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Er rang mit seinen Texten. Und wenn er mit der Feder nicht mehr weiterkam, nahm er das Messer zur Hand und zerschnitt, was sonst nicht ein Ganzes werden wollte.
Vermutlich hätte Franz Kafka die Vorstellung gefallen, spurlos zu verschwinden. Nichts sollte mehr an ihn erinnern, kein Nachruhm, kein Nachleben. Anders kann man seine berühmte letztwillige Verfügung, die er seinem Freund Max Brod hinterlassen hat, nicht deuten. Alles, ausnahmslos alles sei zu verbrennen nach seinem Tod, «und dies möglichst bald».
Sogar jene Bücher, die er gelten lassen wollte, sollten keinesfalls neu gedruckt werden. Er wolle zwar niemanden daran hindern, sie zu erhalten, «da sie schon einmal da sind». Sollten sie hingegen «ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch». Es kam anders. Max Brod wusste, was er seinem Freund schuldig war; und er wusste, was der Welt verlorenginge, hätte er Kafkas Verfügung befolgt.
Im Zusammenhang mit diesem Wunsch des vollständigen und spurlosen Verschwindens kann man sich vorstellen, dass ein Brief Franz Werfels auf Kafka weniger befremdlich gewirkt haben könnte, als er uns heute erscheint. Werfel hatte Kafkas «Die Verwandlung» gelesen und ihm darauf in einem Brief geschrieben: «Sie sind so rein, neu, unabhängig, und vollendet, dass man eigentlich mit Ihnen verkehren müsste, als wären Sie schon tot und unsterblich. So etwas fühlt man sonst bei keinem Lebenden.»
Bewusstloses Schreiben
«Kafkas Echo» heisst eine Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne in Marbach, die den Prager Schriftsteller im Kontext des literarischen Lebens seiner Zeit und der Nachwelt zeigt. Dass Werfel in seiner bizarren Ehrfurchtsgeste den Autor der «Verwandlung» schon zu Lebzeiten unter die Unsterblichen einreihen wollte, vermittelt eine Ahnung von der mitunter geradezu hysterischen Verehrung, die Kafka zuteilwurde. Sie fand indessen ihr Gegenstück in der ebenso unerbittlichen Ablehnung, die Kafka erleben musste.
Die Ausstellung folgt den Spuren solcher exaltierter Echos bis in die Gegenwart. Von Ilse Aichinger ist das Geständnis erhalten geblieben, dass sie nach der Lektüre einer einzigen Stelle in Kafkas Briefen ganz ergriffen den Entschluss fasste: «Solange ich atme, lese ich nicht weiter.» Und von Peter Handke ist aus dem Jahr 1983 folgendes um Mitternacht festgehaltenes Notat überliefert: «Ich hasse Franz Kafka, den ewigen Sohn (den ‹Söhnling›).»
Diese Emotionalität ist nicht nur Projektion, sie findet vielmehr ihr Gegenstück in Kafkas eigenen Überspanntheiten. Am 19. Dezember 1914 notiert er im Tagebuch: «Gestern den Dorfschullehrer fast bewusstlos geschrieben.» Doch die acht überlieferten Manuskriptblätter sind Fragment geblieben, Kafka hat die Erzählung nicht abgeschlossen. Ebenso bruchstückhaft hinterlässt er den im gleichen Jahr begonnenen Roman «Der Process».
Der Entstehungsprozess des Romans lässt die Schwierigkeiten wie zugleich die Kühnheit der Komposition erahnen. Kafka schreibt in zehn verschiedenen Heften vermutlich an mehreren Kapiteln simultan und fängt mit dem ersten und parallel dazu mit dem letzten an. Doch im Januar 1915 stockt die Arbeit, der Roman gelangt an kein Ende. Kafka bricht die Niederschrift ab. Stattdessen schneidet er die einzelnen Teile aus den Heften heraus und sortiert sie neu in sechzehn Konvoluten.
Entfesselungskünstler
Das rabiate Verfahren mutet wie eine Verzweiflungstat an. Indem das Werk zerschnitten wird, hofft der Autor auf seine Kraft als Entfesselungskünstler. Man kann daran das Prekäre dieses Schreibens erkennen. Es steht immer auf Messers Schneide, die Gefährdung mag zwar von aussen kommen, von der Familie, die ihn behelligt, von der Arbeit bei der Versicherungsgesellschaft, die ihm die Stunden des Tages raubt.
Doch auch in der Nacht und da erst recht fallen die inneren Dämonen über ihn her. Das alles spiegelt sich im «Process» selber wie zugleich in seiner Entstehungsgeschichte. Die Welt ist aus den Fugen, sie lässt sich nicht mehr als ein in sich geschlossener und stimmiger Roman erzählen. Das Scheitern ist dem «Process» inhärent. Zuletzt ist das Messer das einzige Werkzeug, das dem Dichter bleibt.
Nach der Niederschrift der «Türhüterlegende» notiert Franz Kafka am 13. Dezember 1914 im Tagebuch: «Zufriedenheits- und Glücksgefühl».
Darin findet eine Fremdheitserfahrung, die Kafka bereits als junger Mensch gemacht haben muss, ihren drastischen Ausdruck. An einer Stelle im «Brief an den Vater» resümiert er seine Schulzeit mit einem bemerkenswerten Bild: «Mich interessierte der Unterricht (. . .) etwa so wie einen Bankdefraudanten, der noch in Stellung ist und vor der Entdeckung zittert, das kleine laufende Bankgeschäft interessiert, das er noch immer als Beamter zu erledigen hat.»
Gilt das nicht auch und gerade für das Schreiben? Vielleicht muss man sich Kafka immer in der Ängstlichkeit dessen vorstellen, der jederzeit seine Demaskierung als Delinquent oder Hochstapler befürchtet. Und der seine Texte fast bewusstlos schreibt, also gleichsam wie ein Dieb oder aber wie das willenlose Medium einer göttlichen und jedenfalls himmlischen Offenbarung.
Lag es da nicht nahe, als eines der letzten Schriftstücke eine testamentarische Verfügung zu hinterlassen, eine späte Kostprobe eines Könnens, das den eigenen Ansprüchen nie genügen konnte? Es blieb nichts anderes, als über den Angeklagten die Höchststrafe zu verhängen.
Kafkas Echo. Literaturmuseum der Moderne, Marbach, bis 26. Januar 2025.