Er ist der umstrittenste General der Schweizer Geschichte: Der Oberbefehlshaber der Armee während des Ersten Weltkriegs, wurde verehrt, verklärt und verfemt.
Die Schweiz kennt eine nachhaltige Generalsverehrung. Guillaume Henri Dufour, der General aus dem Sonderbundskrieg, erhielt kürzlich einen prächtigen Sammelband. Henri Guisan, der General während des Zweiten Weltkriegs, eine Briefmarke und am Bettag 2024 ein Hochamt der Bruder-Klaus-Gesellschaft in der Jesuitenkirche Luzern. Nur an einen General mag sich die Schweiz seit den 1980er Jahren nur noch ungern erinnern: General Ulrich Wille, Oberbefehlshaber der Schweizer Armee während des Ersten Weltkriegs.
Wille soll eine «undemokratische Verehrung des preussischen Heeres» gezeigt und «einen rigorosen Militarismus nach preussischem Vorbild gepredigt» haben. Zudem als «Soldatenschinder» unterwegs gewesen sein und den Generalstreik 1918 provoziert und niedergeschlagen haben.
Dabei war Wille noch bis in die 1970er Jahre als bedeutender, wenn nicht bedeutendster Offizier der Schweizer Armee verehrt worden. Er soll bis zum Antritt seines Generalats 1914 die Kampffähigkeit der Armee durch intensivierte Ausbildungs- und Erziehungsarbeit wesentlich gesteigert und zugleich Soldaten und Offizieren zu einem viel schneidigeren Auftreten verholfen haben.
Vor 100 Jahren, am 31. Januar 1925, ist General Wille in Meilen verstorben. Anlass, um auf seine durch Höhen und Tiefen gekennzeichnete Karriere zurückzublicken.
Aufstieg mit Abstürzen
Ulrich Wille, 1848 in Hamburg geboren, kam 1851 nach Feldmeilen am Zürichsee. Der Vater, ein enttäuschter 1848er Liberaler und Schriftsteller, kaufte dort das Landgut «Mariafeld». Die Mutter, die aus einer Reederfamilie stammte, brachte Geld und Kultur in die Ehe. Der Sohn Ulrich zählte schliesslich zur allerersten Generation von Instruktionsoffizieren der Schweizer Armee mit Studium, gar einem Doktorat (Rechtswissenschaften). Als Offiziersaspirant wählte er 1869 die Artillerie. Der Sieg der preussisch-deutschen Armee gegen Frankreich 1870 sollte ihn lebenslänglich prägen.
«Ich habe nun einmal (. . .) das preussische Heer als das bis zu einem gewissen Grad erreichbare Ideal vor Augen», schrieb er 1880. Nicht überlegenen Waffen, sondern der Soldatendisziplin schrieb er den Sieg der preussisch-deutschen Truppen zu. Wille entschloss sich, Instruktionsoffizier zu werden, und begann in den 1870er Jahren auf der Thuner Allmend mit neuen Ausbildungsmethoden zu experimentieren und hatte ein grosses Ziel: Er wollte der gesamten Armee mehr Disziplin beibringen und den Offizieren mehr Autorität. Dazu kaufte er sich eine Militärzeitschrift und begann seine Erziehungsbotschaft zu propagieren. Die Resultate waren so gut, dass der Bundesrat ihn 1883 zum Oberinstruktor der Kavallerie und 1892 zum Waffenchef der Kavallerie berief.
Doch seine schonungslose Diagnose der «Disziplinlosigkeit» der Schweizer Armee und seine rigide Haltung als Militärexperte führten letztlich zu seiner Entlassung als Waffenchef der Kavallerie 1896. Der von Energieschüben getriebene Wille wollte zuerst die Waffenchefs und dann den Bundesrat dazu bringen, die Armee für disziplinlos zu erklären. Das ging seinen Vorgesetzten zu weit. Es folgte für Wille eine harte Zeit ohne Anstellung, ausgefüllt mit journalistischen Arbeiten und dem vergeblichen Versuch, sich als Zürcher Stadtrat und Nationalrat wählen zu lassen.
Um 1900 gelang es einer Gruppe von Anhängern Willes, mit einer Pressekampagne seine Gegner im Eidgenössischen Militärdepartement aus ihren Positionen zu drängen. Wille wurde als Miliz-Divisions- und -Korpskommandant in die Armee zurückgeholt. Als Professor für Militärwissenschaften an der ETH und Chefredaktor der «Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift» sollte er bald eine überragende Deutungsmacht erlangen.
