Für den angesehenen Ökonomieprofessor ist Amerika vom Behüter zum Hacker des Welthandelssystems geworden. China habe das Kräftemessen mit den USA gewonnen.
Herr Baldwin, die Finanzmärkte haben den Schock nach dem Zollhammer von Donald Trump erstaunlich schnell überwunden. War alles nur ein Sturm im Wasserglas?
Nein, sicherlich nicht. Für einen Moment schien es möglich, dass die Weltwirtschaft in eine Krise wie in den 1930er Jahren zurückfällt. Die heftigen Reaktionen der Finanzmärkte nach dem «Liberation Day» deuteten auf ein solches Szenario: Die Börse brach ein, der Dollar sackte ab, und die Zinsen auf den US-Staatsanleihen schossen nach oben. Dieser Schock hat dazu beigetragen, dass Trump am 9. April einen grossen Teil seiner Zollpläne fürs Erste gestoppt hat.
Offensichtlich lässt sich die bisherige Handelsordnung nicht so leicht über den Haufen werfen.
Anfänglich handelte Trump so, als könnte er den anderen Ländern diktieren, was diese zu tun hätten. Jetzt hat er gemerkt, dass es nicht so einfach funktioniert. Insbesondere China ist hart geblieben in den Verhandlungen mit den USA.
Hat sich Trump verkalkuliert?
China hat dieses Kräftemessen gewonnen. Trump musste befürchten, dass die Zölle einen gravierenden Schaden in der eigenen Wirtschaft verursachen könnten. Jetzt gelten für China im Prinzip keine höheren Zölle mehr als für alle anderen, obwohl das Land mit Abstand am stärksten zum Handelsbilanzdefizit der USA beiträgt. Kommt hinzu: Die USA erheben jetzt zwar einen Basiszoll von 10 Prozent. Die Abwertung des Dollars in den letzten Wochen hat diesen Aufpreis noch verstärkt, aber mittelfristig dürfte eine Aufwertung ihn wieder mildern.
Geopolitische Einordnung im Überblick
Kurzgefasst: Die USA verletzten unter Donald Trump systematisch die Regeln des Welthandelssystems. Die neue Zollpolitik wird nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Dennoch werden die USA an einer abgeschwächten Version festhalten.
Geopolitische Einschätzung: Der Handelskonflikt stärkt die Position Chinas auf Kosten der USA.
Blick voraus: Baldwin hält drei unterschiedliche Szenarien der weiteren Entwicklung für wahrscheinlich. In allen überlebt das regelbasierte Welthandelssystem.
Sie sehen China als Gewinner. Ist Europa in einer schwächeren Position?
China hat den grossen Vorteil, dass die USA stark abhängig sind von seinen Industriegütern. Ohne Importe aus China gerät die amerikanische Wirtschaft sofort in ernsthafte Schwierigkeiten. Die Marktturbulenzen der letzten Wochen haben dies eindrücklich demonstriert. China produziert 35 Prozent der globalen Waren, während Europa auf etwa 10 bis 15 Prozent kommt. Zölle auf europäischen Waren führen zu keinem so gravierenden Wachstumseinbruch oder einem Inflationsschub in den USA, wie das mit China der Fall ist.
«Für die Schweiz ist der Druck auf den Franken die grössere Herausforderung als die Zölle.»
Wie beurteilen Sie die Verhandlungsmacht der Schweiz? Als kleine offene Volkswirtschaft sind für sie Exporte in die USA von grosser Bedeutung.
Das stimmt, wobei sich die Ausfuhren vor allem auf einige wenige Branchen wie die von Medikamenten konzentrieren. Zu diesen Produkten gibt es oftmals keine Alternativen, was die Position der Schweiz stärkt. Zudem ist der Pharmasektor bis jetzt von den Zöllen ausgenommen, was nach meiner Einschätzung so bleiben dürfte. Ich traue den Schweizer Diplomaten zu, dass sie die «reziproken» Zölle weitgehend verhindern können, so dass am Ende lediglich der Zolltarif von 10 Prozent verbleibt.
Allerdings ist die Schweiz auf einem weiteren Gebiet verletzlich: Wenn der Dollar an Vertrauen verliert, fliesst viel Kapital in den Franken, was zu einer starken Aufwertung führt.
Für die Schweiz ist der Druck auf den Franken in der Tat die grössere Herausforderung als die Zölle.
