Wenn sich J. D. Vance als Arbeiterführer empfiehlt, ist es an der Zeit für ein sozialpolitisches Lehrstück am Theater Neumarkt. «Klasse & Kitsch» entlarvt ideologische Klischees. Und zementiert selber einige.
Klassenkampf? Wer glaubt noch an Klassenkampf, Sozialismus, Kommunismus? War das nicht ein politisches Ammenmärchen von Karl Marx, in dem er der Menschheit den Himmel auf Erden versprach? Was hat er damit erreicht? Seine Adepten haben die Welt in die Hölle verwandelt. Zumindest in jenen Ländern, in denen sie die Macht ergriffen haben, um den Marxismus blutig zu falsifizieren.
Dass der Marxismus in der Mottenkiste der Geschichtsideologien gelandet ist, weiss auch die Autorin Hayat Erdogan. Und sie ist sich offenbar bewusst, dass unter Kitschverdacht steht, wer heute Partei ergreift für die Armen, um sie gegen die Reichen in Stellung zu bringen. «Klasse & Kitsch» lautet deshalb das Lehrstück über Klassenkämpfe der Gegenwart, das die Mitintendantin des Neumarkttheaters aus eigenen Texten und aus einem breiten Spektrum an Zitaten montiert – von der Bibel über J. D. Vance bis zum Rapper Disarstar.
Unvoreingenommene Kinder
Das Geschehen dieses Aufklärungstheaters lässt die Regie (Sophia Senn) von einem armen Mädchen anmoderieren und später aus dem Off kommentieren. Damit soll offenbar Objektivität suggeriert werden: Denn Kinderaugen schauen ohne Voreingenommenheit auf die Welt. Was die Kinderaugen nun tatsächlich sehen, ist die klaffende Ungleichheit.
Die einen nämlich leben im Paradies: ein wunderschöner Garten in «Herrlichberg» (Bühne: Noé Wetter) samt Zierpflanzen, Bäumen und einem plätschernden Brunnen. Ein Cellist (Janos Mijnssen) spielt Motive von Bach, Vivaldi und Mani Matter.
Und die Hausherrin in «Herrlichberg» (Sofia Elena Borsani), die an Silvia Blocher erinnert, aber Eva heisst, schwärmt von ihrem Park, den sie allerdings stets vor pflanzlichen Eindringlingen schützen müsse. Eine zweite Eva (Melina Pyschny) kann noch atemlos vom Luxus und von den Schönheiten berichten, die die paradiesische Villa berge. Bald aber wird Eva in den sauren Apfel der Erkenntnis beissen, was zu ihrer Vertreibung führt.
Die Evas finden sich wieder in der Stadt, wo sie in schlafloser Nacht über ihren Nöten brüten: Schulden, Krankheit, Wohnungsnot, Diskriminierung und soziale Scham. Die Evas mögen in unterschiedlichen Verhältnissen leben, ihre Probleme aber sind vergleichbar. Offenbar aber ist ihr sozialer Alltag durch Abschottung geprägt, nicht durch Solidarität. Die gebe es nur unter den Superreichen.
Wieso halten die Evas nicht zusammen, fragt man sich. Schuld daran sei – Achtung, Achtung! – die NZZ. Nicht die NZZ allein, sondern all jene liberalen Instanzen, die Ungleichheit als Motor des Wohlstandes sähen und den Unterprivilegierten einredeten, sie seien ihres Glückes Schmied.
Erdogans Stück nimmt sich aus wie ein dialektischer Dreischritt. Auf den Tag im Paradies und die Nacht im Elend folgt gleichsam der Morgen der Erkenntnis. Trotz schauspielerischer Verve der Protagonistinnen nimmt der dramaturgische Schwung dabei allmählich ab. Am Anfang ist’s am schönsten. In der letzten halben Stunde wird die knapp neunzigminütige Produktion etwas zäh.
Die heterogene Klasse der Unterprivilegierten
Über die Bühne spazierend, analysieren Eva und Eva die gesellschaftliche Wirklichkeit. Friktionen. Eine heterogene Klasse bildeten die Lohnarbeiter zwar noch immer. Aber sie seien sich dessen selbst nicht bewusst. Im Zeichen kapitalistischer Konkurrenz kämpft eben jeder gegen jeden. Umso mehr, als superreiche Machthaber ihnen einflüstern, dass sie Opfer anderer Minderheiten seien, dass ihnen Migranten, Queere oder Handicapierte vor der Sonne stünden.
Zuletzt wird die Bühne von einem Kinderchor in Beschlag genommen, der ein Revolutionslied anstimmt: «Rolex für alle!», wird gefordert. Den «Bonzen» soll es an den Kragen gehen. Das wirkt dann doch ziemlich kitschig.