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Startseite » An vorderster Front gegen Russland
Gesellschaft

An vorderster Front gegen Russland

MitarbeiterVon MitarbeiterFebruar 24, 2024
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In Saporischja steht mit der 128. Gebirgssturmbrigade eine der stärksten ukrainischen Einheiten. Sie kämpft nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen die Entfremdung vom Rest des Landes. Und sie weiss, dass sich im Süden etwas zusammenbraut.

«Im Sommer war es hier lustiger.» Jura drückt sich in die Ecke des kleinen Bunkers. Seine Schutzweste schrammt über die Erdwand, weil sich acht Männer im Eingangsbereich drängen. Der Holzofen wärmt, es riecht nach Zigaretten. Wieso es lustiger war? «Im Sommer hatten wir genug Artilleriemunition, und wir deckten den Vormarsch der Infanterie», sagt der Berufssoldat. Im Sommer schoss Jura jeden Tag.

Die Wolldecke über dem Bunkereingang ist gefroren. Draussen scheint die Sonne, aber es ist minus 18 Grad. Gerade hat uns Jura dort sein Geschütz gezeigt, eine siebzig Jahre alte Kanonenhaubitze D-20. Meistens muss er zwei- oder dreimal nachladen, bis sie trifft. Doch sie funktioniert bei Hitze und bei Kälte. Inzwischen schiessen die Artilleristen manchmal tagelang nicht. Das hat zwei Gründe: Die Munition ist rationiert. Und bei klarem Wetter fliegen zu viele russische Drohnen. Der Feind sieht fast alles, besonders den Rauch einer Kanone.

Alltag in der ukrainischen Kampfzone

An diesem Wintertag im Januar herrscht Ruhe entlang der südukrainischen Saporischja-Front. Wir sind unterwegs mit der 128. Gebirgssturmbrigade, einer der stärksten Einheiten der ukrainischen Armee. Mit Unterbrüchen hält sie diesen Frontabschnitt seit Beginn der russischen Invasion vor zwei Jahren. Als erstes Medium dürfen wir drei ganze Tage lang den Alltag der Soldaten begleiten.

Doch die Ruhe ist labil. Russen und Ukrainer belauern sich. Moskau zieht in der Gegend Truppen zusammen, um Kiews Gewinne während der Sommeroffensive rückgängig zu machen. Damals eroberte die 128. Gebirgssturmbrigade hier einige Dörfer. Davor hatte sie Cherson befreit und die Donbass-Stadt Soledar bei Bachmut in verlustreichen Rückzugsgefechten verteidigt.

Jura war immer dabei. Wie alle ukrainischen Soldaten darf er seinen vollen Namen nicht nennen. Jura hat Kameraden verloren und stand unter Beschuss. Er ist gross und schwer, ein Bär von einem Mann, der ohne Probleme 46 Kilogramm schwere Sprenggranaten schleppt. Spurlos ging das nicht an ihm vorbei: Beim Reden stottert er. Das ist die Folge der Erschütterungen seines Gehirns durch regelmässige Explosionen und Druckwellen. Trotzdem sagt er: «Am wenigsten gefällt mir diese Ruhe und Ungewissheit.»

Alltag an der Front, das heisst für die Kanoniere warten, rauchen, mit dem Handy spielen. Später werden wir Infanteristen, Fahrern und Medizinern begegnen. Sie alle kämpfen längst nicht mehr nur gegen die Russen. Sondern auch gegen die Eintönigkeit, die Entbehrungen, ihre Entfremdung von der zivilen Welt. Zwei Jahre Krieg schaffen rastlose Menschen mit schwarzem Humor, die nicht an die Zukunft denken.

Alltag an der Kriegsfront? Das ist Langeweile und Todesgefahr.

Die Heimat der Soldaten

Der Holzbunker, geschützt vor dem Winter und halb unter der Erde vergraben, ist für die Artilleristen ein winziges Stück Heimat. Sie haben sich an dieses Leben gewöhnt und den Bunker so wohnlich wie möglich eingerichtet. Plastikplachen halten die Kälte draussen, gesessen wird auf einfachen Holzbänken. Die Männer schlafen auf Pritschen im Hinterraum. Ihn erreicht der kalte Wind nicht.

