Es gibt immer mehr Polizisten in der Schweiz – und doch nehmen die Engpässe und Sicherheitsprobleme vielerorts zu. Untersuchungen decken zahlreiche Schwachstellen auf.
Für die Freizeitgesellschaft ist der European Song Contest (ESC) einer der Höhepunkte des Jahres 2025. Während einer Woche verwandelt sich die Stadt Basel in eine riesige Partymeile. Rund eine halbe Million Besucherinnen und Besucher aus ganz Europa werden erwartet. Doch Max Hofmann, Generalsekretär des Verbandes Schweizerischer Polizeibeamter (VSPB), sieht dem Anlass mit gemischten Gefühlen entgegen. Er weiss, dass für einen solchen Event Polizeikräfte aus der ganzen Schweiz benötigt werden: «Das gibt wieder Überstunden, die vielleicht nicht mehr abgebaut werden können.»
Die Klagen sind nicht neu. Seit Jahren beschweren sich die Polizeikorps in der Schweiz über eine permanente Überlastung. Erstaunlich, denn die Zahl der Polizistinnen und Polizisten ist in den letzten fünfzehn Jahren markant gestiegen: 2011 zählten Kommunal- und Kantonspolizeien 16 632 Polizistinnen und Polizisten. 2024 waren es 20 298, was einem Anstieg von mehr als 20 Prozent entspricht. Zählt man das nicht uniformierte Backoffice dazu, fällt der Anstieg sogar noch höher aus. Dies zeigen Zahlen der Konferenz der kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten. Nicht eingerechnet sind die Mitarbeitenden des Bundesamtes für Polizei (Fedpol).
Rund jede zwanzigste Stelle nicht besetzt
Doch trotz der Zunahme suchen viele Korps weiterhin nach Personal, wie eine Umfrage der NZZ zeigt. So sind alleine bei der Berner Kantonspolizei – umgerechnet auf Vollzeitjobs – rund 60 Stellen unbesetzt. Im Kanton Basel-Stadt fehlen rund 100 Polizistinnen und Polizisten. Aber auch in kleineren Kantonen herrscht Mangel: In Schaffhausen werden 12 Polizisten gesucht. In Glarus sind es 4, in Uri und in Neuenburg je 2. Auch wenn die absoluten Zahlen überschaubar erscheinen, deutet dies darauf hin, dass bis zu jeder zwanzigsten Stelle nicht besetzt werden kann.
Dies umso mehr, als auch bei den Gemeindepolizeien ein grosser Personalbedarf besteht. So hat die Aargauer Kantonspolizei zwar alle Stellen besetzt, aber bei den Regionalpolizeien sind über 60 Stellen offen. Das berichtete die «Aargauer Zeitung» kurz vor Weihnachten. Von den grossen Korps im Kanton Zürich ganz zu schweigen: Die Stadtpolizeien von Zürich und Winterthur mussten die Altersgrenze im Gegensatz zur Kantonspolizei aufheben, weil sie zu wenig Bewerbungen erhielten. Trotzdem fehlen bei den Stadtpolizeien von Zürich und Winterthur derzeit je rund 30 Polizisten.
Sozialer Kitt nimmt ab
Hauptgrund für den hohen Bedarf ist das Bevölkerungswachstum: Immer mehr Menschen leben in der Schweiz. Damit steigt auch die Zahl der Konflikte. Heute kommen in der Schweiz auf einen Polizisten 467 Einwohner. 2021 betrug dieses Verhältnis noch 1 zu 446, in den EU-Ländern liegt es im Schnitt sogar unter 1 zu 300. Nimmt man dieses Niveau als Massstab, so fehlen in der Schweiz nicht Hunderte, sondern sogar Tausende von Polizistinnen und Polizisten.
Die demografische Entwicklung mit vielen Pensionierungen in den nächsten Jahren wird voraussichtlich zu noch grösseren Engpässen führen. Und weil der grösste Teil des Bevölkerungswachstums auf die Zuwanderung zurückzuführen ist, aber die meisten Korps nur Personen mit Schweizer Pass aufnehmen, wird sich der Fachkräftemangel noch verschärfen.
Gleichzeitig führen gesellschaftliche Entwicklungen dazu, dass die Aufgaben der Polizei zunehmen und komplexer werden. Die Entwicklung hin zur 24-Stunden-Gesellschaft wird sich beschleunigen. Polizeibeamte sind vermehrt in den Abend- und Nachtstunden gefordert. Zudem nimmt der soziale Kitt in der Gesellschaft ab, ebenso der Respekt gegenüber staatlichen Organen. Dies führt zu einem erhöhten Bedarf an polizeilicher Präsenz. Hinzu kommt gemäss einer Aussage aus Appenzell Ausserrhoden eine starke Zunahme von Fällen mit psychisch auffälligen Personen. Nicht zuletzt binden professionelle Einbruchsbanden und Kleinkriminelle aus Nordafrika viele Ressourcen.