Wenn die Schweizerische Nationalbank als Gegenmittel ausländische Devisen kauft, taxiert die US-Regierung dies als Währungsmanipulation. Teilen Sie diese Auffassung?
Das ist eine Frage der Definition. Praktisch jede Zentralbank interveniert auf gewisse Weise an den Finanzmärkten, um gegen die Turbulenzen an den Märkten vorzugehen. Der Mindestkurs von 1.20 Franken zum Euro stellte einen sehr systematischen Eingriff dar. Ein solcher Mindestkurs gegenüber dem Dollar würde von den USA sicherlich als Manipulation eingestuft. Für die Zollverhandlungen spielt die Frage der Devisenkäufe derzeit keine Rolle. Dieses Thema wird vermutlich nicht über Nacht aufs Tapet kommen. Doch die Nationalbank sollte trotzdem ausloten, über welchen Spielraum sie verfügt: Welche Interventionen werden toleriert, um Marktverwerfungen abzufedern, und ab wann besteht das Risiko, als Manipulator dazustehen?
Erwarten Sie, dass Donald Trump im Sommer, wenn die 90-Tage-Frist der sistierten Zölle ausläuft, den Handelsstreit erneut eskalieren lässt?
Er wird sich nicht getrauen, die Finanzmärkte ein weiteres Mal zu verschrecken. Denn er würde damit sein eigenes Vermächtnis aufs Spiel setzen. Stattdessen versucht er jetzt, die Vereinbarung als Erfolg zu vermarkten.
Gegenüber den Wählern hat er die Zölle stets als Heilmittel propagiert. Gilt das nun plötzlich nicht mehr?
Immerhin besteht weiterhin ein allgemeiner Zolltarif von 10 Prozent. Aber klar: Im Vergleich zu den 60 Prozent, die er ursprünglich für China im Visier hatte, ist das wenig. Doch Trump ist kein Dogmatiker, er handelt stets opportunistisch. Ihm geht es primär um die Schlagzeilen. Seine Story lautet, dass er für die Mittelklasse gekämpft und gegen die anderen Länder zurückgeschlagen habe. Damit möchte er seine Wählerschaft, die wütend ist, bei Laune halten. Im Kern dreht sich dieser Handelsstreit viel weniger um die ökonomische Logik als um die Emotionen im Volk.
«In den USA richtet sich die Abwehrreaktion primär auf den Handel. In Europa liegt der Fokus auf der Zuwanderung.»
Sie erwähnen die frustrierte Mittelklasse. Ein ähnlicher Unmut lässt sich in gewissen Teilen Europas beobachten. Wie erklären Sie das?
Die Entwicklung startete in den 1990er Jahren mit der Digitalisierung. Diese führte zu einem Globalisierungsschub. In der Folge haben Industriearbeiter einen Abstieg erlitten, während die gebildete Schicht mit einem höheren Einkommen profitiert hat. Ganze Branchen sind aus den USA in andere Länder wie China abgewandert. Die Politik hat diesen Schock in den USA sozial zu wenig abgefedert. In den USA richtet sich die Abwehrreaktion deshalb primär auf den Handel. In Europa dagegen liegt der Fokus auf der Zuwanderung.
Mit den Ergebnissen, die Trump bisher erreicht hat, kann er das Handelsbilanzdefizit der USA allerdings kaum senken.
Einverstanden. Trotzdem werden die USA ihre protektionistische Politik weiterführen. Denn die Zölle sind in der Bevölkerung sehr populär. Es wäre politischer Selbstmord, für eine Marktöffnung zu plädieren. Keine Partei – weder links noch rechts – wird dies tun.
Wenn aber das Handelsbilanzdefizit trotz den Zöllen bestehen bleibt: Steigt dann nicht der Druck auf Trump, das Defizit auf eine andere Art zu beseitigen?
Es gibt dazu beängstigende Vorschläge, die in der Regierung Trump kursieren. Ich spreche hier vom Konzept unter dem Namen Mar-a-Lago-Accord: Die USA könnten durch eine gezielte Schwächung des Dollars die Importe verteuern und die Exporte günstiger machen. Gleichzeitig könnten die Gläubigerländer dazu gezwungen werden, die US-Staatsanleihen zu schlechteren Bedingungen zu halten. Denkbar wäre, dass die USA die Laufzeiten verlängern oder den Zinssatz reduzieren. Ein solches Vorgehen könnte jedoch eine schwere Krise an den Finanzmärkten auslösen. Es würde das Vertrauen in den Dollar als globale Reservewährung erschüttern.
