strasse gegangen waren.
Am 17. Oktober stürzte das Politbüro der SED seinen seit 1971 amtierenden, 77-jährigen Generalsekretär Erich Honecker. Tags darauf wurde der bisherige Kronprinz Egon Krenz zu seinem Nachfolger gewählt. Er versprach eine «Wende» und «Dialog», und er hoffte, mit einigen inhaltlichen Korrekturen und personellen Veränderungen die Initiative wiederzugewinnen. Die Entwicklung lief allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Honeckers Sturz beschleunigte den Prozess der Erosion der SED-Herrschaft nur noch mehr.
Wie eine Lawine verbreitete sich die Protestbewegung über das ganze Land. Hatte erst einmal eine Demonstration stattgefunden, dann war der Bann gebrochen, die Fügsamkeit der grossen Mehrheit überwunden, wurde die Sehnsucht nach Freiheit stärker als die Erfahrung der Angst und die Gewohnheit der Resignation. Die Bürgerbewegung gewann, wie die Staatssicherheit am 23. Oktober feststellte, «zunehmende Selbstsicherheit im öffentlichen Auftreten» und artikulierte bald verstärkt explizit, «als politische Opposition gelten und wirken zu wollen».
Die Mauer fällt
Von zentraler Bedeutung war dabei das Zusammenwirken von neu institutionalisierten Oppositionsgruppen und spontaner Massenbewegung auf den Strassen. 250 000 Teilnehmer zählte die Leipziger Montagsdemonstration vom 23. Oktober, 210 Protestveranstaltungen fanden in der ersten Novemberwoche im ganzen Land statt. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung am 4. November 1989 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz, als Schauspieler und Schriftsteller, Vertreter der Oppositionsgruppen sowie reformkommunistische Intellektuelle und Funktionsträger vor über 500 000 Menschen sprachen.
Der Traum der Oppositionsbewegung von einer reformierten, demokratischen und sozialistischen DDR schien zum Greifen nahe. Eine Rücktrittswelle spülte zahllose Funktionsträger im ganzen Land aus dem Amt. Drei Wochen nach dem Sturz Erich Honeckers und der Machtübernahme durch Egon Krenz lag die SED-Herrschaft am Boden. In den Tagen nach dem 4. November sah die Bürgerbewegung wie die Siegerin des Umbruchs in der DDR aus.
Ungeahnter Erfolg und unerwarteter Niedergang aber lagen nahe beieinander. In diesem Moment nämlich bahnte sich bereits eine neuerliche und nicht weniger dramatische Wendung an. Sie ging von einem ungeplanten Ereignis aus, das zur eigentlichen Ikone des deutschen Herbstes 1989 wurde: dem Fall der Berliner Mauer.
Nach dem politischen und kommunikativen Desaster der ungarischen Grenzöffnung und der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge, nach der die DDR auch die Grenzen zur Tschechoslowakei schloss, war eine neue Regelung für Auslandsreisen unabdingbar – wobei Egon Krenz klar war: «Wie wir’s auch machen, machen wir’s verkehrt.»
In der Tat: Am Nachmittag des 9. November beschloss das Zentralkomitee der SED eine Verordnung zur «Frage der Ausreisen», die nicht sehr klar formuliert, vielmehr ein Produkt von Handlungsdruck und mangelndem Überblick war. Ging es um ständige Ausreisen oder um Reisen allgemein? Was bedeutete es, dass sie beantragt und genehmigt werden mussten? Noch grösser war die Unklarheit, als der erst seit einem Tag amtierende zuständige ZK-Sekretär Günter Schabowski die Verordnung in einer Pressekonferenz vortrug, dabei die Kautelen ausliess und auf die Frage eines Journalisten ganz offensichtlich spontan darauf hinwies, die Regelung trete «sofort, unverzüglich» in Kraft.
