Die einstige deutsche Regierungschefin sagt als letzte Zeugin vor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss aus. Bei ihrer Befragung ist sie sich keiner Fehler bewusst. Sie macht aber erstaunliche Geständnisse.
16 Jahre war Angela Merkel Kanzlerin in Deutschland. 16 Jahre, in denen die von ihr geführten Regierungen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan zu verantworten hatten. 16 Jahre, in denen vor allem sie als Regierungschefin verantwortlich war für eine Mission, die am Ende desaströs gescheitert ist. Am Donnerstag wurde sie als letzte Zeugin im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags vernommen. Eigene Versäumnisse wollte sie dabei nicht einsehen.
Seit Juli 2022 befasst sich der Ausschuss mit den dramatischen Geschehnissen im August 2021 in Kabul. Damals hatte die Bundeswehr über zehn Tage Tausende deutsche und internationale Ortskräfte und ihre Angehörigen vom Flughafen der afghanischen Hauptstadt evakuiert. Die Bilder panischer Menschen, die sich aus Angst vor den Taliban an startende amerikanische Flugzeuge hängten, gingen um die Welt. Sie symbolisierten das Scheitern des Westens am Hindukusch.
Bis zum Donnerstag hatte der Untersuchungsausschuss Dutzende Zeugen vernommen, unter ihnen den amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz, frühere Minister, Staatssekretäre, Militärs, Nachrichtendienstmitarbeiter und sogar hochrangige amerikanische und Nato-Vertreter. Kaum ein Land, das sich am Afghanistan-Einsatz beteiligt hatte, dürfte die Tage im August 2021 so akribisch aufgearbeitet haben wie Deutschland. Vieles war bis zu Merkels Auftritt bereits gesagt. Dennoch wusste sie mit einigen Aussagen zu überraschen.
Die Berichte des BND interessierten Merkel nicht
Es war weniger ihr halbstündiges Eingangsstatement, das besonders viel Neues erbrachte. Sie gab dabei ihre Sicht der Ereignisse zwischen dem Abschluss des Doha-Abkommens am 29. Februar 2020 und dem letzten Tag der Evakuierung in Kabul am 30. August 2021 wider. Im Vertrag von Doha hatte die Regierung von Donald Trump mit den Taliban den Abzug der US-Truppen bis zum Sommer 2021 ausgehandelt und dabei sowohl die westlichen Partner als auch die afghanische Regierung aussen vor gelassen.
Interessant war vielmehr, was Merkel bei der Befragung durch die Ausschussmitglieder im Anschluss aussagte. So erklärte sie zum Beispiel, dass sie «nie» an der «ND-Lage» im Kanzleramt teilgenommen habe. Damit sind die wöchentlichen Vorträge der Nachrichtendienste gemeint, darunter der Auslandsdienst BND. Sie habe sich immer auf die zuständigen Minister und Mitarbeiter im Kanzleramt verlassen. Mit ihnen habe sie sich regelmässig ausgetauscht.
Der BND spielte bei der Lageeinschätzung in den Wochen und Monaten vor dem Fall Kabuls an die Taliban allerdings eine entscheidende Rolle. Auf seinen Einschätzungen basierten ganz massgeblich die Entscheidungen der Merkel-Regierung in jener Zeit. Sie habe natürlich Kenntnis davon gehabt, dass sich die Situation in Afghanistan verschlechtere, sagte Merkel. Um das zu wissen, habe sie aber nicht die Einschätzungen des BND gebraucht.
Am 14. August, einen Tag vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul, war Merkel aus ihren Sommerferien in Berlin zurück. In einer Telefonkonferenz besprach sie mit den wichtigsten Ministern das weitere Vorgehen. Dabei spielte die Einschätzung des BND dann aber eine wichtige Rolle. Alle seien sich einig gewesen, dass der Fall der Hauptstadt noch eine gewisse Zeit dauern werde, sagte Merkel sinngemäss. Damit hatte sie sich gemeinsam mit ihren Ministern die Position des BND zu eigen gemacht. Der Nachrichtendienst war nicht davon ausgegangen, dass Afghanistans Präsident Ashraf Ghani direkt am nächsten Tag die Flucht ergreifen und damit sein Land den Taliban preisgeben würde.
Die Regierungschefin befand sich in einem Dilemma
Das stand in einem gewissen Widerspruch zu den Einschätzungen des deutschen Gesandten vor Ort. Er hatte vor einer Zuspitzung der Lage gewarnt. Ob sie davon gewusst habe, wurde Merkel gefragt. «Nein, das habe ich nicht gewusst», sagte sie.
Bemerkenswert war auch, dass Merkel wiederholt von einem Dilemma sprach, in dem sie sich befunden habe. Gemeinsam mit den meisten Mitgliedern ihrer Regierung sei sie sich einig gewesen, keine gross angelegte Ausreise afghanischer Ortskräfte und ihrer Angehörigen nach Deutschland in jenen Wochen zu ermöglichen. Es hätte sonst der Eindruck entstehen können, die Bundesregierung habe Afghanistan aufgegeben und lasse das Land im Stich. Das habe sie auch persönlich nicht gewollt.
