Vor drei Jahren verunfallt die Stabhochspringerin Angelica Moser im Training fürchterlich. Es folgen Saisons, die von Verletzungen und Unsicherheiten geprägt sind. An den EM in Rom gehört Moser nun zu den Medaillenanwärterinnen.
Angelica Moser und ihr Trainer Adrian Rothenbühler pflegen einen liebevoll ausgetragenen Disput. An der Stabhochsprunganlage in Magglingen hängt anstelle einer Latte ein elastisches Seil. Moser ist der Meinung, dass dieses um 20 Zentimeter durchhängt, das Hindernis also 4,75 Meter hoch ist. Rothenbühler findet, es seien höchstens 10 oder 15 Zentimeter, die Höhe also über 4,80. In einem Wettkampf ist Moser noch nie höher als 4,75 Meter gesprungen.
Das führt zur zweiten Diskussion zwischen den beiden. Rothenbühler stellt im Training manchmal Höhen ein, die für Moser scheinbar ausser Reichweite liegen. Die 26-jährige Zürcherin sagt dann: «Ich will auch einmal darüber kommen.» Rothenbühler antwortet: «Dann mach es.»
Rothenbühler ist einer der prominentesten Trainer der Schweizer Leichtathletik, wurde bekannt als Förderer von Mujinga und später Ditaji Kambundji, diese Zusammenarbeit endete 2022. Bespricht Rothenbühler mit einer Athletin die nächsten Ziele, zeichnet er vier Quadrate. Diese stehen für «Technik», «Athletik», «Mentales» und «Umfeld». Unter den einzelnen Punkten stehen Sachen, die in den jeweiligen Themenbereichen verbessert werden müssen, um Erfolg zu haben. Bei Moser fanden die beiden beim Mentalen und im Umfeld viele Baustellen. Rothenbühler sagt: «Ich habe eine destabilisierte Athletin angetroffen.» Das war im Frühjahr 2023.
2021 kommt es zum Stillstand
Heute, in der Woche vor den Europameisterschaften in Rom, spricht Rothenbühler anders. Anfang Mai hat Moser in Marrakesch zum ersten Mal an einem Diamond-League-Meeting gewonnen, eine Woche später triumphierte sie an einem Wettkampf in Nancy. Rothenbühler sagt: «So wie es jetzt läuft, müssen wir über eine EM-Medaille reden.» Und Moser sagt: «Das Ziel ist, meine persönliche Bestleistung zu verbessern, dann ist in Rom ein Podestplatz möglich.» Nach Rom führen bekanntermassen viele Wege; Mosers Weg war beschwerlich.
Der in Paris zu Ende gehende Olympia-Zyklus dauerte zwar wegen der Verschiebung der Spiele in Tokio nur drei Jahre. Doch Moser hat in dieser Zeit mehr erlebt als andere in einer ganzen Karriere. Am Anfang war Stillstand.
Zwar wurde sie im Winter 2021 Europameisterin in der Halle, doch im Sommer darauf verpasste sie an den Olympischen Spielen in Tokio den Final. Die Enttäuschung war gross. Eine Woche nach der Rückkehr aus Japan passierte Moser das, wovor sich Stabhochspringerinnen am meisten fürchten. Im Training brach der Stab, sie knallte mit dem Rücken voran in die Einstichbox.
Die Diagnose: ein kleiner Pneumothorax – eingedrungene Luft zwischen innerem und äusserem Lungenfell –, Muskelfaserrisse, Bluterguss am Rücken. Im Spital fragte Moser die Ärztinnen, wann sie wieder springen dürfe. Sie sagten: «Sei froh, dass du noch laufen kannst.» Die Österreicherin Kira Grünberg verunfallte 2015 im Training auf ähnliche Weise wie Moser. Sie sitzt seitdem im Rollstuhl.
Freude über den ersten Liegestütz
Moser konnte nach dem Unfall den linken Arm nicht bewegen. Spazieren gehen durfte sie nur in Begleitung, der Kreislauf war geschwächt. Während der Physiotherapie wurde sie ohnmächtig, musste mit dem Krankenwagen ins Spital eingeliefert werden. Sie sagt: «Es war mental schwierig. Ich hatte keine Lust, irgendetwas zu machen.»