Die deutsche Frage
Was dies bedeutete, entschieden nicht die ihrer Macht verlustig gegangenen Machthaber, sondern Tausende Ostdeutsche, die zu den Grenzübergangsstellen strömten und die überforderten Grenzbeamten durch die schiere Masse ihrer Zahl dazu brachten, in der Nacht vom 9. auf den 10. November die Grenzübergänge zwischen Ost- und Westberlin und zwischen der DDR und der Bundesrepublik zu öffnen. «Wahnsinn» wurde zum Wort der Stunde.
Hinter der Euphorie des Augenblicks bahnte sich unterdessen eine historische Wendung an. Denn als die Mauer gefallen war und die Grenze geöffnet war, stand die deutsche Frage im Raum. Aus der Systemkrise wurde eine Staatskrise.
Sie ging mit der Spaltung der Bürgerbewegung einher, die gerade noch die Herrschaft der SED gestürzt hatte und die an der nationalen Frage zerbrach. Die Mehrheit der Oppositionsgruppen, jedenfalls ihre prominentesten Stimmen, setzte auf eine reformierte eigenständige DDR. Sie propagierten den «dritten Weg» eines demokratisierten Sozialismus zwischen westlichem Kapitalismus und SED-Staatssozialismus. Ihr Schreckbild waren «ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte» und die Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik – eine Wiedervereinigung durch Beitritt.
So war es jedoch inzwischen auf den Strassen der DDR zu hören. «Deutschland, einig Vaterland», wurde auf der Leipziger Massendemonstration am 13. November skandiert. Ein Werkzeugmacher erhielt langen Beifall, als er erklärte, er habe keine Lust auf neue Varianten des Sozialismus: «Keine Experimente mehr! Wir sind keine Versuchskaninchen.» Vor der Tür gebe es ein funktionierendes Gegenmodell: freie Marktwirtschaft und deutsche Wiedervereinigung.
Die Massenbewegung wandte sich vom Projekt der Reform der inneren Verhältnisse, von der Vorstellung einer demokratisierten und sozialistischen eigenständigen DDR ab und peilte stattdessen die unmittelbare Vereinigung mit der Bundesrepublik an. Aber sie hatte keine institutionelle Stimme. Als im Dezember 1989 ein «runder Tisch» eingesetzt wurde, um über die Neuverteilung der Macht zu reden, sassen dort Vertreter des alten Systems und der neuen Oppositionsgruppen, aber keine Vertreter der Massendemonstrationen.
Hoffnungsträger Kohl
Diese suchten sich einen anderen Partner, der nun ins innerdeutsche Spiel eingriff: die westdeutsche Bundesregierung in Bonn. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte sich im Herbst 1989 öffentlich zurückgehalten, um kein Öl in das aufflammende Feuer zu giessen. Entscheidend sei der Wille der DDR-Bevölkerung, und dieser, so Kohls aussenpolitischer Berater, «könne Einheit heissen, müsse es aber nicht zwangsläufig».
Nach dem Fall der Mauer indessen wuchs der Druck auf Kohl, sich zu positionieren. Das tat er am 28. November mit einem nicht in der Sache, aber durch den Auftritt spektakulären «Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas», das auf eine deutsche Einheit zulief.
Damit hatte Kohl die öffentliche Meinungsführerschaft zur deutschen Frage an sich gezogen. Und er wurde zum Hoffnungsträger der Massenbewegung in der DDR. Das zeigte sich drei Wochen später, als Kohl am 19. Dezember nach Dresden reiste. Wichtiger als das Gespräch mit dem neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow, wichtiger auch als das Gespräch mit Oppositionsvertretern, mit denen der Kanzler nicht warmwurde, war Kohls direkte Begegnung mit der Bevölkerung, vor allem seine Rede vor der Ruine der Frauenkirche.
