Die Stadt Kupjansk ist Ziel einer russischen Offensive in der Ostukraine. Die Verteidiger stehen unter Druck und bunkern sich ein. Doch das Schicksal der Stadt hängt nicht alleine von den neuen Stellungen ab.
Wenn es bei Kupjansk Katzen hagelt, ist das ein guter Tag für die ukrainischen Frontsoldaten. «Die Lage ist wunderbar», verkündet der Mann mit dem Kampfnamen Promin, der uns mit schwarzem Humor an einer der vordersten Stellungen empfängt. «Das Wetter ist scheisse. Aber wir werden nicht beschossen.» Bei zwei Grad plus mag der gefrierende Regen in Strömen fliessen und den Schnee am Boden in glitschigen Matsch verwandeln. Doch immerhin fliegen keine Drohnen.
An einem sonnigen Tag sehen die unbemannten Flugobjekte fast alles. Sie sind dann zu Hunderten unterwegs, geben die Koordinaten feindlicher Ziele an die Artillerie weiter oder bombardieren sie gleich selbst. An einem solchen Tag wäre die Fahrt zur vordersten Linie lebensgefährlich: Nur etwa 2 Kilometer entfernt stehen die Russen.
Trügerische Ruhe an der Front von Kupjansk
Heute knallt und grollt es rundherum zwar ständig. Doch Promin, übersetzt «Lichtstrahl», sitzt jetzt nicht in seinem schlammigen Schützengraben, sondern posiert stolz auf dem Feld davor. In der rechten Hand hält er seine Maschinenpistole, in der linken die Schrotflinte, die er «Mawka» getauft hat, nach einem Fabelwesen. Er macht damit Jagd auf russische Drohnen. Getroffen hat er aber noch keine.
Auch wenn der junge Mann sich freut und witzelt, dass Russlands Artillerie heute «kein Futter» erhält, wirkt er nervös. Seine Stimmung kippt mehrfach innert Sekunden, von demonstrativer Offenheit zu einer fast paranoiden Angst. «No face!», herrscht er den Fotografen an, obschon die Regeln allen klar sind. Einen Moment lang wirkt Promin etwas unheimlich, bevor seine Jovialität zurückkehrt. Sein Alter muss ebenso ein Geheimnis bleiben wie seine Militärkarriere. Der Frieden im Dauerregen ist trügerisch.
Der Frontabschnitt ist ebenso unberechenbar. Die Russen, das sagen Kämpfer wie Analytiker, ziehen Truppen zusammen. Die ukrainische Militärführung tut nun das, was Experten seit eineinhalb Jahren fordern: Sie befestigt die Verteidigungslinien. Es ist ein Eingeständnis, dass keine weiteren Gebietsgewinne absehbar sind – in einer Region, deren Befreiung im Herbst 2022 Hoffnungen auf eine Rückeroberung des Donbass weckte.
Nun steht der Unteroffizier mit dem Nom de Guerre Kusja an der Hauptstrasse und blickt auf die sogenannten Drachenzähne daneben. Fünf Reihen dieser Befestigungen aus Beton stehen parallel zum Asphalt, dazwischen liegt Stacheldraht. «Das ist nur die Sperre, die Sie sehen», erklärt der bullige 51-Jährige. In den Feldern rundherum haben die Genietruppen der 113. Landwehrbrigade aus Charkiw Minenfelder gegraben. «Das Ziel ist es, die Russen hier zu stoppen, damit wir sie unter Beschuss nehmen und zum Gegenangriff übergehen können.»
Kusja selbst sieht eher wie ein gemütlicher Onkel aus als wie der Mann für Sturmangriffe. Er nimmt das mit Humor und trägt ein Abzeichen mit der Aufschrift «Starpjori». Das Phantasiewort kombiniert die ukrainischen Ausdrücke für «Sappeur» und «alter Sack». Die Befestigungen in der Region kennt er aber so gut wie kaum jemand. Seit Monaten erstellt sein Bataillon neue, meist nachts, weil die Drohnen dann weniger sehen. «Mehr als ein Bagger auf einmal geht nie raus, und auch die werden angegriffen.» Einen habe eine Granate getroffen, er liege noch immer dort im Feld, sagt der bärtige Mann mit einer unbestimmten Handbewegung.
Befestigung der Front im Osten und Süden
Rund um Kupjansk errichtete die 113. Brigade Dutzende Kilometer neuer Sperren und Schützengräben. Die Ukraine forciert deren Bau seit Ende November 2023 entlang der gesamten Front. Im Fokus stehen die labilen Linien in den Gebieten Charkiw und Saporischja.
Die Taktik der «strategischen Verteidigung» hat Kiew teilweise bei Moskau abgeschaut. Im Süden gelang es den Russen letztes Jahr, mit dem Bau verschiedener Verteidigungslinien Kiews Gegenoffensive im Keim zu ersticken. Die Ukrainer hatten ihre Stellungen lange nur behelfsmässig befestigt, was wiederholt zu Gebietsverlusten führte.