Auch ein Haustier gehört zur Truppe. Der Mischlingshund heisst Kusotschik, übersetzt «Stückchen». Er lief ihnen in Soledar zu. Nun hilft er bei der Bekämpfung der Mäuse im Bunker. Dank Starlink gibt es sogar gutes Internet. Am Abend schauen die Soldaten zusammen Youtube-Filmchen oder Internet-Memes. Ein Bild zeigt einen zerstörten russischen Panzer, der auf die Seite gekippt ist. «Wie kommentieren Sie die Arbeit der ukrainischen Artillerie?», fragt ein Soldat den Panzer. Antwort: «Umwerfend.» Jura lacht. «Das ist mein Zuhause.»

Auch an der Front halten die Soldaten die ukrainische Gastfreundschaft hoch, bewirten die Gäste mit Kaffee und Schokolade. Sie hat aber Grenzen: Weil der Bunker so eng ist, muss ein Teil der Einheit draussen in der Kälte warten. Nach zwanzig Minuten werfen sie uns raus.

Die Männer werden noch Tage in der Artilleriestellung verbringen. Es fehlt an Soldaten. Seit Februar 2022 haben die meisten nur wenige Tage Heimaturlaub erhalten. Dennoch stehen sie nicht immer an der Front. Die Armee hat sich in Dörfern einquartiert, die etwas im Hinterland liegen. Hier finden die Männer etwas Ruhe und erhalten zusätzliches Training.

Wie die Orte heissen, darf hier nicht stehen. Oft genug hat die Brigade erlebt, dass ihre Unterkünfte und Lagerräume Ziel russischer Raketen werden. Es sind weitläufige Dörfer in der weiten südukrainischen Steppe: einstöckige Häuser entlang von langen Strassen, ab und zu ein Laden, eine Fabrik, ein sowjetischer Plattenbau.

Waschtag auf dem Dorfplatz

Wer nicht im Bunker Dienst hat, lebt hier in einfachen Häusern. Diese sind nicht dafür ausgerüstet, so viele zu beherbergen. Deshalb stehen an diesem Morgen zwei Lastwagen auf dem Dorfplatz. In einem befinden sich fünf Duschkabinen, im anderen Waschmaschinen und Trockner. Eigentlich wäre heute der wöchentliche Waschtag. Aber statt verdreckter Soldaten umschwirren Techniker die Fahrzeuge. Einer ist hinten auf den Lastwagen und hantiert an einem Gewirr von Leitungen, Pumpen und Boilern herum.

Mikola beobachtet und raucht. Der 47-Jährige dient seit einem Vierteljahrhundert im Logistikbataillon. Seine Trucks und Busse sind die Lebensversicherung der 128. Gebirgssturmbrigade. Sie transportieren alles von Munition über Treibstoff bis zu Nahrungsmitteln. Die Truppeneinheiten kochen meist selbst. In den vordersten Schützengräben erhalten sie militärische Notrationen, die sie mit Wasser zubereiten: Suppen, Pasta, Fleisch und Gemüse, alles gefriergetrocknet.

«Die Russen greifen unsere Lastwagen oft mit Drohnen an. Deshalb bewegen wir uns so diskret wie möglich», sagt Mikola. Doch nicht alles kann unauffällig erledigt werden: Duschen und waschen braucht Platz, die Soldaten brauchen Zeit, um Schmutz und Entbehrungen der Front wegzuspülen. Zwei Tonnen Wasser haben die beiden Anhänger geladen. In drei Tagen können sie die Dreckwäsche eines ganzen Regiments reinigen und trocknen.

Könnten. Denn an diesem Tag ist das Rohr eingefroren. Mikola findet das nicht weiter erstaunlich. «Ab minus 10 Grad Kälte passiert das halt manchmal.» Ein Mann versucht die Leitung mit einem Bunsenbrenner aufzutauen. Es dauert Stunden, bis wenigstens die Duschen funktionieren. Die Wäsche wird schmutzig bleiben.

