Jörg Wuttke, Partner der Beratungsagentur DGA und früherer Präsident der EU-Handelskammer in China, spricht über die Handelskriege von Donald Trump, die Resultate des Nationalen Volkskongresses in Peking sowie die Rolle, die Europa künftig einnehmen kann.
English version
Die Welt ist in Aufruhr. US-Präsident Donald Trump, kaum acht Wochen im Amt, überzieht Alliierte und Gegner mit Strafzöllen, verunsichert die heimische Wirtschaft und provoziert einen Einbruch des amerikanischen Aktienmarktes.
In Europa versucht Deutschlands künftiger Bundeskanzler Friedrich Merz, riesige Investitionen in Infrastruktur und Verteidigung anzustossen. In China traf sich die Parteielite derweil zum jährlichen Nationalen Volkskongress, an dem die Wirtschaftsziele für das laufende Jahr präsentiert wurden.
Jörg Wuttke kann alle drei Perspektiven einnehmen. Der Deutsche lebte mehr als drei Jahrzehnte in China, präsidierte die EU-Handelskammer und arbeitet seit einem guten halben Jahr als Berater in Washington. Im Gespräch mit The Market teilt er seine Einschätzung zur Wirtschaftslage in China, interpretiert Trumps wirre Zollpolitik und sagt, was die Europäer jetzt tun sollten.
Herr Wuttke, in China ist diese Woche der Nationale Volkskongress zu Ende gegangen. Die Regierung hat für 2025 ein Wachstumsziel von 5% gesetzt. Welche Punkte an den Ankündigungen aus Peking haben Sie überrascht?
Es war der Nationale Volkskongress, aber es fühlte sich so an, als wäre es der Nationale Technologiekongress. China hat durch DeepSeek eine Riesenportion Selbstbewusstsein getankt. Das schimmerte bei allen Erklärungen durch. Das ist eine gute Sache, es ist stimmungsfördernd. Man hat den Eindruck, sie haben den Abstand zu den USA in einzelnen Tech-Bereichen nicht nur verringert, sondern gar eingeholt. Und zwar auf eine Art und Weise, die auch Europa inspirieren sollte. Man muss nicht 500 Mrd. $ auf den Tisch legen, um in der Topliga zu spielen, es geht auch anders. Das war durchsetzt von einem Optimismus, den ich in China schon länger nicht mehr gesehen habe.
Was halten Sie vom Wachstumsziel?
Die 5% sind eine Kopie des vergangenen Jahres. Aber das ist völlig unrealistisch. Chinas Wirtschaft ist 2024 nicht 5% gewachsen, und sie wird auch dieses Jahr nicht 5% wachsen. Nicht die Zahl ist wichtig, sondern die Botschaft: Stabilität. Sie haben endlich auch zugestanden, dass sie in einem deflationären Umfeld stecken, und die Regierung hat das Inflationsziel auf 2% angepasst – wenngleich auch das unrealistisch ist. Das deutlichste Signal, dass sie die Wirtschaft stärker unterstützen wollen, liegt in der Ankündigung, dass das Fiskaldefizit auf 4% des Bruttoinlandprodukt steigen soll, verglichen mit 3% im Vorjahr. Es geht dabei aber nicht primär darum, den Konsum zu stimulieren, sondern um die Sanierung der Finanzen der Lokalregierungen. Zudem: Die Zentralbank wird die Geldpolitik weiter lockern. Der Dollar wertet sich für China glücklicherweise jetzt ab, was bedeutet, dass auch die People’s Bank of China lockern und den Renminbi etwas abwerten kann. Für die europäische Wirtschaft wird das eine Herausforderung, da chinesische Produkte auf den Weltmärkten noch günstiger werden.
Was halten Sie von der Aussage von Premier Li Qiang, den Konsum «rigoros» anzukurbeln? Sind das leere Worte?