An der Spitze
Ulrich Wille behauptete von sich, alle seine Positionen erkämpft zu haben, auch jene des Generals – was nicht gelogen war: In letzter Minute vor der Wahl durch die Bundesversammlung hatte er Theophil Sprecher von Bernegg, den Favoriten des Parlaments, in seinem Hause aufgesucht und überzeugt, auf den Oberbefehl zu verzichten und als Generalstabschef weiterzuwirken. Darauf stand seiner eigenen Wahl nichts mehr im Weg.
Von 1914 bis 1916 war Wille überall gerne gesehen und als General gefeiert. Dann nahmen vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Teuerung der Missmut und die Protestbereitschaft auch bei den mobilisierten Truppen zu. Er reagierte mit einer Vielzahl zunehmend länger werdender Weisungen und Denkschriften. Seine Dickköpfigkeit liess bei einigen Kritikern den Gedanken an «Senilität» aufkommen. Willes Affinität zu Deutschland – er war mit der deutschen Gräfin Clara von Bismarck verheiratet – wurde ihm im Laufe des Kriegs zunehmend vorgehalten.
Die Linke gehörte schon vor 1914 zu den Gegnern Willes, obwohl fast alle SP-Präsidenten seit der Gründung der Partei Offiziere waren. In den schwierigen Jahren 1917/18 begann der Arbeiterführer und Publizist Robert Grimm, ihn persönlich zu attackieren. Weil er an seiner rigiden Erziehung zur soldatischen Disziplin festhielt und weil sich der Einsatz der Armee zu Ordnungsdiensten bei Demonstrationen und Streiks abzeichnete. Die Armee wurde von der Linken zunehmend als Agentin des Klassenfeindes «Bourgeoisie» gesehen.
Bei Ordnungsdienst-Einsätzen wollte Wille Gewaltanwendungen durch «Vorbeugen» zuvorkommen, durch eine angemessene «show force», wie man heute sagen würde. Dies wurde von der Linken als «Provokation» aufgefasst.
Die Angst vor der Revolution
Das Spiel von «Vorbeugen» und «gefühlter Provokation» kam im Herbst 1918 in Gang. Für den Fall eines Generalstreiks sah Wille vor, im Raum um das potenziell «revolutionäre Gravitationszentrum» Zürich herum Kavallerie zu mobilisieren, sich einzurichten und das Gros anschliessend in den Urlaub zu schicken. Der Generalstab wollte in Abweichung von Willes Plan sofort mehr als die Hälfte der Armee aufbieten, um die Macht nach einer allfälligen Revolution zurückzuerobern.
Im November überstürzten sich dann die Ereignisse in Zürich. Der Regierungsrat verschanzte sich verängstigt in der Kaserne und bat um den Schutz durch Infanterietruppen. Der Bundesrat willigte mit der Unterstützung von Ulrich Wille ein. Und so marschierte ein Infanterieregiment in Zürich ein. Das Exekutivorgan der Linken – das Oltener Aktionskomitee (OAK) – reagierte mit einem befristeten eintägigen Proteststreik. Die kommunistisch beherrschte Arbeiter-Union Zürich hielt sich nicht daran. Um nicht die Führungsmacht zu verlieren, rief das OAK den unbefristeten Generalstreik aus.
Nun hatte auch Wille nichts mehr gegen ein massives Truppenaufgebot. Ein Ultimatum, das die Verhaftung der Streikleitungen und die militärische Auflösung von Zusammenballungen der Streikenden androhte, zeigte Wirkung: Der Landesgeneralstreik wurde abgebrochen. Die Vorbeuge-Strategie Willes hatte gewirkt. Für die Linke war Wille endgültig der «bad guy», der den Generalstreik nicht nur provoziert, sondern auch «niedergeschlagen» hatte.
Meister des Drills
Ulrich Wille war schon vor seinem Generalat als Militärexperte umstritten. Eisern vertrat er die Auffassung, dass sich auch die Milizsoldaten einer militärischen Expertise zu unterziehen hätten. Um ihre Kampffähigkeit, sprich: «Kriegstauglichkeit» zu erreichen, predigte er das Mittel des drillmässigen Exerzierens, dies sollte aus den Staatsbürgern kampftüchtige Soldaten und energische, autoritätsstarke Offiziere machen. «Die Aufgabe des Drills ist Herbeiführung jener Konzentration aller psychischen und physischen Kräfte auf Ausführung des Befehls und auf Pflichterfüllung, die ganz alleine in schwierigen Lagen vor Versagen der Truppe schützt», schrieb Wille 1913.