Work-Life-Balance auch bei der Polizei gefragt
Mit den steigenden Anforderungen an den Polizeiberuf werde auch die Rekrutierung immer schwieriger und komplexer, sagt Adrian Gaugler von der Kantonspolizei Basel-Landschaft. Die Polizeiarbeit wird von Mitarbeitenden geleistet, die wie ihr Umfeld immer mehr Wert auf eine ausgewogene Work-Life-Balance legen. Gleichzeitig nimmt die Attraktivität des Schichtdienstes ab. «Die Belastung durch unterschiedliche Arbeitszeiten und Nachtarbeit ist nicht jedermanns Sache», stellt die Kantonspolizei Uri fest. Flexible Arbeitsmodelle, die mehr Personal erfordern, sind auch bei den Polizeikorps gefragt. Und nach wie vor kämpft die Polizei mit Imageproblemen: Das Ansehen schwindet, nicht zuletzt aufgrund der kritischen Darstellung des Polizeiberufs in der Öffentlichkeit.
Weil alle Korps vor ähnlichen Problemen stünden, werde die Lage wohl noch schwieriger werden, prognostiziert ein Sprecher der Kantonspolizei Solothurn. Laut dem VSPB-Generalsekretär Hofmann hat die Polizei dabei gegenüber der Privatwirtschaft oft das Nachsehen, weil dort die Attraktivität – Löhne, Arbeitsbedingungen oder Work-Life-Balance – höher ist. Bei der Besetzung von Stellen mit Spezialisten in den Bereichen Informatik, Forensik und Ermittlung könne die Polizei mit den Löhnen der Privatwirtschaft schlicht nicht mithalten, stellt die Zuger Kantonspolizei fest. Dies in einer Zeit, in der sich die Kriminalität zunehmend in den virtuellen Raum verlagert.
Als Folge müssen viele Polizeikorps ihre Leistungen punktuell zurückfahren. So sorgte der Kanton Luzern vor anderthalb Jahren für Schlagzeilen, als er wegen eines internationalen Fussballspiels Einsatzkräfte bündeln musste und deshalb für drei Tage sämtliche Polizeiposten schloss. Und nachdem im aargauischen Fricktal gleich mehrere Polizisten gekündigt hatten, erklärte die Aargauer Regierung kürzlich im Parlament, sie teile die Einschätzung, wonach die Sicherheit dort «aufgrund der Bestandesentwicklung nicht mehr im erforderlichen Ausmass gewährleistet sein könnte».
Zürich muss in Basel aushelfen
Der Konkurrenzkampf zwischen den Kantonen hat sich denn auch massiv zugespitzt. Mehrere Polizeien bestätigen auf Anfrage, dass gewisse Korps seit einigen Jahren dazu übergehen, Personal gezielt in anderen Kantonen oder Gemeinden abzuwerben. Ein Gentlemen’s Agreement, das solche Praktiken verhinderte, gilt seit einigen Jahren nicht mehr. Vor allem Kantone mit vergleichsweise tiefen Löhnen geraten noch stärker unter Druck.
So sind nicht alle Kantone in gleichem Mass vom Personalmangel betroffen. Die Kantonspolizei Zürich hat nach eigenen Angaben derzeit alle 2317 Korpsstellen besetzt und verfügt über genügend Bewerbungen, um auch die beschlossene Aufstockung des Korps um 108 Stellen bis Anfang 2027 zu realisieren. Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr führt dies auf den starken politischen Rückhalt in Kantons- und Regierungsrat sowie auf die Attraktivität der Zürcher Kantonspolizei mit ihrem breiten Berufs- und Weiterentwicklungsangebot zurück: «Die meisten Mitarbeitenden können ihre Funktion innerhalb der Kapo fünf- bis sechsmal wechseln», erklärt Fehr.
Bezeichnenderweise muss der frühere Chef der Zürcher Kantonspolizei, Thomas Würgler, als Interimskommandant nun dort Probleme lösen, wo sie derzeit am grössten sind – in Basel-Stadt. Ein 2024 veröffentlichter Bericht deckte gravierende Mängel auf: So konnte die Polizeiführung nicht einmal sicherstellen, dass die Beamtinnen und Beamten mindestens zehn arbeitsfreie Wochenenden pro Jahr geniessen konnten. Auch seien die Polizistinnen und Polizisten zunehmend mit Gewalt, Verletzungen und Tod konfrontiert, während sie gleichzeitig offene Feindseligkeit aus der Bevölkerung erlebten, heisst es in dem Bericht. Dabei fehle es intern an Wertschätzung und angemessener psychologischer Betreuung, so dass die Mitarbeitenden mit diesen Belastungen oft alleingelassen würden.