Es ist als Botschaft wichtig, aber es hat keinen Unterbau. Sie legen 300 Mrd. Yuan zur Seite, um den Konsum anzukurbeln. Aber das ist primär für ein Programm, bei dem man alte Haushaltsgeräte abgeben und dafür mit Rabatt neue kaufen kann. Das ist sicherlich hilfreich, aber damit wird eigentlich bloss zukünftiger Konsum vorweggenommen. Es wäre sehr viel wichtiger, dass die Unterschichten endlich mehr Geld in die Taschen bekommen. Aber dazu habe ich nichts gesehen. Richtig grosse Reformschritte sehe ich von der Parteiführung nicht. Es wird keine Bazooka-Stimulanz geben. Das gibt das Budget nicht mehr her. Notwendig wäre, dass Peking eine Konsolidierung in der heimischen Unternehmenslandschaft zulässt. Die Zahl der Automobilhersteller zum Beispiel sollte von heute 140 auf vielleicht zwanzig sinken. Das würde dafür sorgen, dass die Unternehmen auch Geld verdienen können.
Würden Sie sagen, Chinas Binnenkonjunktur hat wenigstens den Boden erreicht?
Wir sehen gute Nachrichten im Sekundärmarkt für Immobilien. Da ist wieder Bewegung drin, die Zahl der Kauftransaktionen steigt leicht. Im Bau von neuen Immobilien ist wenig zu sehen, aber der Boden ist zumindest erreicht worden. Punkto Bau-Aktivität liegen wir heute etwa auf dem Niveau von 2010, was etwa 40% des Niveaus des Jahres 2019, unmittelbar vor Ausbruch der Covid-Pandemie, entspricht. Aber ich sehe immer noch sehr viel Pessimismus in der Bevölkerung. Die Menschen haben eine Abwartehaltung, das gilt für den Konsum wie auch im Leben: Die Geburtenrate liegt bei 1,1 Kindern pro Frau, in Städten wie Schanghai sind es sogar nur 0,6. Ein Land braucht 2,1, um die Bevölkerung stabil zu halten. Das zeigt nichts anderes als eine Art Verweigerungshaltung bei den Familien, sich für die Zukunft zu entscheiden. Die Scheidungsrate ist im vergangenen Jahr um 20% gestiegen. Das Land leidet unter grossem sozialem Stress. Wenn ich das grosse Bild zu Chinas Wirtschaft skizziere: Es wird nicht mehr dunkler, aber es hellt nur an einigen Ecken auf.
Sie haben den Optimismus im Tech-Sektor angesprochen. Im Februar traf sich Parteichef Xi Jinping in Peking an einem Symposium mit ausgewählten Unternehmern, darunter auch Alibaba-Gründer Jack Ma. Wie muss man diese Symbolik einschätzen?
Das war sehr wichtig als Botschaft an die Privatunternehmer. Die Frage, die natürlich viele dieser Unternehmer jetzt haben: Ist das nachhaltig, dass es besser wird? Werden die willkürlichen Steueruntersuchungen eingeschränkt, die Audits, die oft nur dazu dienten, Geld für die Lokalregierungen abzuzweigen? Können die Unternehmer vermehrt selbst entscheiden, wo sie investieren sollen? Werden die Kapitalbeschränkungen etwas lockerer? In China ist der Wettbewerb brutal, viele Unternehmen möchten gerne im Ausland investieren, weil sie dort höhere Margen erwirtschaften können. Das Treffen mit Xi ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es fehlt noch die Überzeugung dahinter.
US-Präsident Trump ist seit knapp acht Wochen im Amt, und er hat schon in zwei Schritten die Importzölle gegen China erhöht. Wie hart trifft das die chinesische Wirtschaft?
Die USA importieren Güter im Wert von 550 Mrd. $ aus China, die jetzt mit Zöllen von insgesamt rund 30% belegt werden. Das ist eine Menge Geld, die die USA damit einnehmen. Die Kunst von Trump ist ja, seiner eigenen Bevölkerung die Illusion zu verkaufen, als käme dieses Geld aus dem Ausland, als würden die Chinesen dafür bezahlen. Das ist natürlich überhaupt nicht der Fall. Es sind die Amerikaner, die diese Zölle bezahlen. Sie bezahlen mehr für alles. Hier in meiner Nachbarschaft gibt es einen Laden, der Küchen- und Gartengeräte verkauft. Ich habe den Eigentümer gefragt, wie gross der Anteil der Waren in seinem Sortiment ist, der aus China kommt. Was denken Sie, war seine Antwort?
75%?
90%. Der schlägt jetzt einfach zusätzliche 20% auf seine Verkaufspreise. Die Zollpolitik von Trump wird die Inflation in den USA signifikant anheizen.
Die Vergeltungsmassnahmen von Seiten Pekings sind bislang relativ bescheiden. Wie ist das zu interpretieren?