Unter jenen, die sich trotzdem freuen, ist Witali. «Eine Dusche reicht, damit ich glücklich bin», meint der 40-Jährige. Der Major wartet mit seinen Kameraden in einem Bauernhaus. Die Blümchengardinen, die Ikonen in der Ecke und die gesteppten Decken verraten, dass hier vor dem Krieg wohl ältere Leute wohnten. Jetzt lehnt ein Maschinengewehr an der Küchenwand, und im Gang lagern Kisten voller Munition.

Freizeit in der Armee

Im Gärtchen hinter dem Bauernhaus schlägt ein Soldat Holz für den Ofen. Eine Zentralheizung gibt es nicht, dafür im Sommer frisches Gemüse. Auch das Plumpsklo, ein Bretterverschlag, steht hinter dem Haus. Mikolas Duschwagen bringt immerhin ein bisschen urbanen Komfort ins Dorf, sonst wäre der Alltag noch schwerer. Restaurants oder Kinos gibt es in dieser Gegend kaum, die Grossstadt Saporischja liegt einige Dutzend Kilometer entfernt.

Major Witali behauptet, er kenne ohnehin keine Freizeit, sei immer beschäftigt. Sein letzter freier Tag war an Neujahr, zwei Wochen vor unserem Besuch. «Da habe ich zur Entspannung mein Gewehr geputzt.» Alternativen organisiert manchmal die Armee: im Sommer etwas Sport, im Winter etwas Unterhaltung, im Herbst etwa ein Konzert des Rappers der Band Kalush. Diese gewann 2022 den Eurovision Song Contest. Zwischen solchen Höhepunkten liegen viele eintönige Abende.

Hilft vielleicht der Alkohol dabei, die Stimmung aufzuheitern und schlimme Erlebnisse zu vergessen? Trinken gehört zu jeder Armee, auch zur ukrainischen. Doch es ist streng geregelt. Wer sichtbar betrunken von der Militärpolizei erwischt wird, riskiert den Entzug der monatlichen Frontzulage von umgerechnet 2300 Franken. Dazu kommt eine Busse in der Höhe von 325 Franken, dem Grundsold. Wie streng diese Regeln durchgesetzt werden, hängt stark vom Kommandanten ab.

Die Sexualität ist ein weiterer Graubereich. Trotz gelegentlichen Besuchen von Ehepartnern ist die lange Abwesenheit eine Belastungsprobe für Beziehungen. Manche Soldaten behelfen sich mit Gelegenheitssex, der sich zwischen Prostitution und patriotischen Motiven der Frauen ansiedeln lässt. Frontsoldaten verdienten für lokale Verhältnisse sehr gut, erklärt einer. Das erlaube es, den lokalen «Freundinnen» Geschenke zu machen. Dieses Arrangement lässt die Grenzen zwischen Zuneigung, Abhängigkeit und zuweilen vielleicht auch sexueller Gewalt verschwimmen.

Die eher prüde ukrainische Gesellschaft tabuisiert Sexualität in der Armee. Es gibt Hinweise, dass die HIV-Raten im Krieg gestiegen sind. Hotels in der Nähe der Front hängen Verbotsschilder für Escort-Damen am Eingang auf. Das Thema taucht aber in der Armeezeitung der 128. Brigade auf – bezeichnenderweise als äusserst schlüpfriger Scherz: Eine Stripteasetänzerin zieht bei einer Show vor Soldaten zuerst Mantel und Kleid aus. Sie erntet Applaus. Als sie alle Hüllen fallen lässt, wird es still im Saal. «Gefalle ich euch denn nicht?», fragt sie irritiert. «Doch, aber applaudieren mit einer Hand geht nicht», ruft einer.

Die Sprachlosigkeit der Frontkämpfer

Es ist ein Witz, über den die militärische Männergemeinschaft laut lacht. Humor ist wichtig, um den harten Alltag zu ertragen. In der Ukraine scheint der Humor umso schwärzer und schmutziger zu werden, je grösser die Entbehrungen sind. Die Soldaten schweisst das zusammen. Doch der Humor ist auch Symbol dafür, wie stark sich das Leben an der Front von dem im Hinterland unterscheidet – und wie sehr sich die Kämpfer von ihren Familien und Freunden entfremdet haben.