Glauben Sie, dass der Dollar an Wert verlieren wird?
In der kurzen Frist bestimmen die Überlegungen der Anleger den Wert des Dollars. Wenn diese wie jetzt in den USA eine Rezession für wahrscheinlich halten, revidieren sie ihre Zinserwartungen nach unten. Der Dollar wird schwächer. Aber in der längeren Frist muss der Dollar stärker werden, um den Zoll zu kompensieren und die Handelsbilanz zurück in ihr Gleichgewicht zu führen. Und in der noch längeren Frist wird auch der Status des Dollars als Weltwährung dessen Wert bestimmen. All die Unsicherheit in den USA, die grossen Defizite und die fragwürdige Wirtschaftspolitik, die wir jetzt sehen, unterminieren das Vertrauen in den Dollar. Anleger werden immer noch US-Staatsanleihen halten, aber ihr Status als sicherer Hafen wird geschwächt, und die dafür geforderten Renditen werden steigen.
Sie halten das Risiko für gering, dass das multilateral geprägte Welthandelssystem auseinanderbricht wie in den 1930er Jahren. Aber erleben wir nicht schon ein partielles Decoupling des Welthandels?
Die geopolitischen Spannungen, die digitale Disruption, Corona, all das hat zu der Einsicht geführt, dass die Welt nicht so sicher ist wie bisher angenommen. Viele Länder wollten deshalb mehr Medikamente, Mikrochips, aber auch Rüstung lokal produzieren. Und die Unternehmen kamen zu dem Schluss, dass sie ihre Lieferketten diversifizieren und resilienter aufstellen müssen.
Das allein muss noch nicht zur verstärkten Rivalität zwischen regionalen Blöcken führen, wie wir sie zwischen den USA, China und nun auch Europa sehen.
Ich sehe für die weitere Entwicklung des Welthandelssystems drei Szenarien: ein unsauberes Überleben, eine die Regeln ritzende Regionalisierung und eine Reglobalisierung ohne Amerika. Sie sprechen das zweite Szenario an: Jede der drei Mächte integriert sich stärker mit ihren Freunden und schliesst sich gegenüber dem Rest der Welt ab. Ich glaube nicht, dass es so endet, aber es ist eine unschöne Möglichkeit.
«Im Kern funktioniert die weltweite Güterproduktion wie ein Omelett. Sind die Eier einmal aufgeschlagen, lassen sie sich nicht mehr zurückerhalten.»
Wieso halten Sie dieses Szenario für nicht sehr wahrscheinlich?
Im Kern funktioniert die weltweite Güterproduktion wie ein Omelett. Sind die Eier einmal aufgeschlagen, lassen sie sich nicht mehr zurückerhalten. Aus diesem Grund bringen höhere Zölle zwischen Europa und China niemandem etwas. Man kann entscheiden, dass man ein paar Sektoren fördern will, um national unabhängiger zu werden. Aber um industriell zu prosperieren, muss man die besten Teile und Komponenten dort einkaufen können, wo sie hergestellt werden. Oft wird das in China sein.
Was ist, wenn sich China und Europa zu streiten beginnen, wie jetzt China und die USA?
Ich sehe nicht, wer ein Interesse daran hätte. China hat keines, Europa auch nicht. Wenn es zu einem Streit kommt, dann am ehesten zwischen den USA und dem multilateral organisierten Rest der Welt.
Glauben Sie, dass das jetzt passieren wird?
Die Entwicklung wird chaotisch verlaufen. Wir werden in den nächsten fünf Jahren Kaskaden von Protektionismus sehen. Da und dort kommt es zu Überkapazitäten und Dumping-Wettbewerb. Aber gleichzeitig entstehen mehr Freihandelsabkommen und übergreifende Handelsabkommen, so wie Grossbritannien dem transpazifischen Abkommen CPTPP beigetreten ist, obwohl es kein pazifischer Staat ist. Ausserhalb der USA wird man wieder dorthin kommen, wo man vor Corona war, als man verschiedene grosse Abkommen verhandelte. Das ist mein Szenario des unsauberen Überlebens des regelbasierten Welthandelssystems. Es könnte in eine Reglobalisierung ohne Amerika münden.
Das würde bedeuten: Trumps gegenwärtige Politik wird vor allem die Stellung Chinas in der Welt stärken – auf Kosten der USA.