Die Truppe sollte zu «Appell» erzogen werden, das heisst zu einer dynamischen Reaktionsfähigkeit, die von den Offizieren ebenso dynamisch abzurufen war. Dies brachte Wille den Ruf des «Drillmeisters» ein. Einige seiner Schüler, wie der Oberstdivisionär Fritz Gertsch, missverstanden seinen Ansatz der Soldatenerziehung und wurden zu Soldatenschindern. Wille selbst war davon weit entfernt. Er wurde im Oktober 1914 von seinem nahen Umfeld zwar als «très pénétrant», aber auch als «plein de bon sens et de bonne humeur» charakterisiert.
Meienbergs Abrechnung
Eine erstaunliche Verklärung kommt General Wille im Buch «Schweizerspiegel» des Schriftstellers Meinrad Inglin zu. Der General wird zur Kraftquelle der Armee erklärt, sein Geist habe bis hinunter zum letzten Füsilier Wirkung gezeigt. Der «Schweizerspiegel» ist das Produkt der Wille-Verklärung der Zwischenkriegszeit. Ein besonderes Element spielte seine Rolle im Landesgeneralstreik von 1918.
Wille sah sich als Retter der Nation – und die bürgerliche Schweiz tat es ihm gleich. In der Armee wirkte sein Geist auch nach seinem Rücktritt als General im Dezember 1918 weiter. Seine erste und zweite Schülergeneration erhielt seine Konzepte der Soldatenerziehung gegen alle Reformversuche rigide aufrecht. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 und den Erfolgen der Wehrmacht verfolgte der Kreis der Zürcher Wille-Schüler um Gustav Däniker (sen.) ein veritables Relancement des Gedankengutes von Ulrich Wille. 1941 wurden die «Gesammelten Schriften» des Generals herausgegeben.
Nach der Niederlage der Wehrmacht erwuchs den Wille-Schülern zwar in der aufstrebenden Offiziersbewegung der «Reformer» in der Schweizer Armee eine veritable Konkurrenz. Aber die Erziehungsgrundsätze Willes blieben teilweise dominant. Erst die Reformen der Kommission um den Wirtschaftsführer Heinrich Oswald läuteten im Zuge von «1968» das Ende des Einflusses von Willes Erziehungskonzepten ein. Definitiv abgelöst wurden sie erst 1990 durch die «menschenorientierte Führung» des Militärpädagogen Rudolf Steiger.
Die Historiografie zu Ulrich Wille ist bis heute unbefriedigend. 1957 erschien eine umfassende, aber devote Biografie von Carl Helbling, Germanist und Didaktikprofessor. Er zeichnete unkritisch jede Idee und Regung Willes nach, wurde aber dem bedeutendsten Offizier der Schweizer Militärgeschichte dennoch nicht gerecht.
Dreissig Jahre später schrieb der linke Publizist Niklaus Meienberg eine halbwegs fiktive, halbwegs recherchierte «Reportage» im Stile des New Journalism über den General und die Familien seiner Kinder. Meienberg dämonisiert Wille grösstenteils als pathologischen, deutschfreundlichen, ja «martialischen Blähnüsterich», der in den Ersten Weltkrieg eintreten wollte. Die Schrift wurde zu einem Publikumserfolg und wirkt bis heute nach. Obwohl Meienberg ohne Fragestellung, ohne Beurteilung der Quellenlage und ohne Quellenkritik über eine Persönlichkeit, die sich immer wieder über- und verschätzte, vor allem moralisch urteilte.
Die historiografische Situation zu Leben und Wirken Willes wird sich hoffentlich verbessern, wenn sein Nachlass Anfang Februar – 100 Jahre nach dem Tod des Generals – in der Zentralbibliothek Zürich vollständig zugänglich sein wird.
Rudolf Jaun ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Militärgeschichte der Universität Zürich. Er hat ein Standardwerk zur Geschichte der Schweizer Armee verfasst und zuletzt eine kurze Wille-Biografie vorgelegt: General Wille. Ein bekämpfter und verehrter Schweizer Offizier. Swiss Edition, Weinfelden 2024. 61 S.