Auch Witali, der Major, weiss, dass er in einem Universum lebt, das ihn von seiner Frau und seinen drei Kindern trennt. Seine Frau diene zwar selbst im Grenzschutz. «Aber sie wollte nicht, dass ich an die Front gehe.» Heute unterstütze sie ihn, und sie telefonierten oft. Vieles bleibe aber ungesagt.

Witali begründet dies damit, dass die Russen mithörten. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es herrscht eine Sprachlosigkeit zwischen Kämpfern und Zivilisten. Die Soldaten wollen ihre Familien vor dem Horror schützen, den sie erleben. Oder sie glauben, dass diese ihre Erfahrungen nicht nachvollziehen können, weil ihr Leben so anders ist.

Das frustriert auch Witali. Der stellvertretende Kompaniekommandant fügt eine Beobachtung an, die an der Front oft geäussert wird: «Vor zwei Jahren waren wir alle geeint. Jetzt ist der Krieg für viele in Kiew weit weg.» Weltbild und Werte unterschieden sich heute fundamental. Zivilisten wünschten sich ein iPhone oder neue Möbel. Witali geht es um Grundsätzliches, nicht um Wünsche: «Es ist das Leben, einfach das Leben. Wir halten die Russen auf, weil sie sonst immer weitergehen.»

Die Ausbildung zum Fusssoldaten

Als Instruktor obliegt es Witali auch, aus Zivilisten Fusssoldaten zu machen. Es ist eine schwierige Aufgabe, weil es wenig Freiwillige gibt. Kampfbrigaden wie die 128. verlieren an der Front ständig Infanteristen und müssen sie ersetzen. Doch die Ukraine hat grosse Mühe, genug Soldaten zu mobilisieren. Willkür und Korruption untergraben das Vertrauen ins System.

In der Brigade gibt es auch dazu Witze. Einer geht so: Kommt ein Einberufener zur medizinischen Untersuchung für den Militärdienst. Beim Sehtest kann er nur die allergrössten Buchstaben lesen. «Tauglich!», sagt der Arzt. «Tauglich wofür?», fragt der Mann. «Für den Nahkampf.»

Während unseres Besuchs bekommen wir ausschliesslich erfahrene Kämpfer zu Gesicht. Vielleicht ist das kein Zufall, vielleicht will das Brigadekommando nicht, dass sie Negatives erzählen. Auch die Schiessübung für neue Soldaten ist, anders als angekündigt, bereits abgeschlossen. Auf der Militäranlage etwas ausserhalb des Dorfes empfängt uns deshalb nur Ruslan.

Der Hüne ist ebenfalls Instruktor. Er führt an der Wandtafel für taktische Instruktionen vorbei und am Stacheldrahtverhau, wo die neu Mobilisierten auf dem Bauch durch den Schnee robben. «Wenn mir einer sagt, er wisse eh schon alles, dann schicke ich ihn gleich unter den Stacheldraht», sagt Ruslan. Sein Kampfname «Ingenieur» kommt von seiner ersten Ausbildung.

Witali und Ruslan sind unzufrieden über die Fähigkeiten der Männer, die an die Front geschickt werden. Zwar haben sie zwei Monate Ausbildung in nationalen Zentren bekommen. «Und dann haben wir zwei Wochen Zeit, ihnen unter Hochdruck alles beizubringen», sagt Witali. Aber nicht alle seien danach gute Soldaten, fügt Ruslan hinzu. «Das sind halt oft Leute, die sich zwei Jahre lang vor dem Militär versteckten.»

Sehnsucht nach der Front

Mit der letzten Gruppe ist Ruslan aber recht glücklich. «Die Jungs gingen voll rein.» Er steht neben Dutzenden von leeren Patronenkisten, Produktionsjahr 1989. Auf einer Zielscheibe ist Wladimir Putin abgebildet. Hunderte von Kugeln haben sie durchlöchert. Immerhin davon hat man genug, im Gegensatz zur Artilleriemunition.