Dass sie an diesem schicksalsträchtigen Ort in winterlicher Abendstimmung inszeniert wurde, änderte nichts daran, dass Kohl mit einem Akt der quasirituellen Akklamation begrüsst wurde. Die anwesenden Ostdeutschen sahen in ihm den Heilsbringer, der es ermöglichen würde, ihren mehrheitlichen Willen zur deutschen Einheit politisch umzusetzen.
Damit war vorweggenommen, was die DDR-Bevölkerung in den ersten freien Parlamentswahlen am 18. März 1990 mit über 90-prozentiger Mehrheit legitimierte: eine schnelle Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik. Aus der friedlichen Revolution in der DDR wurde die Revolution der deutschen Einheit. Das war eine zweite Geschichte, in der sich die Kräfteverhältnisse nach Westdeutschland verschoben.
«Ohne uns gibt es keine DDR»
Ist aber eine «friedliche» oder «samtene» Revolution, ist eine «Wende» überhaupt eine «Revolution»? Die Antwort hängt von der Definition des schillernden und oft unscharf verwendeten Begriffs ab. Definiert man eine Revolution über Tote und Gewalt, wären die Ereignisse in Ostmittel- und Osteuropa mit der Ausnahme Rumäniens und der baltischen Staaten keine Revolutionen gewesen. Viel wichtiger aber ist die grundlegende Veränderung der bestehenden politischen und sozialen Ordnung, die zu einem Wechsel von Verfassung, politischem System und gesellschaftlichen Strukturen führt.
Das Ende der kommunistischen Herrschaft war in der Tat eine grundlegende Umwälzung der politischen Systeme und der Gesellschaften, insbesondere in der DDR. Es war, auch mit Blick auf die internationale Dimension, ein grundstürzender Wandel der bestehenden Ordnung – mehr noch als die Ereignisse von 1848 oder 1918, die umstandslos als «Revolution» bezeichnet werden. Und in Verbindung mit dem weiteren Fortgang, in dem der Untergang des SED-Regimes und der gesamten DDR in die Wiedervereinigung Deutschlands mündete, war es nichts anderes als eine deutsche Revolution.
Doch wie konnte es geschehen, dass der Weltprozess so «plötzlich in furchtbare Schnelligkeit» geriet und scheinbar festgefügte Ordnungen «wie flüchtige Phänomene» hinwegfegte?
Es war eine Verbindung mehrerer Gründe, die 1989 ihre kritische Masse erreichte. Der erste Grund lag in der Reformpolitik Michail Gorbatschows in der Sowjetunion ab 1985. Um den Kommunismus zu reformieren, wollte er die Überspannungen des sowjetischen Systems reduzieren. Daher widerrief er die «Breschnew-Doktrin», mit der sich die Sowjetunion eine Intervention in sozialistischen «Bruderstaaten» vorbehielt, wenn diese von der kommunistischen Orthodoxie abwichen.
Damit entzog er zugleich der DDR die Bestandsgarantie. «Erich, ich sage dir offen, vergiss das nie», hatte Leonid Breschnew im Juli 1970 zu Erich Honecker gesagt, «die DDR kann ohne uns, ohne die Sowjetunion und ohne ihre Macht und Stärke nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR.»
Menschen mit Kerzen in der Hand
Dieser Machtverzicht eröffnete Handlungsspielräume für Oppositionsbewegungen innerhalb der betroffenen Staaten. In der DDR war es das Zusammenspiel von sich formierenden Oppositionsgruppen, Flüchtlingsbewegung und spontaner Massenbewegung, die mit ihrem friedlichen Protest zugleich die Erwartungen des Regimes unterliefen. Die Machthaber der SED hatten mit allen Perfidien des Klassenfeindes gerechnet, aber nicht mit friedlichen Menschen mit Kerzen in der Hand.
Die SED-Führung hatte keine Vorstellung von dem, was geschah. Materialistische Sozialisten hatten Verständnis für Versorgungsmängel bei Dachpappe und Büstenhaltern, über die im Politbüro diskutiert wurde, nicht aber für das Verlangen nach Reisen und Freiheit. Ihnen fehlte die Sprache, um die Vorgänge zu begreifen und um sie zu adressieren.
