Der Opioid-Konsum in der Schweiz steigt. Doch von den Süchtigen haben wir ein falsches Bild.
Als sein Konsum fast auffliegt, ist Marc Meier (Name geändert) am Tiefpunkt angekommen.
Ein Fläschchen – klein, braun, mit weissem Deckel – bestimmt einen grossen Teil seines Alltags. Darin ist Tramadol, das am häufigsten verschriebenen Opiat der Schweiz. Über zwei Millionen Packungen gehen pro Jahr über die Theken. Ein Fläschchen, wie Meier es bezieht, reicht bei normaler Dosierung etwa einen Monat.
Er trinkt es zu jener Zeit in einem Tag.
Jeden Tag geht er in eine Apotheke, zückt seinen Ärzteausweis und holt sich ein neues. Manchmal auch gleich zwei.
Wie an diesem Tag, als er sich wie üblich Nachschub besorgen will – und eine Apothekerin ihn zur Rede stellt. Wofür er das Schmerzmittel brauche und warum so viel, will sie wissen. «Es war das erste Mal, dass mich das jemand gefragt hat», sagt Marc Meier. Sein Konsum droht aufzufliegen, sein Zugang zu Opiaten – bisher so reibungslos – droht zu versiegen.
Auf die Fragen der Apothekerin kann er keine klare Antwort geben – weil er sie selbst nicht hat. Wie er süchtig werden konnte nach einem handelsüblichen Schmerzmittel und warum er zehn Jahre lang nicht aus der Abhängigkeit herausfand – das fragt er sich bis heute.
Seine Geschichte ist die eines Abstiegs in die Abhängigkeit, wie er in der Schweiz häufiger wird. Aber auch die eines radikalen Ausstiegs, wie er selten gelingt. Sie zeigt, wohin die stetig steigende Verschreibung von Opiaten führen kann – und wie ein verfälschtes Bild von Suchtkranken die Lösung des Problems behindert.
Der Anfang
Man könnte meinen, dass die Geschichte von Meiers Schmerzmittelsucht mit dem Unfall beginnt, mit der Verletzung, die die erste Packung Opiate in sein Leben bringt. Aber fragt man ihn danach, sagt er: «Es hat viel früher angefangen.»
In seiner Jugend, als sein Leben von Sport bestimmt gewesen sei. Als der zu seinem besten und einzigen Ventil geworden sei, um mit Problemen umzugehen. «Wenn ich nicht mehr lernen konnte, wenn ich Liebeskummer hatte oder was auch immer, dann bin ich einfach losgerannt, und alles hat sich relativiert.»
Bei Rauschmitteln habe es bei ihm stets nur zwei Optionen gegeben: Verzicht – oder Konsum, bis er die Wirkung richtig spürte. «Auf ein Bier gehen, das kannte ich nicht. Wenn ich mal ein Bier trank, dann wusste ich: Es werden mindestens zwei oder drei.»
Marc Meier stammt aus behüteten Verhältnissen und ist von Beruf Arzt. Während der zehn Jahre seiner Sucht gelingt ihm ein fadengerader beruflicher Aufstieg. Heute arbeitet er in leitender Stellung im Kanton Zürich. Sein Arbeitsumfeld, glaubt er, würde ihn nicht mehr akzeptieren, wüsste es um seine Abhängigkeit.
Als Arzt hat Meier ein besonderes Verhältnis zu seinem Konsum entwickelt: Er hat gelernt, den Effekt der Opiate genau zu beobachten. Er benutzt Wörter wie «Suchtpotenzial», «Persönlichkeitsstruktur» oder «wirkungsorientiertes Konsumverhalten». Als spreche er über einen Patienten und nicht über sich selbst.
Und doch war er seinem Konsum auch ausgeliefert.
Ein wachsendes Problem
Immer mehr Schmerzmittel, besonders Opiate. Immer öfter verschrieben, auch bei wenig gravierenden Verletzungen. Dieses Bild zeigt die Forschung zum Medikamentenkonsum in der Schweiz.
In den letzten zehn Jahren hat die Vergabe von Opioiden bei Verletzungen des Bewegungsapparats stark zugenommen: um 88 bei starken, um 11 Prozent bei schwachen Opioiden. Das ergab vergangenes Jahr eine Studie von Schweizer Forschenden, die dafür Daten der Unfallversicherungsanstalt Suva auswerteten. Besonders bei kleineren Verletzungen stellte die Studie eine Verlagerung hin zu stärkeren Mitteln fest.
