Basel freut sich auf den ESC, doch nun mehren sich die Anzeichen für Störaktionen. Unter Jüdinnen und Juden nehmen die Sorgen zu. Die Polizei zieht Kräfte aus dem ganzen Land zusammen.
Ein handgezeichnetes Herz, angelehnt an das ESC-Logo, jedoch gefüllt mit den Farben der palästinensischen Flagge, prangt inmitten einer düsteren Luftaufnahme der Stadt Basel. Um das Herz sind rote Blutspritzer zu sehen. Über allem steht der Schriftzug «ESCalate for Palestine», in Arabisch die Parole «freies Palästina». Die Teilnahme Israels am ESC sei ein schrecklicher Schritt zur Normalisierung des kolonialen Siedlerstaates, heisst es: «Dieser Prozess darf nicht weitergehen, da die zionistische Besatzung keine Legitimität hat und niemals haben wird.»
Mit antisemitisch unterlegten Parolen wird im Vorfeld des weltgrössten TV-Ereignisses auf Social Media seit Tagen zu Demonstrationen während des ESC aufgerufen. Eine grosse propalästinensische Kundgebung soll am Samstag, 17. Mai, auf dem Barfüsserplatz stattfinden: unmittelbar vor Showbeginn, mitten in der Stadt – und direkt neben dem Stadtcasino, wo 1897 beim ersten Zionistenkongress der Weg zur Gründung des Staates Israel vorgespurt wurde. Grösser kann eine Provokation kaum sein. Eine ganze Reihe weiterer Kundgebungen ist in der ESC-Woche angekündigt, von denen bis jetzt für keine eine Bewilligung vorliegt.
Jüdinnen und Juden blicken mit Sorge auf den ESC
Bewilligungsgesuche sind gemäss Angaben der Polizei bis jetzt keine eingegangen. Dialogbereitschaft von den Aktivisten sei nicht zu spüren, erklärte am Montag an einer Medienkonferenz Matthias Stähli, der bei der baselstädtischen Polizei während des ESC die Einsatzleitung hat. Ein generelles Demonstrationsverbot gibt es trotz angespannter Lage nicht. Die Polizei sei auf Eskalationen vorbereitet, sagte Stähli, ohne aber auf die Frage einzugehen, ob israelfeindliche Kundgebungen in einer aufgeladenen Stimmung an einem derart symbolträchtigen Ort geduldet würden.
Jüdinnen und Juden blicken teilweise mit einem flauen Gefühl auf den ESC. In Malmö war es 2024 zu massiven Protesten gegen die Teilnahme Israels gekommen, ausgelöst durch den Krieg im Gazastreifen. Tausende Demonstrierende, darunter auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg, forderten den Ausschluss Israels vom Wettbewerb. Die Demonstrationen verliefen zwar grösstenteils friedlich, doch es kam auch zu antisemitischen Übergriffen: Die israelische Sängerin Eden Golan erhielt Morddrohungen und wurde in der Event-Halle ausgebuht. Auch jetzt ruft die teilweise als antisemitisch eingestufte BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) auf Social-Media-Kanälen zum Ausschluss von Israel vom ESC auf.
Letzte Woche erklärte die Organisation NAIN Switzerland, die sich für den Kampf gegen Antisemitismus einsetzt, die Ankündigungen von Escalate-Demonstrationen stellten «ein erhebliches Risiko für die Sicherheit der Gäste, der Künstlerinnen und Künstler sowie insbesondere der israelischen Delegation dar». Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), geht zwar davon aus, dass die Sicherheitsbehörden die Lage richtig einschätzen. Doch die Durchführung einer Veranstaltung von der Grössenordnung des ESC bedeute im gegenwärtigen geopolitischen Umfeld eine Gratwanderung.
Grenzkontrollen werden intensiviert
Einerseits hätten sich die inländischen Pro-Palästina-Organisationen seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober radikalisiert, erklärt Kreutner der NZZ. Andererseits müsse man damit rechnen, dass ausländische Gruppierungen den ESC für Stimmungsmache nutzen werden: «Es ist wichtig, dass die Sicherheitsbehörden genau im Auge behalten, was sich hier zusammenbraut.» Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) teilte am Montag mit, es intensiviere Waren- und Personenkontrollen und verstärke sein Dispositiv.
Die Basler Sicherheitsbehörden betonen im Zusammenhang mit dem ESC gerne ihre Erfahrungen mit Grossveranstaltungen. Tatsächlich beherbergte Basel 2014 die OSZE-Konferenz mit Aussenministern aus 50 Ländern, während 1000 Polizisten und über 3500 Armeeangehörige im Einsatz waren. 2021 fand in Basel das 125-Jahre-Jubiläum des Zionistenkongresses statt, ebenfalls unter gigantischen Sicherheitsvorkehrungen. Beide Anlässe gingen ohne grösseren Störungen über die Bühne.
