Der Einmarsch Russlands in der Ukraine besiegelte das Scheitern der deutschen Haltung zu Russland. Die Ursachen dafür werden kontrovers diskutiert. Aber meist nicht deutlich genug benannt.
Mit Putins Aggressionskrieg gegen die Ukraine endete die deutsche Russlandpolitik in einem Scherbenhaufen. Eine Politik, die uneinsichtig daran glaubte, Putins Revisionismus ausschliesslich mit diplomatischen Mitteln Einhalt gebieten zu können. Über die Ursachen dieses Scheiterns wird in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Dies auch deshalb, weil die Analyse des Scheiterns unabdingbare Voraussetzung dafür ist, einen neuen politischen Umgang mit Russland zu entwickeln. Jetzt legt der Historiker Bastian Matteo Scianna eine erste umfangreiche Studie über die Geschichte deutscher Russlandpolitik von Kohl bis Merkel vor.
Sciannas Kernthese lautet, dass sich die deutsche Russlandpolitik im Mainstream der deutschen Gesellschaft bewegt habe. Kohl und Merkel hätten sich keinen Illusionen hinsichtlich der Entwicklung Russlands hingegeben, aber der Westen habe insgesamt keine Abschreckungs- und Eindämmungspolitik gegenüber Putin entwickelt. Dabei stellt der Autor verdienstvollerweise die deutsche Russlandpolitik so weit wie möglich in den europäischen und transatlantischen Kontext deutscher Aussen- und Innenpolitik überhaupt.
Dieser Ansatz ist so erhellend wie ambitioniert. Und nicht immer gelingt es, die unterschiedlichen Voraussetzungen der deutschen Politik im europäischen Kontext zu verdeutlichen. Manchmal könnte die Kontextualisierung missverstanden werden, als Versuch, die Kritik der deutschen Fehlentwicklungen zu relativieren. So, wenn es um ein grundlegendes Verhängnis der deutschen Russlandpolitik geht: die blind betriebene Energieabhängigkeit von Russland.
Dem hält Scianna entgegen, andere EU-Staaten wie Bulgarien und Ungarn seien sogar zu fast hundert Prozent abhängig von Gasimporten aus Russland. Das trifft zu. Nur wird bei diesem Vergleich der entscheidende Unterschied unterschlagen: Die deutsche Abhängigkeit war frei gewählt, bei den Balkanstaaten war sie ein erzwungenes Relikt der Röhreninfrastruktur aus vergangenen Warschauer-Pakt-Zeiten. Um Verbindungen zum westlichen EU-Netz zu bauen, fehlte schlicht das Geld.
Der Grundirrtum Merkels
Auch der andere Grundirrtum von Merkels Russlandpolitik wird mit der Feststellung relativiert, andere EU-Staaten hätten diese Auffassung geteilt: das gemeinsam mit Nicolas Sarkozy ausgesprochene Veto auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 gegen eine Aufnahme Georgiens und der Ukraine in den Nato-Beitritts-Prozess. Das ist natürlich richtig, aber es hätte ebenfalls kritisch hinterfragt werden müssen.
Wie Merkel in ihren gerade erschienenen Erinnerungen schreibt, fragte Sarkozy am Morgen des entscheidenden Sitzungstages noch einmal bei der Kanzlerin nach, ob man denn bei der Ablehnung bleibe. Dies zeigt deutlich, wie sehr sich ablehnende EU-Staaten hinter dem Rücken der Kanzlerin wegduckten. Und es macht klar, wie entscheidend die Ablehnung der Kanzlerin im «shoot down» auf dem Gipfel mit dem US-Präsidenten Bush war, der eine Aufnahme vehement befürwortete.
Scianna zitiert ausführlich aus Merkels Ausführungen zu ihrer Aussenpolitik in den Protokollen der CDU-Bundestagsfraktion. Allerdings war Merkel eine Meisterin der Zweideutigkeit, wie es damals im Auswärtigen Amt hiess. Als ehemalige DDR-Bürgerin hatte sie gelernt, «zwischen den Zeilen zu schreiben». Deswegen wäre mitunter eine kritischere Gegenüberstellung ihrer politischen Erklärungen mit der tatsächlichen Politik nötig gewesen.
In Bukarest bekamen die beiden Nato-Aspiranten Ukraine und Georgien nur die unverbindliche Zusage, irgendwann einmal Mitglied zu werden. Eine geradezu klassische Merkelsche sprachliche Unverbindlichkeit, die bis heute über den Ereignissen schwebt. Für die Ukraine wird sie immer unwahrscheinlicher, für Georgien ist sie sogar auf unabsehbare Zeit schon nicht mehr erfüllbar.
Illusion und Utopie
Den ausführlichen, gut recherchierten Darlegungen Sciannas fehlt gelegentlich eine eigene Gesamtwürdigung. Gerade wenn es um grundsätzliche Entscheidungen wie in Bukarest geht, wird die kritische Beurteilung vorsichtig durch die ausführliche Wiedergabe von kritischen Medienkommentaren ersetzt. Andere Historiker, wie Andreas Rödder in seinem gerade erschienenen Buch «Der verlorene Frieden», scheuen sich nicht, Merkels Entscheidung als «kapitalen Fehler» zu bezeichnen.