Die Führungsrolle Amerikas ist schon vorher langsam erodiert. Trump hat das in einen Bergsturz verwandelt. Noch vor kurzem sah man die USA als Beschützer des internationalen Handelssystems. In bloss drei Monaten hat es Trump geschafft, die Rivalität zwischen den USA und China in einen Streit zwischen den USA und dem gesamten Rest der Welt zu verwandeln.
«In bloss drei Monaten hat es Trump geschafft, die Rivalität zwischen den USA und China in einen Streit zwischen den USA und dem gesamten Rest der Welt zu verwandeln.»
Manche erkennen in Trumps Politik die Einsicht, dass die USA nicht mehr die Kraft haben, eine globale Führungsrolle einzunehmen. Also zieht man sich auf sich selbst zurück.
Wenn das Trumps Ziel ist, dann verfolgt er es auf eine seltsame Art. Er erhöht Amerikas Verteidigungsausgaben. Wieso braucht er das, wenn er das weltweite Handels- und Finanzsystem nicht mehr verteidigen will? Mir scheint das keine durchdachte Politik zu sein. Ich fürchte, Trump ist in einem wütenden Revisionismus gefangen, der das Gefühl der Opferrolle politisch ausschlachtet.
Ein scharfer Beobachter und Analytiker
pfi. Richard Baldwin kommt leicht verspätet zum Gespräch. Der saudische Handelsminister habe noch etwas länger mit ihm reden wollen, erzählt er und lacht: «Das ist für mich fast wie Geburtstag und Weihnachten zusammen. Plötzlich interessieren sich alle für internationale Handelsfragen.» Der in Los Angeles geborene Wirtschaftsprofessor und Handelsexperte ist seit Jahrzehnten ein scharfer Beobachter und Analytiker in der internationalen Ökonomie. In unzähligen akademischen Artikeln, aber auch in seiner breiten Beratungstätigkeiten hat er frühzeitig auf Entwicklungen wie den sogenannten China-Schock oder die zunehmende Bedeutung des grenzüberschreitenden Dienstleistungshandels aufmerksam gemacht. Baldwin hält einen PhD vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo der Nobelpreisträger Paul Krugman seine Doktorarbeit betreute. Er lehrte an der Columbia University in New York und beriet Präsident George H. W. Bush, bevor er 1991 ans Genfer Graduate Institute wechselte. 2023 siedelte er als Professor für internationale Ökonomie an die IMD Business School nach Lausanne über. Seit 20 Jahren ist Baldwin Schweizer Staatsbürger. Er war Präsident der europäischen Ökonomenvereinigung CEPR und hat das Wirtschaftsportal Vox.EU.org gegründet. Baldwin ist auch Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher. Anfang Woche veröffentlichte er sein aktuellstes als E-Book unter dem Titel «The Great Trade Hack».
Werden die nächsten Wahlen in den USA zu einer Korrektur führen?
Ich denke, vor den nächsten Zwischenwahlen werden wir mehr Inflation statt der versprochenen Preisstabilität und einen Rückgang des Wirtschaftswachstums, vielleicht sogar eine Rezession in den USA sehen. Das wird einigen Unmut gegen Trump und seine Republikaner auslösen. Der Druck auf Trump wird steigen.
Sollten die Schweiz und der Rest der Welt darauf setzen und zuwarten?
In den gegenwärtigen Verhandlungen um die neuen Zölle lohnt es sich, das auszunutzen.
«Die USA sind für weniger als 15 Prozent des Welthandels verantwortlich. Was jetzt mit dem Welthandelssystem passiert, wird von den anderen 85 Prozent entschieden.»
Wie lautet ihre zentrale Botschaft an die führenden Politiker in der Welt?
Die USA sind für weniger als 15 Prozent des Welthandels verantwortlich. Was jetzt mit dem Welthandelssystem passiert, wird von den anderen 85 Prozent entschieden. Die führenden Politiker sollten sicherstellen, dass die USA das einzige Land bleiben, welches die WTO-Regeln systematisch verletzt. Wenn die anderen zumindest behaupten, sich weiter an die Regeln zu halten, wird das regelbasierte Welthandelssystem überleben.
Und was passiert mit den USA?
Ich glaube, der 2. April 2025, als Trump seine «reziproken Zölle» verkündete, wird sich als Wendepunkt in der Weltgeschichte herausstellen. Am 2. April hat das Ende der globalen Führungsrolle der USA begonnen.