Während des ESC, der die Stadt ab Montag während sechs Tagen in Bann hält, sind rund 1300 Polizistinnen und Polizisten im Dienst. Etwa die Hälfte kommt dabei aus den beiden Basel, die übrigen kommen aus Korps anderer Kantone. Zudem werden sie von Fachleuten des Bundesamtes für Polizei (Fedpol), des Bundesamtes für Cybersicherheit sowie vom Nachrichtendienst unterstützt. Auch 40 Armeeangehörige sind im Einsatz.
24-Stunden-Kamera-Überwachung geplant
Es gibt weiträumige Verkehrsbeschränkungen, ein striktes Drohnenflugverbot über Basel und über mehreren Nachbargemeinden sowie eine 24-Stunden-Videoüberwachung aller wichtigen Hot-Spots: 12 Kameras können von der Polizei für das Crowd-Management, die Aufklärung der Bedrohungslagen und für die Strafverfolgung eingesetzt werden. Dafür wurde ein eigenes Reglement ausgearbeitet. Der Kanton Basel-Stadt gibt allein für die Sicherheit fast acht Millionen Franken aus.
Doch trotz allen Erfahrungen von Basel mit Grossereignissen – der diesjährige ESC ist in verschiedener Hinsicht eine besonders grosse und schwierige Nummer: So wird kommende Woche mit einem riesigen Aufmarsch von ESC-Fans gerechnet, der schon für sich allein eine Herausforderung darstellt. Die Veranstalter gehen von bis zu einer halben Million Besucherinnen und Besuchern aus. Die halbe Innenstadt wird dafür in ein Festgelände umgestaltet. Auch medial erreicht dieser Event viel grössere Aufmerksamkeit als alle anderen Basler Veranstaltungen der Vergangenheit.
Im Vergleich zur OSZE und zum Zionistenkongress ist die geopolitische Lage zudem heute bedeutend explosiver, was den Anlass zusätzlich auflädt. Die mögliche Ausweitung des Gaza-Krieges, für die Israel derzeit Reservisten aufbietet, könnte beispielsweise zu einer grösseren Mobilisierung bei Pro-Palästina-Gruppierungen führen. «Solche Risikofaktoren können wir nicht beeinflussen, wir können nur adäquat reagieren», erklärte Stähli dazu.
Israelische Sängerin Yuval Raphael ist besonders gefährdet
Das Fedpol übernimmt ausserdem keine Schutzaufgaben für die einzelnen Länderdelegationen – anders als bei den völkerrechtlich geschützten Personen, wie sie bei internationalen Kongressen zu Gast sind. Die Delegationen seien für den Schutz der Künstlerinnen und Künstler grundsätzlich selber verantwortlich, erklärten die Polizeivertreter am Montag an der Medienkonferenz. Nur wenn es die Lage erfordere, würden vonseiten der Polizei die notwendigen Massnahmen getroffen. Auch hierzu gab es keine weiteren Details.
Besonders exponiert ist die israelische Sängerin Yuval Raphael. Sie ist eine Überlebende des Hamas-Angriffs auf das Nova-Musikfestival am 7. Oktober 2023, bei dem sie sich stundenlang unter Leichen verstecken musste. Die junge Sängerin wird mit dem Lied «New Day Will Rise» auftreten – einem Song, der von Hoffnung und persönlicher Stärke handelt. Sie wird von weiteren Überlebenden des Anschlags an den ESC begleitet. Die Sicherheitsvorkehrungen seien immens, berichten israelische Medien.
Polizei und Nachrichtendienst haben vor diesem Hintergrund nicht nur Kundgebungen und antisemitische Störaktionen im Blick, sondern auch Anschläge. Seit geraumer Zeit ist die Terrorgefahr in der Schweiz erhöht. Es gebe zwar keine konkreten Hinweise auf einen Terroranschlag während des ESC, so Stähli. Eine «nicht zu unterschätzende Gefahr» gehe aber von radikalisierten Einzeltätern aus. Mit verschiedenen Massnahmen wie beispielsweise Fahrzeugsperren soll das Risiko möglichst klein gehalten werden.
Personalmangel bei der Basler Polizei
«Es ist nicht zu verschweigen, dass gewisse Risiken vorliegen», erklärte der Basler Polizeikommandant ad interim, Thomas Würgler. Die Mammutaufgabe trifft die Polizei des Kantons Basel-Stadt dabei zu einem heiklen Zeitpunkt: Nach einer umstrittenen Untersuchung, die im vergangenen Sommer auf Missstände beinahe im gesamten Korps hindeutete, befindet sich die Kantonspolizei in einer Umbruchphase. Fast das gesamte Führungspersonal wurde ausgewechselt. Und das Korps ist personell noch immer stark unterbesetzt.
Bei aller Vorfreude, die in Basel in der Woche vor dem ESC herrscht, ist der Druck auf die Basler Sicherheitsbehörden deshalb immens. Immerhin ist ein weiteres polizeiliches Erschwernis inzwischen etwas kleiner geworden: Mit etwas Glück und einem Sieg würde eine spontane Meisterfeier für den FC Basel nicht auch noch auf das grosse ESC-Finalwochenende fallen – sondern auf den Sonntag zuvor.