Die einfachste Kommunikation wollte nicht mehr gelingen. Dies zeigt eine interne Auswertung für Egon Krenz, die sich in den Akten des Politbüros der SED findet. Nach einem öffentlichen Auftritt in Berlin hielten die Mitarbeiter des Generalsekretärs fest: «Wer mit Hochrufen begrüsst wird, gerät sofort in Verdacht, ein ‹Alter› zu sein. Reformfreudige Kräfte begrüssen niemand mit einem Hochruf. [. . .] Man darf sich in keiner Weise anzubiedern versuchen – Dank in dieser Art ([. . .] Ich danke Euch . . .) empfinden die Leute zum Teil als Anmassung. [. . .] – Wo die Leute den leisesten Verdacht haben [. . .], da will einer taktieren, reagieren sie sauer.»
Für die DDR kam schliesslich der Sonderfall hinzu, dass im Westen ein rivalisierender Teilstaat existierte, während es kein Westpolen oder Westungarn gab. Der Wiedervereinigungsanspruch der Bundesrepublik stellte eine existenzielle Bedrohung für die DDR und eine Exit-Option für ihre Einwohner dar. Sie unterlagen der ständigen Einwirkung durch westliche Medien, die wiederum als Katalysator der Ereignisse dienten, indem sie Bilder und Informationen über die Vorgänge in der DDR verbreiteten. So ging der «regime change» in der DDR mit dem Untergang des gesamten Staates und seinem Beitritt zur Bundesrepublik einher.
Der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands waren die sichtbarsten Phänomene der Revolution von 1989/90, mit der die bipolare Welt des Kalten Krieges in ein «neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit» übergehen sollte, wie es die Charta von Paris vom 21. November 1990 proklamierte. Die Ordnung von 1990 war von westlichen Werten und Institutionen dominiert, die sich im Ost-West-Konflikt durchgesetzt hatten und nunmehr, so die Hoffnung am vielzitierten «Ende der Geschichte», über die ganze Welt verbreiten würden.
Der neue Konflikt
Aber wie hatte Michail Gorbatschow bereits im Mai 1990 gesagt? Niemand solle glauben, dass eine der Seiten den Kalten Krieg gewonnen habe. Die Revision der «grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts», wie Wladimir Putin den Untergang der Sowjetunion später nannte, wurde vielmehr zum zentralen Antrieb der russischen Politik im 21. Jahrhundert.
Auch China akzeptierte die liberale Ordnung von 1990 nur aus taktischen Gründen, um einen beispiellosen ökonomischen Aufstieg zu flankieren; unmittelbar nach seinem Amtsantritt erklärte Xi Jinping der westlichen Demokratie und universalen Werten den Kampf.
Statt einer neuen Einheit war in der Ordnung von 1990 ein Ordnungskonflikt angelegt, den der globale Westen im Vollgefühl seines Sieges übersah und den der globale Osten im 21. Jahrhundert aktivierte, als der Westen das Hochgefühl seiner Überlegenheit längst verloren hatte. Aber das ist eine andere Geschichte, die 1989 noch niemand ahnte.
Andreas Rödder ist Professor für neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Leiter der Denkfabrik Republik 21 für neue bürgerliche Politik.
Die grossen Revolutionen
rib. Revolutionen prägen die Geschichte und verändern die Welt. Aber wie laufen sie ab? Was braucht es, damit sie ausbrechen? Was macht sie erfolgreich, was bringt sie zum Scheitern? Und welche Nebenwirkungen haben sie? In einer Reihe von Artikeln werden in den kommenden Wochen ausgewählte Revolutionen erzählt und die Frage gestellt, welche Folgen sie hatten. Am 30. August schreibt der Politikwissenschafter Hamed Abdel-Samad über den Arabischen Frühling.