Ihr Fazit: Die Opioid-Vergabe wird immer freizügiger – obwohl medizinisch das Gegenteil sinnvoll wäre.
Gleichzeitig haben die Anrufe wegen einer Opioid-Vergiftung bei der nationalen Gift-Hotline Tox Info Suisse zugenommen. Zwischen 2000 und 2019 haben sie sich fast verdreifacht. Dies laut einer Studie in der Fachzeitschrift «The Lancet». Der Verkauf opioidhaltiger Schmerzmittel in der Schweiz hat sich demnach im selben Zeitraum fast verdoppelt, wobei dieser Trend langsam abzuflachen scheint.
Die steigenden Vergiftungszahlen deuteten dennoch auf einen «bemerkenswerten Anstieg von Opioid-Schäden» hin, so die Studie.
Steigt der Konsum, so steigen in der Regel auch die Missbrauchsfälle. Philipp Bruggmann ist Co-Chefarzt Innere Medizin beim Suchttherapie-Zentrum Arud in Zürich. Er beobachtet einen klaren Anstieg bei den von schwerer Schmerzmittelsucht Betroffenen, die in der Arud Hilfe suchen. «Vor zwanzig Jahren war das noch die grosse Ausnahme. Jetzt nicht mehr.»
Die Sucht
Die erste Packung erhält Marc Meier nach einem Unfall. Eine schwere Verletzung macht mehrere Operationen nötig. «Ich habe die Schmerzmittel wirklich gebraucht», sagt Meier. «Am Anfang jedenfalls.»
Für ein paar Tage erhält er Tabletten – zu wenig angesichts der Komplikationen, die sich nach der OP ergeben. «Es war Wochenende, ich hatte extreme Schmerzen – und da bin ich einfach in die nächste Apotheke.» Meier zückt seinen Ärzteschein und holt sich die Tramal-Tropfen, von denen er die nächsten zehn Jahre nicht loskommen wird.
Danach sei es schleichend gegangen, sagt er. Wie die allermeisten Süchtigen wird er nicht von einem Moment auf den anderen abhängig. Wie bei den meisten sind die Opioide erst sinnvoll, ja ein Segen – und werden dann kaum merklich zum Fluch.
«Wohlig», «erleichternd», gut darin, Schmerzen und unschöne Gedanken zu betäuben: So beschreibt er die Wirkung der Opioide. Er nimmt mehr und mehr – denn das ist das Perfide an dieser Art von Schmerzmitteln: Der Körper gewöhnt sich an sie. Für dieselbe Wirkung muss man die Dosis kontinuierlich erhöhen.
«Ich habe gemerkt, dass ich ein Problem hatte, als der Konsum zur ersten Handlung am Morgen wurde, gleich nach dem Aufstehen», sagt Meier. «Und zwar nicht weil ich Schmerzen hatte, sondern weil ich die nächste Dosis brauchte.»
Psychisch geht es Meier in dieser Zeit schlecht. Die Verletzung, der Wegfall des Sports, die wiederholten Operationen: Er sei sich kaputt vorgekommen, verloren und ohne sein wichtigstes Ventil. Er habe möglichst bald wieder leisten, funktionieren wollen.
«Ich hatte immer mehr so Gedanken . . . Dass ich mich auf ein Tramgleis legen könnte, mein kaputter Körperteil weg wäre und ich eine Prothese bekommen könnte», sagt Meier. Schwierige Situationen im privaten Umfeld kommen dazu. Meier wird zusehends depressiv, bekommt Suizidgedanken.
«Die Tropfen sind zu einem psychologischen Hilfsmittel geworden», sagt Meier. Auch das ist typisch: Die Opiate dienen vielen Süchtigen zur Selbstmedikation bei psychischen Problemen. Sie betäuben nicht nur den Körper, sondern auch den Geist.
Marc Meier öffnet seine Schreibtischschublade und sieht ganz hinten ein Fläschchen – klein, braun, mit weissem Deckel. Sein Notvorrat Tramadol.
Ein schädliches Stereotyp
In den USA fordert die Opioid-Krise jedes Jahr Zehntausende von Toten. Sie begann in den 1990er Jahren mit einer ungehemmten Verschreibung von Schmerzmitteln, durch Pharmafirmen angeheizt. Und sie nahm 2007 mit dem abrupten Ende der liberalen Verschreibungspraxis eine noch schlimmere Wendung: Millionen Süchtige wichen auf den illegalen Drogenmarkt aus, wurden abhängig von Mitteln wie Fentanyl.