Klumpenrisiko in Obwalden
Auch wenn solche Aussagen in ihrer Deutlichkeit einmalig sind, so sind sie doch ein Alarmsignal für die Polizeiarbeit insgesamt. So zeigt ein bisher unveröffentlichter Bericht aus dem Kanton Obwalden, wohin die sich öffnende Schere zwischen steigenden Ansprüchen und fehlendem Personal bei der Polizei führen kann. Dort hat die Regierung Aufgaben und Organisation der Kantonspolizei 2023 durch ein externes Beratungsbüro durchleuchten lassen. Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz konnte die NZZ den Bericht einsehen.
Er macht deutlich, dass auch das kleinste Polizeikorps des Landes (rund 66 Vollstellen bei 38 700 Einwohnern) mit zahlreichen Problemen kämpft. In Obwalden sind an den meisten Wochentagen nur während 20 von 24 Stunden Patrouillen aktiv im Dienst. Bei Ereignissen ausserhalb dieses Zeitfensters müssen Einsatzkräfte aus dem Pikettdienst aufgeboten werden. Aus Gründen der Vertraulichkeit enthält der Bericht keine Angaben zur Patrouillenpräsenz in den Kantonen Nidwalden, Schwyz, Luzern, Glarus und Appenzell Ausserrhoden, die das Büro Ecoplan als Vergleichsgrössen genommen hat. Obwalden bewege sich jedoch am unteren Rand. Aber auch andere Kantone machten «risikobasierte Abstriche» bei der Patrouillendichte.
In Sachen Kriminalitätsbekämpfung schlagen die Experten erst recht Alarm. Denn für IT-Ermittlungen und Cyberkriminalität ist im gesamten Polizeikorps nur gerade eine Person zuständig. Der Bericht spricht unumwunden von einem «Klumpenrisiko». Dramatisch ist die Situation auch im Bereich Wirtschaftskriminalität, der ebenfalls nur von einer Person bearbeitet wird. Das ist alarmierend für die Sicherheit des ganzen Landes, denn Cyberkriminelle und international agierende Banden nutzen solche weissen Flecken auf der Landkarte gezielt aus.
«Widerwärtigkeiten für den pflichttreuen Mann»
Bei grösseren Fällen stosse die Kapo Obwalden heute rasch an ihre Kapazitätsgrenzen, dies führe zu Verzögerungen. Ermittlungen könnten nicht mehr in der angemessenen Tiefe durchgeführt werden, mahnt Ecoplan. Weil Obwalden ein Tiefsteuerkanton ist und zahlungskräftige Privatpersonen sowie Unternehmen anlockt, ist das besonders beunruhigend. Bereits heute ist in Obwalden die Häufigkeitsdichte (Straftaten nach Strafgesetzbuch absolut und relativ zur Bevölkerung) gemäss dem Ecoplan-Bericht höher als in vergleichbaren Kantonen.
Die Obwaldner Regierung ist sich sehr wohl bewusst, dass die Kantonspolizei überlastet ist, immer mehr ins Hintertreffen gerät und als Kooperationspartner immer unattraktiver wird. Trotzdem wollte sie den Bestand für das Jahr 2025 nur gerade um eine Stelle aufstocken. Das Parlament zeigte sich im Dezember 2024 grosszügiger und bewilligte drei neue Stellen. Gemäss dem Ecoplan-Bericht wäre bis 2028 aber eine Aufstockung um 14 Stellen oder mehr als 20 Prozent nötig – nur schon um das heutige System zu stabilisieren und die dringendsten Herausforderungen meistern zu können.
So bleibt vielen Polizistinnen und Polizisten vorderhand nur ein kleiner Trost: Die Klage über die ständige Unterbesetzung ist so alt wie die Polizei selbst. Bereits in einem Basler Gesetzesentwurf aus dem Jahre 1871 umschreibt die Regierung jene Probleme, die sich heute wieder ganz ähnlich stellen: «Der Polizeidienst hier in der Stadt ist meist missachtet und für den pflichttreuen Mann mit Widerwärtigkeiten verbunden, während er auf dem Land viel angenehmer ist. Das wissen aber alle Aspiranten, wenigstens die intelligenten, genau und wägen es ganz gehörig ab, bevor sie sich entschliessen, nach Basel zu gehen.»