Der eine geht mit dem Vorschlaghammer zu Werk, die Chinesen benutzen die Akupunkturnadel. Peking hat durchaus Gegenmassnahmen beschlossen, aber sehr zielgerichtet. Das lässt Raum für Verhandlungen, lässt aber auch Raum für Eskalation.
Wie geht es jetzt weiter?
Die grosse, für mich ungelöste Frage ist die: Werden chinesische Unternehmen willkommen geheissen, in den USA zu investieren? Das wäre das Beispiel Japans in den 1980er-Jahren: Japanische Autohersteller wurden damals gezwungen, in den USA zu produzieren. Das haben sie so gut gemacht, dass heute der Lokalanteil japanischer Autos in Amerika höher ist als von amerikanischen Marken wie GM und Ford. Chinesische Unternehmen aus Bereichen wie Automobil, Batterien oder Chemie würden liebend gerne in Amerika investieren und produzieren. Aber wird das die Trump-Regierung erlauben? Das ist noch offen. Es ist alles sehr verworren. Das grosse Stadtgespräch in Washington ist derzeit, wann sich Trump und Xi das erste Mal treffen.
Was die Zollpolitik betrifft, geht Trump extrem hart und erratisch gegen Kanada und Mexiko vor. Was ist die Logik dahinter?
Er betreibt Dealmaking wie ein New Yorker Immobilieninvestor. Er versucht immer, völlig überrissene Forderungen zu stellen und seine Gegenpartei zu verunsichern. Mexiko und Kanada sind für mich Teil einer breiten Anti-China-Politik. Trump will, dass beide Nachbarn dieselben Importhürden gegen chinesische Produkte aufbauen, damit diese nicht durch die Seitentür nach Amerika reinkommen. Trump will, dass eine nordamerikanische Einheit gegen China entsteht. Er will eine Zollmauer, die überall gleich hoch ist und damit den Chinesen das Leben schwer macht. Er will keine chinesischen Investitionen in Mexiko mehr sehen. Am Ende werden die Mexikaner das akzeptieren müssen, weil der Zugang zum US-Markt für sie viel wichtiger ist. Deshalb treibt Trump die Kanadier und Mexikaner so vor sich her. Dabei weiss er natürlich auch, dass aus Mexiko pro Jahr 1 Mio. GM-Autos importiert werden. So schnell kann GM die Produktion gar nicht in die USA verlagern, die haben weder die Anlagen noch die Leute dazu. Aber er will die Chinesen aus seinem Hinterhof drängen. In Washington und in der gesamten Bevölkerung herrscht eine extrem antichinesische Haltung.
Und wie sind seine Tiraden gegen Europa zu deuten?
Grundsätzlich fällt mir auf, dass in Washington keine besonders positive Stimmung in Bezug auf Europa herrscht. Niemand macht sich bei Trump für die EU stark. Deshalb bremst ihn niemand, wenn er gegen die EU einen Handelskrieg vom Zaun reisst. Aber da muss Trump auch aufpassen, zumal die EU zurückfeuern kann. Europa ist mit Abstand der grösste Kunde für Flüssigerdgas aus den USA. Trump behauptet auch immer, die Amerikaner hätten ein Handelsdefizit mit den Europäern. Aber wenn man sich die Dienstleistungen anschaut, dann hat Europa ein Handelsdefizit mit den USA. Güter und Dienstleistungen zusammengenommen sind im Gleichgewicht. Aber Trump denkt eben in 1970er-Dimensionen, er sieht nur Handelsgüter wie Autos und so weiter. Er sieht nicht, wie wichtig Europa für die amerikanische Serviceindustrie ist.
Sicherheitspolitisch hat Trump die Europäer bereits in den Senkel gestellt.
In diesem Punkt gebe ich ihm sogar recht. Das hat er schon in seiner ersten Amtszeit immer wieder gesagt. Die Europäer als Nutzniesser der amerikanischen Schutzpolitik haben ihn ignoriert. Trump hat die klare Meinung, dass die Europäer mehr für ihre eigene Verteidigung unternehmen müssen. Das hat man jetzt endlich auch in Deutschland gemerkt. Das vom künftigen Bundeskanzler Friedrich Merz vorgestellte Programm spricht genau dieses Problem an. Was den Europäern verständlicherweise grosse Mühe bereitet, ist diese bizarre ‹Bromance›, die Trump für Putin verspürt.