Für die Schiessübungen wurden mit Reifen und Holzbrettern kleine Stellungen gebaut, hinter denen die Soldaten Deckung finden. Daraus warfen sie auch Handgranaten. Von der Übung sind schwarze Brandspuren im Schnee geblieben. Ein Krater liegt weit weg von den anderen. «Der Typ hatte einen super Wurfarm, den nehmen wir gleich in die Spezialeinheit», sagt der Instruktor und lächelt zum ersten Mal.

Ruslan steigt über die Böschung des Übungsgeländes zum Auto hoch. Er tritt vorsichtig auf und geht seitwärts mit seinem rechten Bein. Unterhalb des Knies trägt er eine Prothese – der Grund, dass er Übungen leitet, statt selbst an der Front zu kämpfen. Ziemlich genau ein Jahr ist es her, dass er auf eine Mine trat.

«Es war morgens um 6 Uhr 14, als ich das Klicken hörte. Dann sah ich, wie mein Fuss wegflog.» In einer Eliteeinheit des Asow-Bataillons ausgebildet, brachte der «Ingenieur» selbst eine Aderpresse am verletzten Bein an, um den Blutfluss zu stoppen. Danach robbte er aus dem Minenfeld heraus. Er wurde neunmal operiert. Die Prothese funktioniert gut. Aber kämpfen kann Ruslan nicht mehr. «Ich sagte ihnen, sie sollen mich an der Front einfach hinter ein Maschinengewehr setzen, wegrennen kann ich ja nicht», sagt er nur halb im Scherz.

Als Kriegsinvalider könnte der 50-Jährige jederzeit aus der Armee austreten. «Aber ich gehe nur, wenn sie mich zwingen.» Auch Ruslan hat den Anschluss ans zivile Leben verloren. Dreissig Tage war er zu Hause, um sich auszukurieren. «Es war die Hölle.» Seine Frau hatte sich einen Hund gekauft und arbeitete ständig. Sein 11-jähriger Sohn war in der Schule. Nutzlos rumliegen war das letzte, was Ruslan wollte. Er sehnte sich nach der Front. Ähnliches erzählen viele Berufssoldaten.

Der Adrenalinschub der Schlacht

«Mich befriedigt das Adrenalin, harte Schlachten geben mir ein High», so versucht er das Paradox zu erklären. Für Ruslan, im Zivilleben Automechaniker, enthüllt sich der wahre Charakter nur im Kampf. «Im ersten Gefecht zeigt sich, wer wer ist.» Leider überlebten das nicht alle. Die vorletzte Gruppe von Fusssoldaten, die er ausgebildet hat, ging vom Übungsgelände direkt in die Schützengräben. Sie wurden nachts hingeschickt. Am Morgen gab es bereits Verwundete.

Gegen aussen nimmt der «Ingenieur» die Verluste als Naturgesetz hin. Er sage den Mobilisierten: «Wir müssen alle sterben, nur jeder zu seiner Zeit.» Das ist nicht einfach eine Floskel. In der Asow-Einheit, wo Ruslan 2022 kämpfte, waren nach einem Jahr nur 3 von 38 Mann übrig. Danach wechselte er zur 128. Brigade, deren Infanterie in den Schlachten der letzten knapp neun Monate ebenfalls grosse Verluste erlitt.

Zuvorderst an die Front lässt die Brigade keine Journalisten. Kurz nach unserem Besuch kommt es in der Region zu heftigen russischen Angriffen. Manche Analysten sehen darin den Beginn einer neuen Offensive im Süden. Noch halten die Ukrainer jene knapp 200 Quadratkilometer, die sie im Sommer unter grossen Opfern befreiten. Doch im Frontabschnitt der 128. Gebirgssturmbrigade droht nach dem Fall von Awdijiwka ein weiterer Rückschlag.