Merkel wurde gefragt, ob es auch «migrationspolitische Gründe» für diese Haltung gegeben habe. Nach einigem Zögern räumte sie ein, dass die Entscheidung «auch was mit der Erfahrung der Jahre 2015 bis 2021 zu tun» gehabt habe. Damals waren mehrere Millionen Asylmigranten ungesteuert und illegal nach Deutschland gekommen. Merkel und ihre Regierung hatten das damals nicht verhindert. Die anfänglich positive Stimmung in der Bevölkerung gegenüber diesem Vorgehen war langsam, aber sicher gekippt, nachdem es immer mehr teilweise terroristische Gewalt durch Migranten gegeben hatte.
Mehr als 10 000 «Ausreiseberechtigte»
Die Bundesregierung ging damals von mehr 10 000 «Ausreiseberechtigten» aus. Damit waren Afghanen gemeint, die seit 2013 für Deutschland gearbeitet hatten, sowie ihre nächsten Angehörigen. Die meisten verfügten zum damaligen Zeitpunkt nicht über ein Visum für Deutschland. Das stellte für sie ein grosses Problem dar.
Die deutsche Botschaft in Kabul war nach einem Terroranschlag im Jahr 2017 schwer zerstört und hatte ihre Arbeit weitgehend eingestellt. Seit dem Abzug der Bundeswehr am 29. Juni 2021 aus Mazar-e Sharif war auch das dortige Konsulat geschlossen. Um ein Visum zu beantragen, mussten die Afghanen daher entweder in die indische Hauptstadt Delhi oder in die pakistanische Hauptstadt Islamabad reisen. Das konnten sich nur wenige der «Ausreiseberechtigten» leisten.
Deshalb befanden sich zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Taliban mehrere tausend Ortskräfte in Kabul und anderen Landesteilen in einer schwierigen Situation. Ohne Visum hatten sie das Land nicht rechtzeitig verlassen können. Nicht zuletzt aus diesem Grund entschied die Bundesregierung nach dem Abzug, sechs Transportmaschinen vom Typ Airbus A400M noch einmal nach Kabul zu schicken, um nicht nur ihre Botschaftsmitarbeiter, sondern so viele Ortskräfte wie möglich aus dem Land zu holen.
Seehofer hatte Sicherheitsbedenken
In den zwei Jahren seiner Arbeit hat der Untersuchungsausschuss immer wieder die Frage gestellt, warum die Ortskräfte nicht rechtzeitig aus Afghanistan geschafft wurden. Merkel hat in ihrer Vernehmung am Donnerstag mehr oder weniger bestätigt, was vor ihr auch andere sagten.
So hatte der damalige christlichsoziale Innenminister Horst Seehofer grosse Sicherheitsbedenken geltend gemacht und sich gegen ein beschleunigtes Visaverfahren ausgesprochen. Jeder Antrag müsse eingehend geprüft werden, um keine Gefährder nach Deutschland zu holen. Auch das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium zögerten mit einer frühzeitigen Evakuierung, allerdings aus anderen Gründen. Sie befürchteten «Pull-Effekte». Damit ist die Sorge gemeint, dass eine Fluchtbewegung einsetzt, die Chaos und Panik im Land auslöst.
Auch in anderen Ministerien hatte es widersprüchliche Einschätzungen zu den Entwicklungen in Kabul gegeben. So sagte der ehemalige Entwicklungsminister Gerd Müller von der CSU im Ausschuss, nach dem Doha-Abkommen sei nicht sofort erkennbar gewesen, wie die Lage eskalieren würde. Die Zahl der Gefahrenanzeigen afghanischer Ortskräfte sei bis zum Fall Kabuls an die Taliban nicht hoch gewesen, erklärte er. «Die Meinung in der Community» sei gewesen, dass das Personal für die Entwicklungszusammenarbeit im Land bleiben solle.
Der damalige Aussenminister Heiko Maas von den Sozialdemokraten berichtete bei seiner Vernehmung, dass bei seiner Reise nach Kabul im April 2021, also gut vier Monate vor der Einnahme der Hauptstadt durch die Taliban, niemand die spätere Entwicklung habe kommen sehen. In Kabul habe er nicht den Eindruck bekommen, alles würde schnell zugrunde gehen, sagte er. Erst später sei ihm zur Kenntnis gebracht worden, dass es unterschiedliche Einschätzungen zur Lage gegeben habe.
Hat der BND falsch informiert?
Dazu zählt beispielsweise jene des damaligen deutschen Gesandten vor Ort, Jan Hendrik van Thiel. Er warnte gegenüber dem Auswärtigen Amt vor einer Verschärfung der Lage und dem bevorstehenden Fall der Hauptstadt. Diese Einschätzung entsprach in ihrer Dringlichkeit aber nicht dem Lagebild des Bundesnachrichtendienstes zu jener Zeit.