Was hat es damit auf sich?
Er hat schon immer eine grosse Vorliebe für Putin gezeigt. Man merkt ja manchmal in der Mimik seiner Leute, dass die auch nicht richtig nachvollziehen können, was Trump mit Moskau verbindet. Ich begreife es nicht. Er gewinnt ja nichts, wenn er Russland alles gibt. Was bekommt er? Natürlich fragen sich einige Leute hier in Washington auch, wie Trump denn agieren wird, wenn er Xi Jinping trifft, den er offenbar auch bewundert. Wird er Xi auch einfach alles geben? Eine seiner ersten Amtshandlungen war ja, dafür zu sorgen, dass TikTok in den USA nicht der Stecker gezogen wird. Ich bin sehr gespannt auf das erste Treffen zwischen Trump und Xi.
Manchmal ist von der ‹Reverse Nixon›-Theorie zu lesen: Könnte Trump versuchen, Putin auf die Seite des Westens zu ziehen und einen Keil zwischen Moskau und Peking zu treiben?
Das wird in Peking in einigen Kreisen diskutiert, aber davon halte ich überhaupt nichts. Die Chinesen brauchen sich da keine Sorgen zu machen. Die Russen wissen genau, wie unzuverlässig Trump ist und wie verlässlich die Chinesen in den letzten Jahren waren. Es ist illusorisch zu glauben, dass Trump eine Spaltung zwischen Moskau und Peking hinbekommt.
Trump hat sich bereits abschätzig gegenüber Taiwan geäussert. Sie hätten die Chipindustrie der Amerikaner geklaut und bezahlten nichts für ihre Sicherheit. Wie wird das in China registriert?
Mit grossem Vergnügen. Alles, was Trump macht, wird in China mit grossem Vergnügen registriert, ausser den Zöllen und Exportbeschränkungen gegen China. Man muss sehen, ob er auch Amerikas Allianzen im asiatisch-pazifischen Raum – AUKUS mit Australien und Grossbritannien, oder die Quad mit Indien, Japan und Australien – schwächt. Amerika im Selbstzerstörungsmodus kommt in Peking gut an. Da ist man durchaus auch gewillt, etwas Schmerzen zu ertragen. Ich höre aber, dass einige der Berater von Trump ihm schon klar gemacht haben, dass Taiwan wichtig ist. TSMC investiert nun weitere 100 Mrd. $ in Amerika. Das führt natürlich in Taipeh auch zu Stirnrunzeln, denn die Idee des «Silicon Shield» basiert auf der Tatsache, dass Taiwan als Lieferant der Top-End-Halbleiterindustrie nicht zu ersetzen ist. Falls es hart auf hart kommt, denke ich, dass sich im Kongress mehr Leute für Taiwan einsetzen werden als für die EU.
Sie haben den Investitionsplan von Friedrich Merz angesprochen. Europa will investieren, in die eigene Infrastruktur und in die Rüstung. Wie blicken Sie als Deutscher, der lange in China gelebt hat und jetzt in Washington wohnt, auf Europa?
Merz hat absolut die richtigen Schlüsse gezogen. Europa zuerst. Er sagt, wir müssen in die Zukunft investieren und dabei auch Schulden aufnehmen. Das ist volkswirtschaftlich sinnvoll, auch deshalb, weil Deutschland relativ gering verschuldet ist. Er arbeitet daran, die Schiene nach Frankreich zu reparieren, die unter seinem Vorgänger sehr gelitten hat. Europa muss einen gemeinsamen Tenor bekommen. Auch das Thema Immigration hat Merz klar erkannt. Die Regierungen müssen das angehen, um den Extremisten das Wasser abzugraben. Das wird alles nicht einfach, und es wird teuer. Aber im Prinzip zeigt Merz, dass der Draghi-Report, den der ehemalige EZB-Vorsitzende Mario Draghi 2024 vorgestellt hat, nicht nur wahrgenommen, sondern auch umgesetzt wird. Europa muss merken, dass seine Einflussmöglichkeiten in China und in Amerika extrem begrenzt sind. Das Einzige, was die Europäer entscheidend verändern können, ist ihre Einstellung zur eigenen Wirtschaft. Sie müssen es für Unternehmen einfacher machen, sich zu entfalten und zu investieren.
Jörg Wuttke