Seiner Eingangsthese, die Kanzlerin habe sich selbst keine Illusionen über Russland gemacht, widerspricht Scianna selbst. Die von Merkel mitgetragene Politik Steinmeiers, mit einer wirtschaftlichen «Modernisierungspartnerschaft», also der Verflechtung der deutsch-russischen Wirtschaftspolitik, auch Putins militärischen Revisionismus zu bändigen, bezeichnet er als «Verflechtungsutopie».
Also keine «Illusion», sondern eine «Utopie». Nun gut. Doch anders als mit einer Illusion über Putins Revisionismus ist auch die intransigente Appeasementpolitik nicht zu erklären, mit der die Kanzlerin Putins Einmarsch nach Georgien im Sommer 2008 und die Annexion der Krim 2014 ohne substanziellen Widerspruch akzeptierte. Dies zu kritisieren, hat nichts mit nachträglicher Besserwisserei zu tun, wie Scianna mit einem Zitat aus Wolfgang Schäubles Erinnerungen insinuiert. Viele Beobachter haben schon sehr früh vor Putin und den Gefahren seines Revisionismus gewarnt.
Dass diese deutsche Russlandpolitik von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde, wie in Sciannas Buch anhand vieler Umfrageergebnisse belegt wird, ist zweifellos richtig. Es macht diese Politik vielleicht verständlich, aber deswegen keinesfalls besser. Es sei denn, man huldigt einem Verständnis von Politik, das sich naiv und populistisch an den wöchentlichen Umfrageergebnissen orientiert. Aber ist das ein sinnvolles Kriterium historischer Analyse?
Deutschland in Europa
Dass andere europäische Staaten und die USA aus je sehr verschiedenen Ursachen keine fundamental andere Politik verfolgt haben, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsch-russischen Beziehungen historisch immer besonders waren. In den Ausführungen zu Kohls Russlandpolitik stellt Scianna sehr klar dar, wie sich Kohl schon aus finanziellen Gründen, aber auch strategisch immer darum bemühte, die deutsche Russlandpolitik zu europäisieren.
Kohl versuchte, die ost- und mitteleuropäischen Staaten in diese Politik einzubeziehen, wurde aber von Jelzin immer als Hauptakteur der europäischen Politik gesehen und angesprochen. Dieses deutsche Gewicht der europäischen Russlandpolitik hat sich bis heute nicht verändert. Deswegen ist die Ausrichtung der deutschen Russlandpolitik so entscheidend. Nicht umsonst hat der polnische Aussenminister Sikorski schon vor vielen Jahren Deutschland aufgefordert, politische Führung in Europa zu übernehmen – nicht nur, wenn es um den Euro geht.
Bedeutend und gut begründet ist ein Hauptergebnis von Sciannas Untersuchung: die Beobachtung, dass die deutsche Russlandpolitik – und die westliche generell – auf eine militärische Abschreckung fast völlig verzichtete. Und dass sie damit keine politische Alternative zur diplomatischen Einbindung Russlands aufgebaut habe. Beides erfolgte im Sinne einer breiten Mehrheit der Bevölkerung.
Dies als Rechtfertigung anzuführen, unterlässt der Autor hier glücklicherweise. Wegen dieses wichtigen Ergebnisses und der gelungenen Darstellungen der Russlandpolitik Kohls und Schröders ist diese umfassende Studie ein erster wichtiger «Zwischenschritt», auf dem aufzubauen zukünftige Studien nicht umhinkommen.
Kriegstauglich
Wie schwer sich die heutige Bundesregierung nach ihrer verkündeten «Zeitenwende» tut, die «Kriegstauglichkeit» der Bundeswehr wiederherzustellen, die die Regierungen Merkel und Scholz kaputtgespart haben, stellt Christian Schweppe in seiner glänzend geschriebenen Reportage «Zeiten ohne Wende» dar. In Form eines Tagebuches notiert er seine Gespräche mit allen wichtigen Entscheidungsträgern der deutschen Verteidigungspolitik.
Die Liste seiner Gesprächspartner umfasst hohe Generäle, Abgeordnete und Vertreter der Rüstungsindustrie. Die Gespräche machen deutlich, welche scheinbar unüberwindbaren Hürden genommen werden müssen, um eine nur noch begrenzt einsatzfähige Bundeswehr nach Jahrzehnten der Friedensdividende wieder einsatzfähig und die Bundesrepublik wieder verteidigungsfähig zu machen.
Die Probleme reichen von der Haushaltplanung bis zur Rüstungsbeschaffung. Schweppes Reportage ist eine ausgezeichnete Ergänzung zum Rückblick auf die deutsche Russlandpolitik. Sie bietet eine eingängige und objektive Einführung in die immensen Strukturprobleme, die sich stellen, wenn es darum geht, die Kriegstauglichkeit der Bundeswehr wiederherzustellen.
Bastian Matteo Scianna: Sonderzug nach Moskau: Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990. C.-H.-Beck-Verlag, München 2024. 719 S., Fr. 49.90.
Christian Schweppe: Zeiten ohne Wende: Anatomie eines Scheiterns. C.-H.-Beck-Verlag, München 2024. 351 S., Fr. 39.90.