Die Beschreibungen unserer Gesprächspartner lassen bereits im Januar wenig Gutes erwarten. Sie berichten von einem katastrophalen Defizit an schweren Waffen. Dies erklärt, warum die Artillerie kaum schiesst. Zudem sind viele Stellungen nur noch durch schüttere, vom feindlichen Feuer zerfetzte Baumlinien geschützt. Durch die Kameras ihrer Drohnen sehen Ukrainer wie Russen fast alles. Die Soldaten müssen zur vordersten Linie oft über offenes Gelände rennen.

Die rastlosen Schützenpanzer

Um zu überleben, müssen die Infanteristen deshalb entweder gut eingegraben oder sehr schnell sein. Schutz vor der Todesgefahr bieten Bunker – oder Leute wie Aladin. Seine Kollegen gaben ihm seinen Spitznamen, weil er wie auf einem fliegenden Teppich durch die Gegend rast. Er fährt die Fusssoldaten in seinem Schützenpanzer an die Front und bringt die Verwundeten weg.

Auf der Strasse beschleunigt der über und über tätowierte Mann seinen Pick-up sogar auf 150 Kilometer pro Stunde. Er hört laut Musik und raucht Zigarette um Zigarette. Auf Waldwegen ist er mit dem Schützenpanzer etwas langsamer unterwegs. Von der geheimen Basis im Wald zur vordersten Linie braucht er zwanzig Minuten – statt eine halbe Stunde wie alle anderen.

Aladin ist ein Getriebener, der nach zwei Jahren Kampf nicht stillstehen kann. «Die ganze letzte Nacht brachte ich Soldaten nach vorne. Eine Drohne verpasste mich um zwanzig Meter.» Es klingt, als rede er über ein Videospiel. «‹Call of Duty›, nur in echt», sagt einer.

Im Wald schützen Plachen die Schützenpanzer von Aladins Bataillon vor Drohnen und Kälte. Die amerikanischen M113 und der sowjetische MT-LB sehen im Halbdunkel des einbrechenden Abends aus wie schlafende Metallmonster auf Ketten. Als Aladin versucht, einen M113 anzulassen, streikt der Dieselmotor in der Kälte. Der MT-LB – «eine Trophäe von den Russen» – erwacht mit ohrenbetäubendem Röhren und schickt eine Rauchwolke in den Himmel. Veraltet sind beide Typen, doch wenigstens bieten sie Schutz. Die Ukraine brauchte dringend mehr.

Die Schützenpanzer sind so wertvoll, weil sie an der Front als stählerne Wand zum Einsatz kommen. «Wenn wir sie nebeneinander aufstellen, können wir mit den Kanonen einen breiten Frontabschnitt unter Feuer nehmen», sagt der Kompaniekommandant Dmitro. Da dies auch die Drohnen des Feindes schnell bemerken, kommen die Schützenpanzer fast nur bei Nacht und schlechtem Wetter zum Einsatz.

Der Albtraum von Soledar

«Wenn du den Feind unterschätzt, bist du tot», sagt der 33-Jährige. Auch er hat alle Schlachten der Brigade seit 2022 miterlebt. «Die Kamikaze-Drohnen können dir manchmal schon den Willen zum Kämpfen nehmen.» Wenn die russische Artillerie loslege, könne man nur den Kopf unten halten, so beschreibt er das Gefühl der Hilflosigkeit.

Dmitro hat auch erlebt, wie seine Kompanie die Verbindung zu den anderen verlor. «Dann sitzt du in der Scheisse und musst einfach hoffen, dass du als Kommandant richtig entscheidest.» Dass man sich in seiner Einheit gut kenne, helfe dabei. Dass alle alles können müssten – schiessen, fahren, navigieren, Verletzte tragen – ebenfalls.

Dmitro, der früher Lastwagen fuhr, schildert den Krieg anschaulich. Doch ein Erlebnis will er nicht beschreiben: die eigene Verwundung. Er trägt eine Prothese am rechten Bein. Darauf ist das Bild eines grimmig dreinschauenden Zwergs abgebildet. Dmitro sagt nur, dass er das Bein in Soledar verlor.