Das wurde erst besser, als sie wieder Sport treiben durfte. Im Training freute sich Moser an jeder Übung, die funktionierte, zum Beispiel, als sie zum ersten Mal einen Liegestütz schaffte. Sie sagt: «Ich habe gemerkt, dass nichts selbstverständlich ist. Ich habe keine Sekunde daran gedacht, den Bettel hinzuschmeissen.»
Moser kämpfte sich zurück an die Wettkämpfe, sagt, es fühle sich heute an, als liege der Unfall schon viel länger zurück. «Es ist so viel passiert seither», sagt sie. Damit meint sie wiederkehrende Verletzungen, Trainerwechsel, eine ungewisse Zukunft. Davor arbeitete sie während eines Jahres mit der Schweizer Rekordhalterin Nicole Büchler zusammen, doch diese konnte aus familiären Gründen nicht mehr an internationale Wettkämpfe reisen. Moser fehlte plötzlich die Cheftrainerin, die engste Bezugsperson einer Spitzensportlerin.
Im Training und an den Wettkämpfen bekam sie Mühe beim Wechsel auf härtere Stäbe, die stärker federn. Moser fühlte sich verunsichert, lief manchmal nach dem Anlauf durch, anstatt abzuspringen. Fehlt im Stabhochsprung die Sicherheit, wird es kompliziert. Bei der Sportart müssen alle Komponenten zusammenpassen: Anlauf, Einstich, Absprung, Flugphase. Fehlt das Selbstvertrauen, bringt das den Ablauf durcheinander.
Die Kraft ist da, doch mit dieser Kraft passiert zu wenig
Die Unsicherheiten und Verletzungen gipfelten in den verkorksten Hallen-EM 2023 in Istanbul. Moser spürte, dass sie etwas ändern musste, und intensivierte die Zusammenarbeit mit Rothenbühler. Dieser war schon länger für Mosers Athletik- und Sprinttraining zuständig, seit dem Frühjahr 2023 ist er hauptverantwortlich. Es habe sich nach und nach herauskristallisiert, dass Rothenbühler die ideale Lösung sei, auch wenn er nicht aus dem Stabhochsprung komme, sagt Moser. Rothenbühler war selbst Mehrkämpfer und sagt, Stabhochsprung sei immer seine Lieblingsdisziplin gewesen, «auch wenn ich nicht sonderlich begabt war». Moser sagt: «Am Anfang fragten mich die Gegnerinnen, wer mein Trainer ist.»
Rothenbühler spürte rasch, wie verunsichert seine Athletin war, liess sie mentale Aspekte mit Fachleuten aufarbeiten. Er sagt: «Ich habe ihr gesagt, dass ich sie schon stärker und schneller machen könne. Wenn der mentale Unterbau fehlt, bringt das alles aber nichts.»
Das Duo fokussierte sich sportlich stärker auf die Grundlagen. «Wir drehten nicht mehr an jedem Schräubchen», sagt Moser. Das trug dazu bei, das Mentale und das Umfeld zu stabilisieren. Rothenbühler sagt, bei der letzten Besprechung seien in diesen Bereichen fast keine offenen Punkte mehr gestanden.
Vor der Qualifikation nervöser als vor dem Final
Auch Moser sagt, die Blockaden von einst seien verschwunden: «Ich springe mit voller Überzeugung.» Die Zusammenarbeit mit Rothenbühler fruchtete im Sommer 2023 erstmals. Moser wurde WM-Fünfte und schaffte die Olympia-Qualifikation. Vor der TV-Kamera brach sie in Tränen aus, so gross war die Befreiung.
Kurz vor den EM in Rom wirkt sie locker. Während der letzten Trainingstage in Magglingen scherzt Moser manchmal mit ihrem Trainer und den Eishockeyspielern, die gerade im militärischen Wiederholungskurs sind.
Am Samstag findet in Rom die Qualifikation der Stabhochspringerinnen statt. Moser ist nervös, nervöser als vor einem möglichen Final. Sie sagt: «Angst habe ich keine, die hatte ich vor grossen Wettkämpfen noch nie.» Rothenbühler meint, die Nervosität sei bei Moser ein gutes Zeichen. «An einem goldenen Tag gibt es für sie kaum eine Grenze.»