Wiederholt war bei Zeugenbefragungen in den vergangenen Monaten der Vorwurf erhoben worden, der BND habe eine fehlerhafte Einschätzung abgegeben. Die damalige Vizepräsidentin des BND, Tania Freiin von Uslar-Gleichen, räumte bei ihrer Befragung ein, sie hätte van Thiel damals anrufen sollen. «Es ist eine gute Frage, warum ich ihn nicht angerufen habe», meinte sie.
Ex-Aussenminister Maas erklärte, im Rückblick sei seine damalige Entscheidung falsch gewesen. «Man» hätte viel früher entscheiden müssen, die verbliebenen Botschaftsmitarbeiter, die Ortskräfte und die Schutzbefohlenen aus Afghanistan zu schaffen. «Man» hätte die Situation am Flughafen verhindern müssen. Es sei aber schwieriger gewesen, sich auf eine Einzelperson wie den Gesandten van Thiel als auf das Lagebild des BND zu verlassen.
Maas zog damit eine aus seiner Sicht «fehlerhafte Analyse» des BND als Grund heran, weshalb er eine zügige Evakuierung für nicht notwendig erachtet hatte. Dieser Einschätzung haben allerdings verschiedene Zeugen widersprochen. So sagte etwa der am Donnerstag vor Merkel befragte ehemalige Kanzleramtsminister Helge Braun von der CDU, der BND habe sehr früh und sehr deutlich darauf hingewiesen, dass das wahrscheinlichste Szenario eine vollständige Machtübernahme der Taliban sei.
«Himmelschreiende Ungerechtigkeit»
Das bestätigte auch der BND-Chef Bruno Kahl in seiner Befragung im Juli. Er bezeichnete die Kritik an seinem Dienst als «himmelschreiende Ungerechtigkeit». Er habe sich nicht dagegen wehren können, weil das Bundeskanzleramt ihn angewiesen habe, sich «nicht an dem Schwarz-Peter-Spiel» zu beteiligen. Seine Mitarbeiter hätten die «Wiederherstellung des Emirats 2.0 durch die Taliban» frühzeitig, richtig und präzise beschrieben. Kahl räumte lediglich ein, dass der BND «in den letzten Zentimetern» die Geschwindigkeit der Entwicklungen nicht vorausgesehen habe.
Aus vielen Zeugenaussagen ging immer wieder hervor, dass der BND der Bundesregierung fünf Kipppunkte definiert hatte und diese vor dem Fall Kabuls auch schriftlich in seinem Lagebericht festgehalten hat. Danach waren diese Kipppunkte die nahezu vollständige Isolation Kabuls, die Einnahme der Provinzzentren im Grossraum Kabul, Absetzbewegungen der afghanischen Führung, der Abzug der US-Truppen aus der grünen Zone im Zentrum Kabuls und der US-Botschaft sowie die Evakuierung weiterer westlicher Botschaften.
Mehrere dieser Kipppunkte sind nur Stunden nach der entscheidenden Sitzung des Krisenstabs der Bundesregierung am 13. August 2021 in Berlin, bei der sie präsentiert worden waren, eingetreten. Damals hatten die Amerikaner in der Nacht zum 14. August ihre Botschaft im Zentrum Kabuls geräumt und Soldaten dorthin verlegt. Wenige Stunden später flüchtete Präsident Ghani aus dem Land. Selbst die Taliban, sagte der BND-Chef Kahl, seien überrascht gewesen, Kabul «auf einem Silbertablett geschenkt bekommen» zu haben.
Er ergänzte, es habe keine Hinweise darauf geben können, dass die Amerikaner ihre Botschaft über Nacht räumen und die grüne Zone unbewacht lassen würden. Sonst wäre ihr Abzug gefährdet gewesen. Dann hätte ein «Run auf den Flughafen» eingesetzt, was zu noch grösserem Chaos geführt hätte. In der Folge dieses Abzugs der amerikanischen Kräfte zum Flughafen lag Kabuls Verteidigung allein in der Hand der afghanischen Sicherheitskräfte.
«Eine der besten Operationen der Bundeswehr»
Doch zu dem damals befürchteten Kampf um die Hauptstadt kam es nicht. Nach der Flucht Ghanis und der meisten Regierungsmitglieder legten Armee und Polizei weitgehend die Waffen nieder. Die Taliban konnten kampflos in Kabul einrücken. Diese Entwicklung überraschte viele Ortskräfte, nicht nur deutsche, sondern auch die anderer Länder. Gemeinsam mit Tausenden Regierungsmitarbeitern und deren Angehörigen flüchteten sie zum Flughafen.
Am 16. August 2021 trafen die ersten deutschen Soldaten am Kabuler Flughafen ein. Zehn Tage später zogen die letzten von ihnen wieder ab. Sie hatten bis dahin mehr als 5000 Menschen aus mehr als 40 Staaten nach Taschkent in Usbekistan in Sicherheit gebracht. Dass es überhaupt zu der dramatischen Evakuierungsoperation habe kommen können, sei auch das Ergebnis vieler zu spät getroffener Entscheidungen gewesen, sagte der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, bei seiner Vernehmung im September. Am Ende aber habe es sich um eine der besten Operationen gehandelt, die die Bundeswehr je durchgeführt habe.