Damals kämpfte er als Infanterist um das Zentrum der Salzindustrie im Donbass. Soledar fiel nach fünf Monaten im Januar 2023. Die Brigade wurde im November für die letzte Phase der Verteidigung hingeschickt. «Das war wie ein furchtbarer Traum», sagt Dmitro. Und, zu Aladin: «Gott sei Dank wart ihr da.»

Die verlorene Schlacht um Soledar war der Tiefpunkt des Krieges für die 128. Gebirgssturmbrigade. Die endlosen Wellen der russischen Sturmangriffe, die Bomben und Raketen zehrten an der Moral. Die Entscheidung der Armeeführung, noch einmal grosse Kräfte in den Kampf um das nahe Bachmut zu schicken, als die Stadt praktisch verloren war, nagte am Vertrauen.

Militärärzte hassen die Langeweile

Verglichen mit dem Horror von Soledar ist Saporischja ein friedlicher Frontabschnitt. Noch. Doch wie lange bleibt das so? Und wie sollen die Kämpfer mit der Ruhe umgehen, wenn sie wissen, dass der Feind Truppen sammelt und jederzeit losschlagen kann? Die Stimmung jedenfalls bleibt unruhig bis nervös – auch und gerade dort, wo es für die Ukrainer wenig zu tun gibt.

Das Feldspital, ein Dutzend Kilometer hinter der Front, hat vor zwei Tagen den letzten Verwundeten behandelt. «Wenn Ärzte keine Arbeit haben, ist das gut. Aber es ist auch langweilig», sagt Oxana. Die 54-Jährige sitzt am langen Esstisch und freut sich über den Besuch. Seit 2014 dient sie in der Brigade, praktisch immer an den Brennpunkten des Krieges gegen Russland.

In Soledar war Oxana als einzige Operationsassistentin fast durchgängig im Einsatz, die Gänge voller Verwundeter, die Behandlungsräume ständig blutbefleckt. «Da rennst du nur noch», so schildert es ein Chirurg. «Und du schaust: Okay, der kann sitzen, den nehmen wir später, zuerst den hier, der liegt und wird schon langsam bleich.» Drei Wochen lang hatte die Einheit täglich hundert Patienten. Einem Verwundeten sang Oxana ein Kinderlied, weil sie keine Schmerzmittel mehr hatte.

Die Bilder auf den Handys der Mediziner sind hart anzuschauen: abgerissene Beine, zermalmte Schädel, herausragende Knochen. Oft ist die Evakuierung von der Front sehr schwierig. Der russische Beschuss hält lange an, es dauert regelmässig mehr als eine Stunde, bis die Verwundeten im Feldspital ankommen. Ihr Zustand hat sich dann schon stark verschlechtert.

Dennoch haben Oxana und ihre Kollegen fast alle Patienten gerettet. Zwei sind tot im Feldspital angekommen, und im vergangenen September ist erstmals einer hier gestorben. Der Mann war durch ein Geschoss in der Schulter verwundet worden, die Splitter stiessen fast bis zum Herz vor. Zweimal konnten sie ihn reanimieren. Beim dritten Mal blieb das Herz stehen.

Das Mädchen mit der Kettensäge

Nun trinkt Oxana Tee und wartet. «Wir haben schon fast vergessen, wie das ist mit dem Krieg», sagt sie. Die Mediziner schlafen in sauberen Zimmern, ein Generator sorgt für warmes Wasser und Heizung. Geraucht wird nur im Treppenhaus, das in den unbewohnten ersten Stock führt. Dort haben sie sich ein improvisiertes Fitnessstudio installiert. An der Wand ist eine Stange für Klimmzüge montiert, am Boden liegt eine Hantel neben der Yogamatte. Eine struppige, etwas zu klein geratene Katze kommt während des Trainings schmusen.

Viel Abwechslung bietet der Alltag nicht. «Wir sitzen ja ständig in diesem Gebäude, seit über einem Jahr», sagt Oxana. Das Team versteht sich gut, isst gemeinsam und erzählt sich Medizinerwitze: Die Stewardess im Flugzeug sammelt bei allen Passagieren die Pässe ein, reisst die Seiten mit dem Foto raus und sagt ihnen, sie sollen sie sich in den Po stecken. Einer fragt, weshalb. «Damit wir die Leichen bei einem Absturz schneller identifizieren können.» Das gedämpfte Lachen verrät, dass keiner den Scherz zum ersten Mal hört.