«Die Schweiz ist in einer guten Ausgangslage, um ein solches Szenario zu verhindern», sagt der Suchtarzt Philipp Bruggmann. Denn sie verfüge über ein gut ausgebautes Therapieangebot und erlaube die kontrollierte Abgabe von Suchtmitteln. Pragmatische Schadensminderung statt moralische Verurteilung: Das ist seit den 1990er Jahren die Devise der Schweizer Drogenpolitik. Nun kommt sie auch beim Thema Schmerzmittel zur Anwendung.
Der Anstieg bei Opioid-Verschreibungen sei dennoch besorgniserregend, sagt Bruggmann. Panik aber sei nicht angebracht. «Die Ärztinnen und Ärzte müssen genauer hinschauen. Dann ist eine Trendwende möglich.»
Packung um Packung von Opioiden abgeben, ohne die Abklärung von Risikofaktoren: Das komme momentan noch zu häufig vor. Auch bei der Verordnung von Suchttherapien sei die Ärzteschaft noch zu zurückhaltend.
«Es gibt dieses verbreitete Bild des Suchtkranken, das einfach nicht stimmt», sagt Bruggmann. Arm, orientierungslos, vom Konsum gezeichnet: Dieses Stereotyp sei fern von der Realität. «Es kann jeden treffen, Leute aus allen sozialen Schichten.»
Fehlt diese Erkenntnis, werden Süchtige zu spät als solche erkannt – oder suchen sich keine Hilfe, weil sie sich im verbreiteten Bild des Suchtkranken nicht wiedererkennen.
Die Folgen
So wie Marc Meier. Während zehn Jahren kämpft er mit seiner Sucht, sucht nach einem Ausweg – aber meist allein.
Jedes Mal, wenn er in die Ferien geht, versucht er den Entzug. Kalt, von einem Tag auf den anderen. Jedes Mal, wenn er zurück ist, beginnt er wieder zu konsumieren. «Jeder Rückfall», sagt er, «war eine Niederlage.»
Auch Leute aus seinem Umfeld bemerken, dass etwas nicht stimmt. Auf ihren Rat probiert er Dinge aus – eine Psychotherapie, eine Schmerzsprechstunde, den Umstieg auf ein anderes Medikament. Aber das Ausmass des Problems verschleiert er – vor seinen Nächsten, seinen Ärzten, vor sich selbst. Und er hasst sich dafür.
«Ich wurde sehr selbstkritisch, geradezu selbsthassend», sagt Meier. «Ich sagte mir: Das kannst du doch nicht bringen. Du fährst mit dem Auto in die Ferien, stundenlang, mit der Familie drin. Und bist die ganze Zeit zugedröhnt.»
Meier nimmt Opiate, um zu funktionieren – doch je mehr er nimmt, desto weniger funktioniert er.
Er wird vergesslich. Am Familientisch habe es immer öfter geheissen: «Hey, magst du dich nicht mehr an das erinnern? Das haben wir doch besprochen.»
Er bekommt Verdauungsprobleme. «Ich habe zum Teil nur alle paar Wochen ein paar Geissenbölleli rausgekriegt», sagt Meier. Verstopfung ist eine Nebenwirkung von hohem Opiatkonsum. Er verliert den Appetit, hat Mühe, die Nacht durchzuschlafen. Es juckt ihn am ganzen Körper.
Dann kommt der eine Tag, an dem er fast auffliegt. Als er zwei Fläschchen aufs Mal beziehen will und die genannte Apothekerin ihn zur Rede stellt. Jetzt könnte er alles zugeben. Doch er tut es nicht. «Ich habe mich rausgeredet», sagt Meier. Er erhält auch hier sein Tramadol.
Wenn er davon erzählt, wirkt Meier fast überrascht von seiner eigenen Geschichte. Als bemerke er selbst erst beim Nacherzählen, was er hier eigentlich durchgemacht hat – und wie lange er all das aufrechterhalten konnte.
Ein verhängnisvolles Muster
Beim Opioid-Konsum ist der psychische und soziale Schaden gravierender als der körperliche. Anders als etwa bei Kokain entstehen kaum Langzeitschäden an den Organen. Es dauert deshalb lange, bis ein Suchtkranker wegen rein physischer Symptome an seine Grenzen gelangt.
Dafür macht die Substanz extrem stark abhängig. Ausschläge, Schüttelfrost, Brechdurchfall, Angstzustände: Das sind typische Entzugssymptome. Dazu kommt ein unbändiges Verlangen nach der nächsten Dosis. Der Beschaffungsdruck wird dadurch immer grösser.