In Kupjansk bildet der Fluss Oskil eine natürliche Sperre. Die Spuren der Kämpfe von 2022 sind bis heute sichtbar: Von vielen Dörfern in der Gegend sind nur Ruinen übrig, am Wegrand stehen zerschossene Fahrzeuge. Über den Oskil führt weiterhin nur eine behelfsmässige Brücke. Die Strasse am Ufer ist eine Schlammpiste voller Krater, auf der Pick-ups und Mannschaftstransportwagen aneinander vorbeirasen.
Östlich des Flusses gibt es kaum noch Zivilisten, dafür aber alle 500 Meter Schützengräben. Sie sind schmal und meist mit Holzplatten befestigt, Bunker aus Beton sind so nahe an der Front die absolute Ausnahme. Blachen an den Eingängen zu den Tunneln dienen als Schutz vor Nässe und Kälte, in regelmässigen Abständen wurden Schiessscharten eingebaut. Die Soldaten und Unteroffiziere schlafen in Räumen mit einem warmen Ofen und Kajütenbetten.
Kupjansk besitzt für beide Seiten grosse Bedeutung
Viele Angehörige der Landwehr aus dem Gebiet Charkiw stammen selbst aus der Gegend. Wodolas, der seit sieben Monaten an der Front steht, kommt aus Kupjansk. Er war dabei, als die Ukrainer die Stadt befreiten, seine Schwester und seine Mutter hatten monatelang unter russischer Besetzung gelebt. «Jetzt muss ich meine Heimat wieder verteidigen», so beschreibt der 41-Jährige seine Motivation.
Für die Russen bleibt Kupjansk ein wichtiges Ziel, da hier Strassenverbindungen und Eisenbahnlinien zusammenlaufen. Sie haben ihre Angriffe intensiviert: 29 Attacken meldete der ukrainische Generalstab in der ersten Februarwoche, verglichen mit 16 Mitte des Vormonats. Auch konnte der Analysedienst Rochan die Präsenz einer spezialisierten Aufklärerbrigade nachweisen, was er als Hinweis auf weitere Angriffsplanungen wertet.
Der Infanterist Wodolas bestätigt zwar, dass sich die Ukrainer in der Defensive befinden. Wenige Tage vor dem Gespräch nahm er aber auch an Gegenangriffen im Dorf Sinkiwka teil. Positionen dort wechseln regelmässig die Hände, wobei die Russen in den letzten Wochen leicht vorgerückt sind. Laut Wodolas kamen sie im Januar aus drei Richtungen gleichzeitig. «Wir schlugen sie zurück, mussten aber die Leichen einiger Gefallener zurücklassen», erinnert er sich, ohne dabei irgendwelche Emotionen erkennen zu lassen.
Klagen will Wodolas nicht. Seine Einheit habe genug Soldaten, «aber wir könnten etwas mehr Artilleriemunition gebrauchen». Angesichts der immer dringender werdenden Warnungen der ukrainischen Armeeführung vor einem Mangel an Personal und Geschossen wirkt das wie eine Untertreibung. Das britische Royal United Services Institute schätzt, dass Kiew täglich etwa 2000 Geschosse abfeuert, was einem Fünftel der russischen Menge entspreche.
Verteidigung gegen Russlands «Fleischstürme»
Promin, der Mann mit der Schrotflinte, kann seine Unzufriedenheit jedenfalls nur notdürftig durch Sarkasmus überdecken: Er spricht von «unseren perfekten Soldaten hier», lässt aber durchblicken, dass vor allem neu mobilisierte Männer mit wenig Motivation an der Front ankommen. Der Vorteil der Ukrainer bestehe darin, dass die Russen ihre Kämpfer noch viel schlechter ausbildeten.
Promin beschreibt die Angriffe des Gegners als «Fleischstürme». Dabei würden hundert Soldaten in den ukrainischen Kugelhagel geschickt. «Die erste Welle ist Kanonenfutter, dann schicken sie ein ‹Reinigungsteam›, das Überlebende auf beiden Seiten erledigt, und schliesslich fünf bis zehn Profis, um die Position zu halten.» Das Verhältnis der Verluste betrage zehn zu eins, dennoch kämen immer neue Kämpfer.
Solche Angaben sind ebenso wenig überprüfbar wie die Behauptung der regionalen ukrainischen Militärführung, wonach bei Kupjansk alleine im Januar über 10 000 Russen fielen oder verwundet wurden. Klar ist, dass Moskau wenig Rücksicht auf eigene Verluste nimmt, wenn die Armee dafür ein paar Quadratkilometer erobert. Zudem bekundet Russland aufgrund seiner Grösse und seines autokratischen Systems weniger Mühe bei der Mobilisierung als die Ukrainer.
Das Institute for the Study of War hält es für unwahrscheinlich, dass die erschöpften Russen bei Kupjansk rasch grössere Geländegewinne erzielen. Der Bau der neuen Verteidigungsanlagen bietet den Ukrainern die Chance, ihre begrenzten Kräfte zu schonen und die Russen auszubluten. Wollen sie ihre Positionen gegen die feindliche Übermacht halten, reichen Drachenzähne und Schützengräben aber nicht. Es braucht auch genug Soldaten und Munition, um zurückzuschiessen.