Dann wird es plötzlich hektisch. Eine weinende Mutter stürmt mit ihrem schreienden Kind hinein. Die Hand der 12-jährigen Tamara ist in ein blutgetränktes Tuch gehüllt. Als die Mediziner es öffnen, kommen darunter rote Hautfetzen zum Vorschein. Es sieht schlimm aus.

Doch Oxana und ihre Kollegen sehen sofort, dass es schlimmer hätte kommen können. Sie reden beruhigend auf das Mädchen ein, reinigen die Wunde, geben ein Schmerzmittel und fragen, ob sie ihre Finger bewegen könne. Rasch zeigt sich, dass die Wunde nur oberflächlich ist und leicht verbunden werden kann. Tamara lacht bereits wieder, als ihre Mutter erzählt, sie sei froh, dass das Mädchen ein Zwilling sei. «Da hätte ich wenigstens einen Ersatz gehabt.»

Mit dem Krieg hatte der Unfall nichts zu tun. Die Familie von Tamara lebt im Dorf, so wie Dutzende andere Familien, die seit 2022 trotz gelegentlichem Beschuss zurückgekehrt sind. Tamara ist mit der Kettensäge abgerutscht, als sie dem Vater im Wald mit dem Brennholz half. Die Mutter erzählt, man habe ihr gesagt, sie solle hierherkommen, falls etwas sei. In diesem Moment wirkt die Szene wie in einem normalen Spital. Doch die Südukrainer wissen, wie rasch eine kleine Frontverschiebung den Krieg in ihr Dorf tragen kann.

Der Zustand einer Amöbe

An diesem Tag kommt dann doch noch eine Patientin aus dem Militär: Lena ist 35, dient ebenfalls als Sanitäterin und hat einen dicken Bauch. Ein Chirurg schmiert Gel auf einen Schallkopf, lässt ihn auf und ab fahren. Das Computerbild zeigt den Fötus. Er ist etwas klein, aber gesund. Sein Herz schlägt regelmässig. Lena lächelt zufrieden. Bis zum siebten Monat will sie weiterdienen, dann wird sie drei Jahre Pause machen. Die Eltern freuten sich schon, erzählt sie. Und der Vater? «Darüber wollen wir schweigen.»

Oxana hat ihre eigenen drei Kinder zuletzt Ende 2023 gesehen, als sie zwei Wochen Urlaub hatte. Die drei sind erwachsen und engagieren sich als Freiwillige im Krieg, helfen Verwundeten und organisieren Geld für die Armee. Oxana spricht oft mit ihnen. «Aber alles erzähle ich natürlich nicht. Die meinen, ich sei immer in Sicherheit.» Es ist für sie schwierig, nach Hause zu fahren, sie fühlt sich da immer am falschen Ort.

Im zivilen Leben macht man Pläne und schaut in die Zukunft. Nach zwei Jahren Krieg ist sie in einem anderen psychischen Zustand: «Wir haben Cherson unter grossen Verlusten befreit, aber wir rückten vor. In Soledar hatten wir nur Verluste und Verluste, Verteidigung und Verteidigung. Jetzt bewegt sich die Front nicht. Das macht etwas mit dir.»

Oxana nimmt das Leben Tag für Tag. «Du schaust, dass das Pendel nicht zu weit nach oben oder nach unten schwingt.» Sie weiss, dass die Aussichten auf dem Schlachtfeld momentan schlecht sind. Aber eine Depression zuzulassen, würde bedeuten, dass sie ihre Arbeit nicht mehr machen könnte. «Ich bin deshalb ein bisschen wie eine Amöbe.» Oxana funktioniert, ohne zu viel zu denken. Amöben sind aber auch Meister der Anpassung, die ihre Form je nach Umgebung verändern. Auch das ist eine Eigenschaft, die an der Front das Überleben erleichtert.

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