Wenn Suchtkranken auf der Strasse das Geld für den Dealer fehlt, droht ein Abrutschen in die Kriminalität. Dem wirken legale Abgabestellen wie die Arud mit ihrer Arbeit entgegen. Bei Betroffenen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, ist die Situation eine andere. Dort ist die einfache Verfügbarkeit von Medikamenten das Problem. So wie bei Marc Meier: Dank seinem Ärzteschein kann er sich seinen Stoff jahrelang in der Apotheke holen. Auf private Rechnung, ganz legal.
Ein paar wenige Male – wenn er es ohne Mittel nicht mehr ausgehalten habe – habe auch er sich seine Tropfen direkt bei der Arbeit besorgt, sagt Meier. Ein enormes persönliches Risiko.
Die Ursachen einer Suchterkrankung sind vielfältig und oftmals nicht im Machtbereich der Betroffenen. Laut dem Arzt Philipp Bruggmann können eine genetische Vorbelastung, eine psychische Erkrankung oder auch traumatische Erlebnisse, gerade in der Jugendzeit, dazu beitragen.
Auch die Persönlichkeit spiele eine Rolle. Gerade beim Thema Schmerzmittelsucht betreue die Arud etliche Betroffene, die verantwortungsvolle Jobs hätten, zum Teil in führenden Positionen arbeiteten. «Es ist ein Muster: Workaholic mit grossen Anforderungen an die eigene Leistung – auch das ist ja eine Form von Abhängigkeit – hilft medikamentös nach.»
Der Ausstieg gelingt meist nur langsam und über andere Mittel. Manchmal kann es aber auch schnell gehen.
«Wohlig», «erleichternd», gut darin, Schmerzen und unschöne Gedanken zu betäuben: So beschreibt Marc Meier die Wirkung der Opioide.
Das Ende
Das Ende von Marc Meiers Konsum kommt plötzlich. «Irgendwie war ich reif dafür», sagt er. «Der Konsum wurde immer belastender. Und dann hat es mir plötzlich den Schalter umgelegt.»
Meier meldet sich bei einer Anlaufstelle, beginnt eine Suchttherapie und lässt seinen Ärzteschein für den Bezug von Opiaten sperren. Schon nach der zweiten Therapiesitzung beschliesst er: Er hört auf, ab sofort.
Seit da, sagt er, habe er keinen Tropfen mehr konsumiert. Er schlafe besser, sei zufriedener. «Meine Emotionen sind wieder realer, breiter, als sie das in den letzten zehn Jahren je waren.» Auch Sport treibe er wieder mehr. «Manchmal quäle ich mich richtig und finde es cool, den Fortschritt zu sehen», sagt Meier.
Er bleibe «eine süchtige Persönlichkeit».
In seinem Umfeld redet Meier offener über seine Suchterkrankung – und darüber, dass sie auch Leute wie ihn treffen kann. Seine Scham vor dem «Junkie»-Label, so glaubt er, habe ihn lange davon abgehalten, sich die nötige Hilfe zu holen. Er hofft, dass andere in seiner Situation nicht so lange warten, sich nicht in Selbsthass verlieren.
Aber warum genau ihm am Ende, nach zehn Jahren Sucht und etlichen gescheiterten Versuchen, der Ausstieg gelang – das kann auch er nicht beantworten.
Und dann erzählt er plötzlich die Geschichte mit der Schublade.
Meier sitzt im Büro, einen Monat nach seinem letzten Konsum. Er öffnet seine Schreibtischschublade und sieht ganz hinten ein Fläschchen – klein, braun, mit weissem Deckel. Sein Notvorrat Tramadol.
«In diesem Moment habe ich realisiert: Ich kann jederzeit wieder rückfällig werden», sagt Meier. «Jederzeit.»
Sein erster Impuls ist, das Fläschchen wegzuwerfen. Aber er zögert. «Es war noch herausfordernder, es anzuschauen – und dann nichts zu nehmen», sagt Meier. Er merkt: Der Leistungsdrang, der ihn mit in die Sucht trieb – er kann ihm, in gewandelter Form, auch beim Ausstieg helfen. «Es hatte etwas Kompetitives, da wieder rauszukommen.»
Er lässt das Fläschchen liegen.
Erst ein halbes Jahr später – als er sicher ist, dass er es nicht mehr braucht – wirft er es weg.